Bürgerpflichtlektüre

Als erste Gemeinde im Kanton Bern hat sich Köniz für ein digitales Amtsblatt ausgesprochen. Dabei ist die Form der Publikation zweitrangig, um die Bürger*innen tatsächlich zu erreichen.

Nebenstadt Neu
(Bild: Silja Elsener)

In der digitalen Welt gibt es den Spruch, wonach der beste Ort, um eine Leiche zu verstecken, die zweite Seite von Google sei. In der Region Bern ist der beste Ort dafür vermutlich die zweite Seite des «Anzeiger Region Bern». Oder weisst du vielleicht, was dort steht?

Vielleicht weisst du nicht einmal, was der «Anzeiger Region Bern» überhaupt ist. Das ist jene Zeitung mit gelb und rund umrahmtem Titel, die dir jeden Mittwoch in den Briefkasten geworfen wird; auf der ersten Seite oben rechts abwechslungsweise ein Rezept oder ein historisches Foto von Bern, darum herum viele kleine Textabschnitte unter Titeln wie «Kanton» oder «Stadt Bern», Sprache Amtsdeutsch; auf der zweiten Seite Inhalt unklar, da Entsorgen schneller geht als zu blättern.

Köniz verzichtet auf Papier

Du erhältst diese Zeitung zugestellt, wenn du in der Region um die Stadt Bern lebst, selbst wenn du per Briefkasten-Kleber «Keine Werbung» oder «Keine Gratiszeitung» wünschst. Denn der «Anzeiger Region Bern» ist Pflicht. So wie die Behörden verpflichtet sind, ihre amtlichen Bekanntmachungen zu veröffentlichen, was sie in der Region Bern via «Anzeiger» machen, bist du als Bürger*in verpflichtet, diese Bekanntmachungen zugestellt zu erhalten. Du kannst zwar eine «Verzichtserklärung ausfüllen», doch ist dies so umständlich, wie es die Bezeichnung vermuten lässt.

Als erste Gemeinde im Kanton hat Köniz quasi eine kollektive Verzichtserklärung ausgefüllt, ist aus dem Anzeiger-Verbund ausgetreten und wird ab kommendem Jahr seine amtlichen Mitteilungen ausschliesslich elektronisch über das Portal epublikation.ch publizieren. Zudem werden die Mitteilungen auf der Gemeindewebseite verlinkt und, für Menschen ohne Internet, im Gemeindehaus aufgelegt. Die Könizer Bevölkerung hat diesem Vorgehen kürzlich mit einer Zweidrittelmehrheit klar zugestimmt.

Noch klarer war die Empfehlung des Könizer Parlaments. Einstimmig – vielleicht noch beseelt von der kurz davor erlangten Einigkeit in der Budgetvorlage – empfahl es die Umstellung auf digitale Veröffentlichungen. Natürlich war den Parlamentarier*innen bewusst, dass dies für Menschen ohne Internet den Zugang erschwert. Demgegenüber wogen die Vorteile, abgesehen von der massiven Kostenreduktion, jedoch stärker: Durch die digitale Veröffentlichung können Bürger*innen, auch jene mit Sehbehinderung, gezielt Mitteilungen suchen, filtern oder abonnieren. Und es lassen sich auch ältere Mitteilungen einsehen – was beim «Anzeiger» nur Personen möglich ist, die ein Privatarchiv angelegt haben. Oder gibt es da vielleicht eine weitere Bürger*innenpflicht?

Erhalten heisst nicht verstanden

Vermutlich werden bald weitere Gemeinden dem Beispiel Köniz folgen. Doch im Grunde ist die Diskussion um die Form der Publikation nicht die drängendste. Der Briefkasten ist in der Schweiz nur noch wenig mehr verbreitet als das Internet und eine Online-Publikation völlig gerechtfertigt. Doch Zugang bedeutet nicht automatisch, dass die Mitteilungen auch gelesen und vor allem nicht, dass sie verstanden werden. Sprache Amtsdeutsch.

Die wichtige Frage ist, wie die Kommunikation der Behörden von den Bürger*innen verstanden werden kann. Früher wurde diese Übersetzungsfunktion von den Medien übernommen, die die Brisanz aus amtlichen Publikationen herausgefiltert haben. Heute fehlen dafür häufig Zeit und Journalist*innen. Medienförderung wäre hier die richtige Antwort – nicht Zwangszustellung.

Ein Hinweis darauf gibt ein Vergleich zwischen «BZ/Bund» und «Anzeiger». Obwohl letzterer über eine 1,5 Mal höhere Auflage verfügt, erreicht er laut Medienforschung nur rund ein Drittel so viele Menschen wie «BZ/Bund». Auflage allein reicht nicht.

Um zum Schluss doch noch etwas Gutes zum «Anzeiger Region Bern» zu sagen: Es verstecken sich darin nicht nur eventuell Leichen, sondern offenbar auch Wohnungsinserate. Bewerber*innen haben weit weniger Konkurrent*innen zu befürchten als bei Online-Inseraten.

Annatina Foppa
Zur Person

Annatina Foppa hat als freie Journalistin bei der «Berner Zeitung» ein besonderes Interesse an Köniz entwickelt. Den Beruf hat sie vor Jahren gewechselt, die Faszination ist geblieben. Für die «Hauptstadt» rückt sie monatlich die «Nebenstadt» Köniz ins Zentrum.

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Diskussion

Unsere Etikette
Anton Koller
06. Oktober 2022 um 11:16

Also erstens: Der Anzeiger kommt nicht mehr am "Mittwoch und Freitag", wie der Artikel sagt, sondern längst nur noch am Mittwoch ... Zweitens schätze ich ihn in Papierform - so bietet er weit mehr als trockene Amtsmitteilungen. Wohnungs- und Stellenmarkt, Rezepte, Philosophisches, Todesanzeigen ... nicht zu reden von der beigelegten Kulturagenda. All das zuerst aus dem Internet hervorklauben und womöglich auf ein paar Handy-Quadratzentimetern lesen zu müssen - nein danke!

Thomas Leibundgut
06. Oktober 2022 um 09:23

Die Verzichtserklärung ist einfach bestellt und ausgefüllt, es dauert insgesamt vielleicht zwei Minuten. Eine kurze, formlose E-Mail mit Name und Adresse, ein paar Tage später ist das Formular im Briefkasten, unterschreiben, zurückschicken, fertig. Weniger jammern, mehr Verantwortung übernehmen.

Von https://www.anzeigerbern.ch/index.php/abodienst/zustellungsinfo:

"Falls die Zustellung nicht wie gewünscht erfolgt, bitten wir Sie, sich via Telefon oder Mail zu melden. Telefon 031 529 39 39 (Montag bis Freitag 08.00 Uhr - 17.30 Uhr) oder [email protected]

Aus rechtlichen Gründen ist die Zustellung obligatorisch. Falls Sie keine Zustellung mehr wünschen, müssen Sie eine Verzichtserklärung ausfüllen. Diese erhalten Sie ebenfalls unter den oben genannten Kontaktmöglichkeiten. Gültig sind nur jene Verzichtserklärungen, welche wir Ihnen zuschicken. Allfällige aus dem Internet heruntergeladene oder handgeschriebene, sind nicht gültig."

Daniel Messer
05. Oktober 2022 um 14:56

Ich habe mich vor gut 4 Jahren einmal beim Anzeiger Region Bern (ARB) erkundigt, ob ich den ARB (wegen des Altpapierberges) auch in digitaler Form erhalten könnte, um Informationen bei Bedarf gezielt zu beziehen. Kurz: Der ARB ist online erhältlich (nur amtliche Publikationen). Aber nicht gratis (Fr. 90.- für ein Jahr).

Der Rest der ausführlichen Antwort betraf folgende Themen:

- Zusätzliche Kosten (für sie und die Gemeinden), die mit einer zusätzlichen Online-Version nicht gedeckt wären.

- Den Wechsel von einer Bring- zu einer Holschuld. ("Eingriff in die Rechte der Bürgerinnen(...)")

- Öffnen Tür und Tor für Missbrauch und Manipulation.

etc.

Da sind wir wieder einmal beim Thema Digitalisierung, wo die Schweiz in der Steinzeit verblieben ist.

P. S.: Bis dahin verwende ich den ARB zum einwickeln von gekühlten Getränken für den Transport. Klirrt dann weniger im Rucksack und die Getränke bleiben einigermassen kühl.

Thomas Bollinger
05. Oktober 2022 um 11:03

Der Vorteil der elektronischen Publikation ist die Durchsuchbarkeit. Ich kann z.B. relgelmässig schauen, was denn in den letzten 14 Tagen Relevantes für mich publiziert wurde. Das kann ich bei der Papierversion nicht - zumindest nicht ohne mich durch X Ausgaben zu quälen. Der Anzeiger hat das klar verschlafen - und bekommt jetzt die Quittung.

Pascal Burri
05. Oktober 2022 um 07:24

Das letzte Mal, dass ich bewusst in den Anzeiger geschaut habe, war wohl 2001/2002, als ich mich erkunden wollte, wann wo welcher Kinofilm lief. Heute benutze in den Anzeiger gelegentlich um nasse Schuhe damit auszustopfen oder bei einem Umzug, um Geschirr/Gläser zu polstern. Meiner Meinung nach, wäre es nachhaltiger auf online umzustellen und die Haushalte zu beliefer, die das explizit wünschen, als eine leidliche Verzichtserklärung ausfüllen zu müssen.