«Kunst ist nie neutral»
Iliana Fokianaki will als neue Kunsthalle-Direktorin stärker mit dem Publikum in Kontakt treten und Kunst zugänglich machen. Zum Start soll die Kunsthalle zum ersten Mal seit 100 Jahren durchatmen können.
Iliana Fokianaki, Direktorin der Kunsthalle seit April, hält ihre Sonnenbrille in der Hand und winkt die Besucher*innen näher. Den Presserundgang will sie im Garten starten. Denn ein Raum besteht für sie nicht nur aus vier Wänden.
Ihr neues Konzept für die Kunsthalle ist eng verbunden mit dieser Idee von Raum als einem gemeinsamen Ort, der zugänglich ist.
Die 44-jährige Fokianaki kommt aus Griechenland und hat in England Kunst und später Kunstvermittlung studiert. «Ich habe früher viel gemalt und wollte eigentlich Künstlerin werden», sagt die neue Direktorin. «Während des Kunststudiums habe ich aber schnell gemerkt, dass ich lieber über die Kunst lese, als sie selbst zu machen. Ich bin also quasi eine Künstlerin im Ruhestand», meint Fokianaki.
Zuletzt war sie in Athen tätig, wo sie mit «State of Concept» ihre eigene Institution gegründet und geleitet hat. Jetzt will sie mit ihren Konzepten frischen Wind nach Bern bringen.
An der Kunsthalle habe sie vor allem die avantgardistische Vergangenheit gereizt. «Es gab hier sehr fortschrittliche Direktor*innen, die in die Zukunft sahen. 2003 wurde zum Beispiel die fantastische Ausstellung ‹South Meets West› gezeigt, mit Künstler*innen vom afrikanischen Kontinent, von denen damals niemand etwas wusste». Darunter auch Tracey Rose, von der aktuell eine Ausstellung im Berner Kunstmuseum zu sehen ist.
Es wird umgebaut und umverteilt
Während wir im Garten stehen, erzählt Fokianaki, dass die Kunsthalle einen Zugang zum Garten erhalten wird. Der Garten wird so zum zweiten Eingang. Die Bauarbeiten dauern bis zum Sommer 2025. In den nächsten paar Monaten kann darum nur ein Teil des Gebäudes für Ausstellungen genutzt werden.
Für diese Übergangszeit haben sich Fokianaki und ihr Team zwei Wörter ausgesucht, an denen sie sich orientieren: Fermentation und Permakultur. «Fermentation entsteht, wenn Moleküle aufgebrochen werden. Wir wollen dekonstruieren und neu zusammensetzen», steht auf dem grossen Plakat, das wir am Eingang der Halle passieren.
Permakultur bedeute, führt Fokianaki aus, dass sie und ihr Team sich in den nächsten paar Monaten Gedanken machen werden, wie sie als Institution weitermachen wollen. Es sollen Aufgaben neu verteilt und Räume umgestaltet werden. «Einige der Jobtitel blieben seit den 1990er Jahren gleich», so Fokianaki. «Aber die Aufgaben haben sich stark verändert.»
Atempause und Rückblick
Fokianaki beschreibt die Umstrukturierung als Zeit der Reflexion: «Diese Institution ist hundert Jahre alt und hatte nie eine Pause, nicht einmal während Covid. Wir liefern kontinuierlich Inhalte. Aber irgendwann ist es wichtig durchzuatmen und zu fragen: Was habe ich in den letzten Jahren getan? Habe ich erreicht, was ich mir vorgenommen hatte? Was habe ich gelernt und wie kann ich es besser machen?»
Während Institutionen für solche Umstrukturierungen normalerweise die Türen schliessen, hat sich Fokianaki dagegen entschieden. Sie will genau das Gegenteil: Sich mehr öffnen.
Neben den temporären Ausstellungen sind interdisziplinäre Veranstaltungen vorgesehen: Workshops, Lesegruppen und Film-Screenings im Garten. So will Fokianaki das Publikum stärker einbinden.
Bis Ende Jahr sind die Ausstellungen der Berner Künstler*innen George Steinmann und Olivia Abächerli zu sehen. Erstere weist auch einen Zusammenhang mit den Leitmotiven Permakultur und Fermentation auf, denn Steinmann hält in seinen Werken den Gletscherschwund fest. In einem Ausstellungsraum ist eine Sound-Installation angebracht, die das sanfte, aber stete Tropfen des Gletscher-Schmelzens abspielt.
Das neue Ausstellungskonzept der Kunsthalle
Im Sommer 2025 wird die Kunsthalle ein neues Programm für die nächsten sieben Jahre präsentieren. Im Fokus stehen dabei Themen wie Klimawandel, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Während Fokianaki durch die Kunsthalle führt, erklärt sie, welche weiteren Schwerpunkte sie setzen will: Eine einfache Sprache benutzen und Fachwörter erklären. Aber gleichzeitig auch die Kunstkenner*innen abholen. Die Kunsthalle soll für alle etwas bieten. «Mein Ansatz ist sehr generationenübergreifend», meint Fokianaki. «Ich hätte gerne 75-Jährige in meinem Publikum, aber auch 25-Jährige.»
Als wir uns nach dem Rundgang zum Einzelgespräch treffen, berichtet Iliana Fokianaki viel über das zukünftige Programm. Sie will Zusammenhänge aufzeigen. Sie gibt ein Beispiel: «Es geht nicht nur darum, keine Plastikstrohhalme zu verwenden, sondern auch darum, zu verstehen, dass der täglich konsumierte Kaffee in Zusammenhang mit Kinderarbeit stehen könnte.»
Durch Kunst Mitgefühl vermitteln
Auch der Klimawandel und seine Folgen beschäftigen Fokianaki. Sie hat früher an einem Ort gelebt, an dem Geflüchtete nach Europa kommen und auch schon in Flüchtlingslagern ausgeholfen. Für sie ist klar, dass der Klimawandel ein Auslöser für Migration ist. «Weil sich das Klima ändert, verlieren Menschen ihre Lebensgrundlage. Darüber denken viele Leute nicht nach. Aber wir müssen anfangen, darüber nachzudenken. Niemand möchte freiwillig seine Heimat verlassen».
Schaue man sich die Waldbrände und massiven Überschwemmungen an, die nun in Europa an vielen Orten auftreten, sei es gar nicht so unwahrscheinlich, dass auch wir Europäer*innen woanders hinziehen müssen und zu Flüchtlingen werden, erklärt Fokianaki.
Sie glaubt, dass viele Leute dieses Szenario nicht im Kopf haben. «Hat man es, empfindet man mehr Mitgefühl für diejenigen, die sich in der Situation befinden.»
Ansichten, die anecken können
Vor den Sommerferien fragte die Zeitung «Der Bund», ob das Aktivismus sei (Abo). Auch die Kunsthalle erlebte irritierte Rückmeldungen eines Besuchers, der meinte, die Ausstellung von George Steinmann sei keine Kunst und gehöre ins Alpine Museum und nicht in die Kunsthalle.
Für Fokianaki ist der Fall klar: «Drei Tage später gab es im Tessin Überschwemmungen, bei denen drei Menschen starben. Was ist Kunst, wenn nicht eine Antwort auf ihre Gegenwart? Kunst ist natürlich ein Vergnügen, aber sie kann nicht nur das sein, sie sollte auch zum Nachdenken anregen», so die Direktorin.
Fokianaki bezeichnet sich selbst als Feministin und Antifaschistin, aber das bedeute nicht unbedingt, dass sie eine Aktivistin sei. «Aktivismus ist eine ernste Sache, die viel Zeit und Hingabe braucht», so die Direktorin.
Warum im Jahr 2024 die Frage gestellt wird, ob Kunst politisch sein kann oder sein sollte, versteht sie nicht. Viele Künstler*innen, darunter auch Jean Tinguely, hätten diese Frage bereits im letzten Jahrhundert beantwortet. «Kunst kann und soll politisch sein», so Fokianaki. «Sie ist nie neutral. Das kann sie gar nicht, weil sie von Menschen gemacht wird und kein Mensch ist neutral, jeder Mensch hat eine Meinung.» Die geforderte Neutralität ist in ihren Augen eine Utopie und wird vor allem von konservativen und rechten Menschen gefordert, «weil sie nicht wollen, dass die Kunst sie kritisiert». Sie wollen laut Fokianaki eine bestimmte Art von Kunst, die sie nicht störe. «Bedeutungslose Kunst, die gut zu ihrer beigen Couch passt. Aber das ist nicht die Kunst, die mich interessiert.»
Es wird noch eine Weile dauern, bis man sich von der Kunst, die Fokianaki spannend findet, ein genaueres Bild machen kann. Einen Vorgeschmack kriegt man allerdings bereits durch das neue Outdoor-Filmprogramm, das die Kunsthalle aktuell zeigt. Dabei geht es um Umweltkatastrophen und deren Zusammenhang mit Rassismus und Kolonialismus. Fokianaki hat also viel um die Ohren.
Dennoch oder gerade darum freut sie sich auf die nächsten paar Monate. Auch ihr selbst werde die geplante Umstrukturierung, das Atemholen, gut tun. «Ich bin ein bisschen ein Workaholic, deshalb ist das auch für mich selbst eine gute Übung.», sagt sie und lächelt.