Bern stoppt, was Biel seit Jahren macht

Ab 2026 gibt es in Bern keine «Classe Bilingue» mehr. 91 Kinder sind betroffen. Der Entscheid der neuen Bildungsdirektorin entsetzt Eltern und Politiker*innen.

Amtsuebergabe Stadt Bern fotografiert am Donnerstag, 19. Dezember 2024 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Gemeinderätin Ursina Anderegg (links) führt den Schulversuch mit zweisprachigen Klassen nicht weiter. Ihre Vorgängerin Franziska Teuscher (rechts, bei der Amtsübergabe) hatte ihn lanciert. (Bild: Manuel Lopez / Archiv)

Die freisinnige Grossrätin Claudine Esseiva ist Präsidentin von Bernbilingue, einer Vereinigung, die sich für die Zweisprachigkeit einsetzt. Sie wohnt in Bern und hat einen elfjährigen Sohn. Er ist eines von 91 Kindern, die im Schulhaus Matte zur Hälfte auf Deutsch und zur Hälfte auf Französisch unterrichtet werden. «Für ihn ist es genial», sagt Esseiva. «Zu Hause reden wir Schweizerdeutsch, Fernsehen schaut er auf Französisch und er begreift alles.» Die Lehrkräfte seien fantastisch und er gehe gern in die Classe Bilingue. Doch am Montag erhielt die begeisterte Mutter über die Schul-App «Klapp» aus heiterem Himmel die Mitteilung des Schulamtes, dass der zweisprachige Schulversuch in der Stadt Bern auf Ende Schuljahr 2025/26 eingestellt wird.

Claudine Esseiva versteht die Welt nicht mehr: «Damit hat niemand gerechnet. Es ist ein absolut erfolgreiches Projekt. Wir haben im Gegenteil für einen Ausbau gekämpft. Damit es auch im Zyklus 3 Bilingue-Klassen gibt. Das ist eine Katastrophe auf dem Buckel der Kinder.»

«Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg»

In der Mitteilung des Schulamtes an die Eltern wird der Entscheid hauptsächlich operativ mit Umsetzungsschwierigkeiten begründet: So seien die Lektionen des deutschsprachigen Lehrplans 21 und des französischsprachigen plan d’études romand (PER) «zu wenig kompatibel.»

Dazu sagt Anna Tanner, SP-Bildungsdirektorin der Stadt Biel: «Das stimmt.» Es braucht mehr Absprachen und mehr Personal. Aber sie hält an die Adresse der grünen Stadtberner Bildungsdirektorin Ursina Anderegg unmissverständlich fest: «Letztlich ist es eine Frage des Willens und wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.»

Das sieht auch Tanners Parteikollegin, die Bieler Stadtpräsidentin Glenda Gonzalez Bassi so: Seit 2010 zeige Biel mit der «Filière Bilingue», dass dieser Weg wirklich funktioniert, unterschiedliche Lehrpläne hin oder her.

Keine Hilfe in Biel geholt

Obwohl Biel seit 15 Jahren Erfahrung darin hat, die Lehrpläne schülergerecht zu vereinbaren, hat die neue grüne Bildungsdirektorin der Stadt Bern, Ursina Anderegg, keinen direkten Kontakt zu Biels Bildungsdirektorin Anna Tanner gesucht. Was beide bestätigen. «Die Rahmenbedingungen in Bern unterscheiden sich von Biel», so Anderegg.

Dafür erntet Anderegg selbst Kritik von grüner Seite: «Das finde ich sehr schade», sagt Christoph Grupp, Co-Präsident der Grünen Fraktion im Grossen Rat. Er überlege sich, ob er eine Anfrage einreichen soll, um von der kantonalen Bildungsdirektorin Christine Häsler, ebenfalls eine Grüne, zu erfahren, ob der Kanton beim Wissenstransfer von Biel nach Bern nicht helfen könne.

Kooperation mit Biel

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Laut der Medienmitteilung der städtischen Direktion für Bildung bedeuten die zweisprachigen Klassen für die Stadt jährlich bis zu einer Million Franken Mehrkosten. Auch wenn Grossrat Grupp für die finanzielle Seite des Entscheides Verständnis hat, hält er fest: «Ich finde es überhaupt nicht gut, wenn es in der Hauptstadt eines zweisprachigen Kantons keinen zweisprachigen Unterricht mehr geben soll.» Er hofft auf eine Korrektur des Entscheids. Das sei aber eher Sache des Berner Stadtrates als des Grossen Rates, so Grupp.

«Entscheid ist definitiv»

Gemeinderätin Ursina Anderegg verteidigt ihren Entscheid und will nicht darauf zurückkommen. «Der Entscheid ist definitiv. Die Eltern wurden bereits informiert und er wurde begründet.» Nebst der Lehrplan-Koordination hebt Anderegg auch die Tatsache hervor, dass es sehr schwierig sei, geeignete, zweisprachige Lehrkräfte für diese Klassen zu finden.

Der Entscheid sei auf operativer und fachlicher Ebene gefällt worden. Dieser liege in der Kompetenz der Direktion. Sie habe aber den Gemeinderat darüber informiert. Anderegg betont, dass sie das Ende des Versuchs auch bedaure.

«Ich verstehe die Enttäuschung der Eltern»

Frau Anderegg, in der Medienmitteilung zu den gestoppten Classes bilingues schreiben Sie, der Lehrplan 21 und der Plan d’études romand seien zu wenig kompatibel. Um die Fächer Deutsch und Französisch gleichberechtigt zu unterrichten, müssten bei anderen Fächern zu viele Abstriche gemacht werden. Worauf beruht diese Aussage?

Ursina Anderegg: In die Entscheidfindung der Steuerungsgruppe floss ein Bericht der Uni Genf mit ein, die schon auf organisatorische und operative Probleme hingewiesen hatte. Ausschlaggebend für die Aussage zur Überlastung des Stundenplans war aber die fachliche Einschätzung aus dem laufenden Betrieb. Ohne Abstriche in anderen Fächern ist die Zweisprachigkeit nicht umsetzbar. Wichtige andere obligatorische Schulfächer kommen zu kurz.

Was am Schulversuch war positiv, was negativ?

Die Stadt Bern will sich für Zweisprachigkeit einsetzen. Ich finde es daher super, wollte die Stadt ihr Engagement hierfür im Rahmen der Volksschule testen. Nun standen wir vor der Frage, ob wir ein verlängerndes Gesuch einreichen sollen. Die Steuergruppe hat sich dagegen ausgesprochen. Deshalb entschied die Direktion, auf ein Gesuch zur Fortführung des Schulversuchs zu verzichten.

Was gab dafür den Ausschlag?

Es hat sich herausgestellt, dass die zweisprachigen Klassen in der Stadt Bern betrieblich und fachlich nicht sinnvoll angeboten werden können. Wir haben schon viel Druck im Schulsystem und bei Classes bilingues war es noch schwieriger als in regulären Schulklassen, geeignete Lehrer*innen zu finden. Zudem fanden wir für eine Erweiterung des Schulversuchs auf den Zyklus 3 (Klasse 7 bis 9) keinen Schulstandort, der das anbieten könnte.

Sie führen zudem finanzielle Gründe an: Wie viel Geld kann die Stadt einsparen?

Die Finanzen standen bei der Entscheidfindung nicht im Vordergrund, wurden aber in der Abwägung miteinbezogen. Eine Schulklasse kostet die Stadt pro Jahr 200’000 Franken. Das sind Beiträge an Löhne und Betriebskosten. Mit der Einstellung der vier zweisprachigen Klassen sparen wir also rund 800’000 Franken.

Warum können Kinder die Primarschule nicht in der zweisprachigen Klasse zu Ende machen, sondern müssen im Sommer alle in Quartierschulen wechseln? 

Der Versuch und die Finanzierung von Kanton und Stadt endet per Mitte 2026. Ein langsames Auslaufen des Schulversuchs wäre organisatorisch nicht machbar gewesen.

Ihre Vorgängerin Franziska Teuscher äusserte sich euphorisch zu dem Projekt. Warum kommt jetzt der abrupte Stopp, der viele betroffene Eltern verärgert?

Ich verstehe die Enttäuschung der Eltern. Ihnen ist die Zweisprachigkeit wichtig. Die Stadt hat sich lange dafür engagiert und diesen Schulversuch gewagt. Jetzt hat die Prüfung leider gezeigt, dass die Weiterführung des Schulversuchs organisatorisch nicht realistisch ist. Gemeinsam mit den Fachleuten aus Unterricht und Betreuung haben Stadt und Schulleitung nun über ein Jahr Zeit, die Kinder auf den Übertritt in Regelschulen vorzubereiten.

(Interview: Joël Widmer, Hauptstadt)

In der Mitteilung an die Eltern steht allerdings nirgends, dass dies ein Entscheid der städtischen Bildungsdirektorin sei. Stattdessen heisst es: «Nach der Laufzeit von knapp sechs Schuljahren ist die Classe-Bilingue-Steuergruppe, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern des Schulamtes, der Schulkreiskommission, der Schul- und Tagesbetreuung und des Kantons, zum Schluss gekommen, den Schulversuch auf Ende des Schuljahres 2025/26 nicht zu verlängern.»

Das wiederum stört den Kommunikationschef der kantonale Bildungsdirektion, Yves Brechbühler. «So was kann ja nicht auf Ebene Steuergruppe entschieden werden. Das ist ein politischer Entscheid.» Dazu Ursina Anderegg: «Es ist ein breit abgestützter fachlicher und betrieblicher Entscheid, welcher von mir und der Begleitgruppe gemeinsam gefällt wurde.»

«Ich nehme den Entscheid zur Kenntnis»

Bildungsdirektorin Christine Häsler selbst wollte am Dienstag in Biel bei der Grundsteinlegung des neuen Campus nicht inhaltlich Stellung nehmen: «Ich nehme den Entscheid zur Kenntnis.»

In einer gemeinsamen Medienmitteilung sprechen die beiden staatspolitischen Vereinigungen Bernbilingue und Forum du Bilinguisme von einem «bildungspolitischen Skandal». Sie verlangen «eine transparente Kommunikation der Stadt Bern und des Kantons und eine politische Aufarbeitung der Gründe».

Häsler wies die Kritik umgehend zurück: «Ich bin der falsche Adressat.» Der Kanton habe das Projekt bewilligt, aber nicht gestoppt. Das sei ein autonomer Entscheid der Gemeinde.

Deutlicher verurteilt die Berner SP-Ständerätin Flavia Wasserfallen den Entscheid ihres Wohnortes: «Ich habe null Verständnis.» Die technokratische Begründung mit Lehrplan, Lehrkräftemangel und fehlendem Schulraum überzeuge sie «überhaupt nicht». Zumal das Französisch derzeit überall als Schulfach unter Druck komme. Umso mehr müsse der zweisprachige Kanton Bern und die Hauptstadt dazu Sorge tragen.

Auch École Française in Gefahr

Für die Bieler Stadtpräsidentin Gonzalez Bassi ist der Entscheid umso bedenklicher, als gleichzeitig auch die École Française in Bern in ihrer Existenz gefährdet sei. Denn der Bundesrat will im Rahmen des Entlastungspaketes die Zahlung an die französische Schule in Bern einstellen. Das gleichzeitig drohende Ende der École Française und der Classe Bilingue beunruhigt auch Grossrat Grupp. «Das wäre ein schlechtes Zeichen für die Zweisprachigkeit im Kanton.»

Auch wenn Ursina Anderegg betont, dass ihr Entscheid definitiv sei, wächst der Widerstand. Betroffene Eltern wollen mit einer Petition Unterschriften sammeln. Und die FDP der Stadt Bern kündigt an, dass sie im Stadtrat aktiv werden will. Esseiva hofft inständig, dass das Stadtparlament den Gemeinderat beauftragen werde, den Versuch mit der «Classe Bilingue» zwingend weiterzuführen. Dazu Anderegg. «Selbstverständlich werde ich mich der politischen Debatte stellen.»

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Diskussion

Unsere Etikette
Hans Joss
10. Juni 2025 um 14:36

Ein weiteres Beispiel von fehlender Transparenz bei Entscheidungen des Gemeinderates.

Fehlende Transparenz schwächt die Demokratie und verstärkt Machtstrukturen.

Marco Zaugg
08. Mai 2025 um 18:54

Die Argumente für die Nichtweiterführung eines so wichtigen integrativen Projektes überzeugen nicht. Probleme kann man lösen. Und: Wo ein Wille ist, ist ein Weg.

Urs Bühlmann
08. Mai 2025 um 18:51

Ich finde den Artikel nicht wirklich objektiv. - Schade, der Hauptstadt hötte ich mehr zugetraut.

Tobias Feller
08. Mai 2025 um 17:37

Die ClaBi war ein Pilotversuch, sie wird nicht abgeschafft, nir nicht weitergeführt aus diversen Gründen. Mitunter die Unwilligkeit der Eltern, ihre Kinder in eine Schule in Bethlehem oder Wittigkofen zu schicken, es musste halt schon die Matte sein. So mutete das Projekt wie eine öffentlich finanzierte Privatschule an.

Ich will nicht kleinreden, was die Bedeutung für die Eltern war. Dass es aber nur 0.35% (wenn ich mich nicht irre) der Kinder betrifft, die FDP und Co _jetzt_ aber aufschreien, mutet seltsam an.

Elisa Häni
08. Mai 2025 um 07:19

Im Artikel lese ich neben den Aussagen von Ursina Anderegg ausschliesslich von Stimmen, die den Entscheid ablehnen. Es gibt bestimmt auch andere, denen die Argumente einleuchten.

Rosmarie Bernasconi
08. Mai 2025 um 06:19

Wir haben den Schulversuch als spannend und mutig wahrgenommen, ein miteinander von Deutsch und Französisch ist seit jeher in der DNA der Stadt Bern. Die zweisprachigen Kinder im Quartier haben die Matte bereichert und ehrlich, wir waren schon ein Bisschen stolz auf die Nähe zur französischen Sprache und der Kultur. Und natürlich auch zum Savoir vivre. Aber eben, das sind romantische Fantasierereien, die in der harten Realität des Berner Schulkosmos nichts verloren haben. Die Argumente tönen ähnlich, wie bei der geschlossenen KITA Matte, wie bei der Post, wie bei einem Tages-Busbetrieb: Fachkräftemangel, Budget, das schlechte Wetter. Eigentlich wie überall. Schade ist es einewäg.

Sean Müller
08. Mai 2025 um 05:14

Noch unbeleuchtet - in den Argumenten für Abschaffung oder Weiterführung - ist der Aspekt der sozialen bzw. räumlichen Durchmischung (oder eben nicht) durch die clabi. Wenn es dazu mehr Angaben gäbe wäre das auch sehr spannend.