Auf Umwegen zum Mädchenteam
Nach der Heim-EM soll der Frauenfussball in der Region Bern gefördert werden. Der Wille ist da, die Hindernisse aber auch. Ein Trainingsbesuch beim FC Bolligen.
Auf dem Rasen beim Schulhaus Lutertal liegen Fussbälle bereit. Kleine Parcours mit bunten Plastikhütchen sind schon vorbereitet. Bald startet das erste Training der Saison für die Juniorinnen des FC Bolligen. Es ist ein heisser Freitagabend im August.
Als sich die zehn Mädchen, viele von ihnen in YB-Trikots, auf dem Platz versammelt haben, sagt Trainer Eric Wild: «Hoi zäme, schön seid ihr da. Am Sonntag steht das erste Spiel an.» Er erzählt auch von einem Trainingslager in Tenero, das er nächstes Jahr über Pfingsten plant. Dann beginnen die Aufwärmübungen, kurze Sprints, später führen die Spielerinnen die Bälle im Slalom um die Hütchen herum.
Die Mädchen, die hier kicken, hat das Fussballfieber lange vor der EM in der Schweiz gepackt.
«Eine mega coole Zeit»
Eric Wild hat das erste Mädchen-Team beim FC Bolligen vor vier Jahren ins Leben gerufen. Der 45-jährige Berufsschullehrer nennt sich selbst ein «Urgestein» des Vereins. Er hat als Jugendlicher dort gespielt und ist seit seinem 20. Lebensjahr Trainer.
«Ich bin ein leidenschaftlicher Trainer», erzählt der vierfache Vater im Gespräch mit der «Hauptstadt». Das Hobby habe auch seinen beruflichen Weg beeinflusst. «Ich merkte, wie gerne ich mit Kindern und Jugendlichen arbeite.» Er liess sich zum Lehrer ausbilden und studierte später noch Sport.
Als seine Tochter mit Fussball anfangen wollte, spielte sie als Siebenjährige zuerst ein Jahr lang bei den Jungs des FC Bolligen. «Dann äusserten sie und eine Freundin von ihr den Wunsch nach einem reinen Mädchenteam», erzählt Wild. Das gab für ihn den Ausschlag, eines zu gründen. Der Verein war einverstanden.
Wild gestaltete einen Flyer, streute ihn in der Gemeinde, und bald hatte er ein Team zusammen. Es kamen auch Mädchen aus umliegenden Gemeinden, in denen es noch keine reinen Mädchenteams gab.
Sie hätten in den vergangenen vier Jahren «eine mega coole Zeit» gehabt, sagt Eric Wild. Weil es für eine reine Mädchenliga nach wie vor sehr wenige Teams in der Region Bern gibt, spielen die Bolliger Juniorinnen meist gegen Jungs. «Wir feierten tolle Erfolge und konnten viel erleben», sagt Wild. Sie reisten etwa an ein internationales Turnier nach Augsburg in Deutschland. Und kürzlich erhielten sie im Training Besuch von YB-Spielerinnen.
Kein zweites Mädchenteam
Mittlerweile spielt das Team bei den D-Junioren, also den unter 14-Jährigen. «Es kam die Zeit, in der es Sinn machte, ein zweites, jüngeres Team nachzuziehen», sagt Wild. So könne der Mädchenfussball nachhaltig gefördert werden: Mit einer nächsten Generation, die für Kontinuität sorgt, wenn ein Team in eine höhere Alterskategorie kommt.
Letzten Winter schlug Wild dem Verein die Idee vor. Dieser war einverstanden, nach den Frühlingsferien erste Schnuppertrainings anzubieten. Die Nachfrage war da, und bald kam eine Gruppe jüngerer Mädchen regelmässig ins Training. Eric Wild fand einen motivierten Trainer und plante, das zweite Bolliger Mädchenteam auf die neue Saison hin offiziell zu gründen.
Gerade im Breitensport findet Wild es wichtig, dass reine Mädchenteams existieren. «Mit den Jungs zu spielen, kann für leistungsstarke Mädchen gut sein», sagt er. Doch junge Spielerinnen, die nicht alles auf den Fussball setzen, fühlten sich dort oft weniger wohl, ist Wilds Erfahrung.
Kurz vor den Sommerferien setzte der FC Bolligen Wilds Plan plötzlich ein Ende. Der Verein entschied sich dagegen, das zweite Team aufzunehmen. Deshalb kann die jüngere Gruppe diese Saison doch noch keine Spiele bestreiten. Dafür hätte sie vom Verein offiziell aufgenommen werden müssen.
Verein sieht keinen Bedarf und zu wenig Platz
Joël Dumauthioz ist Präsident des FC Bolligen. Er sagt, der Entscheid gegen ein Mädchenteam im Kinderfussball sei aus zwei Gründen gefallen.
Erstens spiele aus Sicht des Vereinsvorstands im Kinderfussball das Geschlecht noch keine Rolle. «Bis und mit E-Junioren, also ungefähr zehn Jahre, gibt es keine Unterschiede zwischen Mädchen und Jungs, etwa bei der Kraft», sagt er gegenüber der «Hauptstadt».
Der Verein erlebe immer wieder Mädchen, die in den jüngeren Kategorien gerne mit den Jungs spielen. «Unsere Erfahrung ist, dass beide voneinander profitieren», sagt Dumauthioz. Einen «EM-Boom» in Form von vielen Anfragen von Mädchen spüre der Verein noch nicht.
Zweiter Grund sei die Infrastruktur. «Gleich wie viele Vereine in der Region, haben wir nicht viel Handlungsspielraum für weitere Teams», sagt der Vereinspräsident. 18 Teams des FC Bolligen trainieren bereits in einem Dorf mit nur einem Fussballfeld und begrenzten Rasenplätzen und Sporthallen. Bei den Jüngsten führt der Verein Wartelisten, bei den älteren Kategorien hat er damit aufgehört, weil keine Plätze innert nützlicher Frist garantiert werden konnten.
Fussballverband erwartet einen EM-Boom
Wartelisten und knappe Trainingsplätze gibt es bei vielen Fussballvereinen in der Region Bern. Vor allem im städtischen Gebiet ist die Nachfrage von Kindern, die Lust auf Fussball haben, seit einigen Jahren grösser als die Angebote, die Vereine bieten können. Oft mangelt es an genügend Trainer*innen und an Infrastruktur. Besonders Hallen im Winter und Kunstrasenplätze, auf denen immer trainiert werden kann, sind beschränkt.
Soeben hat der Kanton Bern dagegen eine Massnahme ergriffen: Für 850’000 Franken installiert die Sportdirektion zwölf ausrollbare Kunstrasenfelder in zehn verschiedenen Gemeinden. Ab Mitte September werden ausserdem Ausleihstationen für Sportmaterial bereitstehen.
Damit will der Kanton im Nachgang der EM den Frauen- und Mädchenfussball unterstützen. Auf einigen der Kunstrasenplätze sollen gezielt Frauen- und Mädchenteams trainieren können.
Auch der Schweizerische Fussballverband hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt, um mit dem Turnier den Frauen- und Mädchenfussball in der Schweiz zu fördern. Er will im Rahmen der sogenannten «Legacy» die Zahl der lizenzierten Spielerinnen, Trainerinnen und Schiedsrichterinnen in der Schweiz bis 2027 verdoppeln.
Lydia Dubach ist «Legacy»-Verantwortliche beim regionalen Fussballverband Bern-Jura. Sie sagt, interessierte Spielerinnen gebe es genug. «Das zeigte sich auch vor der EM schon deutlich», so Dubach. Seit 2020 kamen in den Kantonen Bern und Jura jährlich 300 bis 600 neue Spielerinnen hinzu. Derzeit gibt es rund 5’600 lizenzierte Spielerinnen in der Region. «Und der EM-Boom ist erst im Gange», sagt Dubach.
Nach dem erfolgreichen Heim-Turnier erwartet Dubach einen weiteren Zuwachs an fussballinteressierten Mädchen. «Es ist noch zu früh, um einschätzen zu können, wie gross dieser tatsächlich ist», sagt sie.
Die Erfahrung aus anderen Ländern zeige, dass ein Grossevent wie die EM dem Sport einen starken Popularitäts-Schub gebe. «Man spricht von einem Sprung um zehn Jahre nach vorne für ein Gastgeberland», sagt Dubach. «Unsere Aufgabe ist es, diesen Andrang stemmen zu können.»
Die meisten Berner Vereine noch ohne Mädchenteams
Die Platzknappheit trifft sowohl Mädchen als auch Jungs. Auf den Wartelisten in der Region Bern stehen viel mehr Jungs als Mädchen, weil sie immer noch in der grossen Mehrzahl sind unter den Fussballspielenden. Faire Entscheide zu treffen, ist für Vereine keine einfache Aufgabe.
Lydia Dubach sagt: «Wenn es an Infrastruktur fehlt, können wir als regionaler Verband nur beschränkt Einfluss nehmen.» Vereine seien oft auf die Gemeinden angewiesen, die für Trainingsplätze zuständig sind.
Der Fussballverband bietet jedoch Workshops an, die Vereine dabei unterstützen, Mädchen-Abteilungen aufzugleisen. Dazu gehört auch, platzsparende Trainingsmethoden zu empfehlen, damit mehr Teams und Kinder gleichzeitig trainieren können. Wird die bestehende Infrastruktur optimal genutzt, komme das auch neuen Mädchen-Teams zugute, sagt Dubach.
Laut ihr haben etwa zwei Drittel der Vereine in der Region Bern noch kein Mädchenteam. Einer der Gründe dafür sei die knappe Infrastruktur. Doch teilweise fehlten auch Trainerinnen und – je nach Region – aktuell noch Spielerinnen. Ein Wandel sei aber spürbar: Auf die neue Saison wurden im Verband 30 Mädchenteams mehr gemeldet, als noch im Frühling aktiv waren.
«Will man den Fussball allen Mädchen zugänglich machen, braucht es reine Mädchenteams», sagt Dubach. «Ansonsten kommt nur ein Bruchteil an Mädchen, nämlich jene, die es sich zutrauen, mit den Jungs mitzuhalten.» Das zeigten auch Studien. Mit den Jungs zu spielen, sei vor allem für talentierte Mädchen, die in den Spitzenfussball wollen, sinnvoll.
Eigene Lösung
Platzsparende Trainingsmethoden sind für Eric Wild und den FC Bolligen längst Alltag. Der Verein betreut mit sogenannten Pool-Trainings bereits jetzt bis zu 40 Jugendliche gleichzeitig. «Platzprobleme gibt es vor allem in der Halle im Winter», sagt Eric Wild.
Wild hofft – genau wie Vereinspräsident Joël Dumauthioz – auf den regionalen Fussballcampus Rörswil. Er ist ein gemeinsames Projekt von YB, dem Kanton Bern sowie den Gemeinden Ostermundigen und Bolligen und brächte zusätzliche Trainingsplätze. Nicht nur für YB, sondern auch für die umliegenden Vereine und den Breitensport. Noch stehen aber Abstimmungen in den Gemeinden und Bewilligungsverfahren bevor. Stand jetzt könnte der Campus frühestens 2028 eröffnet werden.
Doch für das zweite Mädchenteam des FC Bolligen musste eine schnellere Lösung her. «Ich wollte die Mädchen, die seit einigen Monaten motiviert trainieren, nicht einfach enttäuschen», sagt Eric Wild. Also suchte er auf eigene Faust nach Möglichkeiten.
Er gründete schliesslich kurzerhand einen neuen Verein für das Team und wandte sich direkt an die Gemeinde Bolligen. Vor wenigen Wochen, kurz vor dem Saison-Start, gab es gute Neuigkeiten: Er fand einen Hallen-Trainingsplatz für den Winter. «Natürlich nicht an einem Abend, wo alles ausgebucht ist, aber immerhin an einem Nachmittag», sagt Wild. «Jetzt können wir sicher für ein Jahr weitermachen.»
Sich langfristig vom FC Bolligen lösen will Wild nicht. «Ich hoffe, das ist nur eine Übergangslösung», sagt er. «Mein Ziel wäre es immer noch, die Mädchen-Abteilung beim FC Bolligen zu integrieren.» Bis dahin kicken die Sieben- bis Elfjährigen vorerst als eigener Verein weiter.
Auch dieses jüngere Team trainiert am Freitagabend beim Schulhaus Lutertal. Auf der gegenüberliegenden Seite des Rasenplatzes üben zwölf Mädchen mit einem anderen Trainer Schüsse aufs Tor. Nach den Sommerferien ist die Gruppe noch um einige Neueinsteigerinnen gewachsen.
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