«Wir bewegen uns zwischen Chaos und Ordnung»
In der Berner Markuskirche lädt Pfarrer Tobias Rentsch am Sonntag zum Osterlachen ein – mit anschliessendem Apéro. Die Kirche müsse sich dem Zeitgeist stellen, sich ihm aber nicht anbiedern, findet er.
«Ich bin ein frommer Mensch», sagt Tobias Rentsch und zieht kurz an seinem Baseball-Cap. Er ist Mitglied des siebenköpfigen Pfarrteams der reformierten Kirchgemeinde Bern Nord und hat sich den Ruf des Unkonventionellen erarbeitet. Weil er mit seinem Bar-Velo im Quartier Bier ausschenkt. Weil er als Gastro-Pfarrer unterwegs war. Weil er in der Beiz sass, neben sich das Schild «Pfarrer bei der Arbeit – Ablenkung erwünscht». Weil er Lederjacke trägt und YB-Fan ist.
Selber hält sich Rentsch, ursprünglich Chemielaborant, für ziemlich normal. «Ich habe einen sicheren Job und einen guten Lohn. Was ich tue, ist nicht besonders mutig», sagt er. Doch die Kirche, sie liegt ihm am Herzen. Und zwar als Ort der scheuklappenfreien, konstruktiven Auseinandersetzung.
Wenn sich einer darüber ins Feuer reden kann, dann Tobias Rentsch.
Tobias Rentsch, wir sitzen in Fauteuils im Schiff der zwischengenutzten Markuskirche. Es gibt keine Kirchenbänke mehr, dafür einen Pingpong-Tisch, Kinderspielzeug, Bücher. Hier finden Rockkonzerte statt, Technopartys…
Tobias Rentsch:...wir holten ein Tattoo-Festival in die Kirche…
… oder Yogastunden. Die Markuskirche war auch schon ein Restaurant. Macht es Freude, Pfarrer zu sein in einer Kirche, die gar keine richtige mehr ist?
Ja, sehr sogar. Und zwar gerade weil die Markuskirche eben doch noch eine Kirche ist. Von aussen mag es so aussehen, als sei sie keine mehr. Und es passieren in ihr Dinge, die man nicht mit Kirche in Verbindung bringt. Aber ich arbeite ganz normal als Pfarrer, ähnlich wie dies Menschen seit 2000 Jahren bei der Kirche tun. Diese unterschiedlichen Ebenen zusammenzubringen, das ist es, was mir hier gefällt. Und mich herausfordert.
Man könnte sagen: Sie verpassen der Kirche ein flottes Marketing, damit sie die Menschen zurückgewinnt.
Die Debatte wird in vielen Religionen geführt. Darf sich die Kirche dem Zeitgeist anpassen? Ich sage: Sie muss sich dem Zeitgeist zumindest stellen. Das ist für mich auch theologisch begründet in der Geschichte, die wir Christ*innen uns erzählen: Wenn Gott an Weihnachten auf die Welt kommt und am Karfreitag sogar stirbt, dann stellt er sich den Menschen, der Welt, dem Zeitgeist. Es wäre falsch, wenn die Kirche um einen religiösen Kern herumtanzt, und die Menschen ringsherum sollen für sich selber schauen.
Vom 22. bis zum 25. April verlegt die «Hauptstadt» ihre Redaktion in die Markuskirche im Breitenrainquartier, die im Moment experimentell zwischengenutzt wird, bis das Umbauprojekt startet. Wir werden jeden Morgen um 9 Uhr im Kirchenschiff unsere tägliche Redaktionssitzung abhalten und durch den Tag dort arbeiten und diskutieren.
Für das Berner Nordquartier ist diese Woche intensiv: Am Freitag, 25. April, beginnt die diesjährige BEA, und gleichzeitig wird die neue Festhalle eröffnet. Wir werden die Aussenwoche in der Markuskirche nutzen, um tiefer in Themen einzutauchen, die den Breitsch beschäftigen. Wie immer, wenn wir auswärts arbeiten, kannst du unsere Redaktion in der Markuskirche besuchen. Gerne nehmen wir Themenvorschläge auf.
Zudem laden wir dich am Donnerstagabend, 24. April, 17.30 Uhr bis 20 Uhr, zum Feierabend zu Grill&Bier ein. Getränke sind da, Grillgut bringst du selber mit.
Sehen Sie die Markuskirche als Labor?
Was wir hier in der Zwischennutzung ausprobieren, ist aus meiner Sicht ein scheuer Anfang in die Richtung, wie ich mir eine moderne Stadtkirche vorstelle.
Technopartys, Yogastunden, ein Feierabendbier kann jeder beliebige Veranstaltungsort anbieten. Wo bleibt das Kirchliche ausser im Namen?
Viele Menschen sagen mir, dass sie gerne ab und zu über grosse Fragen reden würden wie: Was glaube ich eigentlich? Aber in der Beiz, beim Apéro, im Ausgang tut man es höchst selten. Man redet beim Bier easy über Sex, Sport, über Trump und Musk. Glaubensfragen jedoch sind irgendwie tabuisiert. Die Kirche, wie immer ihre äussere Form aussieht, ist für mich dort, wo das Reden über Glauben möglich ist. Das ist wichtig für mich. Bedeutet aber nicht, dass ich als Pfaff bei unserem monatlichen Grill und Bier draussen vor der Markuskirche mit dem Bierbecher in der Hand zu den Leuten renne, um noch kurz über Jesus zu reden.
Sondern?
Ich verstehe den Auftrag der Kirche darin, existenziellen gesellschaftlichen Fragen um Religion und Glauben eine Umgebung zu geben. Und es geht auch nicht darum, dass nur ich als Pfarrer mich mit Menschen unterhalte. Über Glaubensfragen können verschiedenste Menschen miteinander ins Gespräch kommen. Ich selber habe in den letzten Jahren gemerkt, dass das auch für mich als Pfarrer bedeutet, in Bewegung zu sein. Theologisch gesprochen: die Unverfügbarkeit von Gott zuzulassen.
Unverfügbarkeit von Gott – was heisst das für Sie?
Niemand weiss, was Gott will oder was Gott wirklich ist. Aus christlicher Sicht liegt die Deutungshoheit bei ihm. Auch wir als Kirche haben ihn nicht in der Tasche. Und ich als Pfarrer verkünde hier keine absoluten Wahrheiten. Daraus folgt: Die Gespräche, die in dieser Kirche geführt werden, sind ergebnisoffen. Sie können wie ich Ihren Glauben einbringen. Aber in der Kirche, wie ich sie mir vorstelle, muss auch der Zweifel Platz haben.
Auch beim Pfarrer?
Gerade beim Pfarrer. So, wie ich den Glauben kenne und lebe, verpflichtet er mich dazu, nicht vorschnell eine Meinung zu haben. Natürlich habe ich eine Haltung und gebe zum Beispiel gegen Rassismus klare Kante. Aber ich nehme mir Zeit, eine Position zu entwickeln. Was Pfarrer Töbu und die Kirche sagen, das sind nicht mehr als Beiträge zu einem Bild oder einer Vision, die man hoffentlich zusammen entwickelt. Und zusammen heisst für mich: Dass Stimmen von ausserhalb der Kirche auch innerhalb der Kirche gehört werden.
An Ostern veranstalten Sie in der Markuskirche ein Osterlachen – zusammen mit dem Gitarristen Mario Capitanio, dem Ex-Flügzüg-Komiker Baldrian Thomas Leuenberger und dem Organisten Jürg Bernet. Was haben Witze und der nachfolgende Apéro in der Kirche verloren?
Es gibt die religiöse Tradition des Osterlachens. Der Grundgedanke: Am Karfreitag passiert der Skandal, Jesus stirbt am Kreuz. Und dann zwei Tage später die grosse Freude der Auferstehung. Das Osterlachen drückt die Freude aus, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Sondern das Leben, die Liebe, die Hoffnung. Man erzählt Witze und lustige Geschichten. Wir veranstalten das nun in der Kirchgemeinde Bern Nord zum dritten Mal. Es ist eine ganz normale und gleichzeitig nicht-normale Osterfeier.
Inwiefern?
Wenn sie im positiven Sinn Irritation auslöst – umso besser. Zum Apéro: Gemeinsam Essen und Trinken gehört zu jeder Religion – auch zur christlichen. Alle sind eingeladen zu kommen und sich ein eigenes Bild davon zu machen.
Die Markuskirche (an der Tellstrasse) gehört wie die Johanneskirche (an der Breitenrainstrasse) zur seit dem 1. Januar 2025 fusionierten Kirchgemeinde Bern Nord. Gottesdienste finden in der Johanneskirche statt. Die Markuskirche wird zu einer modernen Stadtkirche umgebaut, die sich als offenes kirchliches Quartierzentrum versteht, ohne Kirchenbänke, dafür mit Bistro. Wegen Beschwerden ist der Umbau derzeit vor Verwaltungsgericht blockiert. Deshalb wird die Kirche unter dem Namen Bimbam Bern weiterhin divers zwischengenutzt – etwa von den Kornhausbibliotheken. Nach dem Umbau wird die Markuskirche Sitz der Kirchgemeinde. Was mit der Johanneskirche passiert, ist zurzeit offen.
Wie realistisch ist die Osterbotschaft der Auferstehung überhaupt? Im Moment ist doch die Zukunftsangst sehr verbreitet.
Auch hier gilt für mich: Gespräche in der Kirche sind ergebnisoffen. Meine Osterbotschaft lautet nicht: Hey Jürg, alles kommt gut, schliesslich gab es vor 2000 Jahren die Geschichte mit der Auferstehung. Mir persönlich gibt diese Geschichte zwar Halt und Hoffnung, das ist mein Glaube. Ich sage aber nicht: Mach dir keine Sorgen.
Sondern?
Manchmal dominiert das Gefühl der Angst. Auch bei mir. Und genau da liegt meine Begründung dafür, warum ich einen Gottesdienst eine tolle Sache finde: Ich sehe, ich bin nicht allein mit dieser Angst. Und ich muss die Probleme nicht alleine lösen. Im Gegenteil: Wenn man zusammenkommt, kann der Mut entstehen, trotz der Angst zu handeln.
In der wachsenden, gentrifizierten Stadt verschwinden Spunten und Orte, an denen es wie früher war. Will die Kirche in diese Lücke springen?
Ich gebe Menschen, die einen Raum verloren haben, gerne eine Zuflucht, wenn ich kann. Keine Frage. Aber was die Menschen zum Beispiel mit der Quartierbeiz Luna llena verlieren, die bald schliesst, werden sie nicht in der Markuskirche finden. Das wäre komplett vermessen, schon nur den heutigen Betreiber*innen des Luna llena gegenüber. Sie haben einen einmaligen Ort geschaffen, den auch ich gerne aufsuche.
Aber Sie sagten doch vorhin, die Kirche müsse sich öffnen und dem Zeitgeist stellen?
Ja. Jedoch soll sie sich eben nicht anbiedern. Sehen Sie: Einfach marktwirtschaftlich zu überlegen, was trendet und was man aus dem Kirchenraum machen könnte, damit möglichst viele Leute kommen, das ist nicht mein Verständnis, wie man die Kirche weiterentwickeln sollte. Dafür bin ich nicht Pfarrer geworden. Wir sind nicht das Luna llena, nicht das Bierhübeli, nicht die Reitschule. Das Exklusive an der Markuskirche ist, dass es ein Ort ist, an dem Glaubensfragen explizit nicht tabu sind.
Wo ziehen Sie die Grenzen, was in der Kirche möglich ist und was nicht?
Solange religiöse Fragen nicht tabuisiert werden, ist für mich eigentlich alles möglich.
Wie weit gehen Ihre Ideen?
Ich habe eine ziemlich lange Liste.
Ein Beispiel?
Ich könnte mir vorstellen, im Winter aus der Markuskirche für zwei, drei Wochen eine Beachvolleyhalle zu machen. Mit Sand, Palmen, Liegestühlen und allem, was Sommer suggeriert. Meine Herausforderung als Pfarrer bestünde darin, am Sonntag einen Gottesdienst zu gestalten, der für die Menschen, die diesem in den Liegestühlen folgen, nicht allzu schräg ist. Wir redeten vorhin über Ängste und dunkle Gedanken, die vom Winter symbolisiert werden, während die Strandszenerie Licht und Leben bedeutet. Darin ist eine Predigt schon fast angelegt.
Mit Ihrem Pfarrer-Kollegen Martin Ferrazzini haben Sie das Format «à point» entwickelt. Salopp gesagt eine Predigt im Bistro im Kirchgemeindehaus Johannes, die ans Improvisationstheater angelehnt ist, dazu gibts Speis und Trank an der Bar.
Ich will die Performance noch verbessern. Aber die Methode finde ich ehrlich gesagt selber grandios. Wir haben keine Ahnung, was am jeweiligen Abend herauskommt. Wir sind zwar nicht unvorbereitet, aber wir wissen zum Beispiel nicht, welche Themen und Texte wir uns diesmal vornehmen. Wir reagieren auf die Besucher*innen und aufeinander. Und so entsteht ein theologischer Gedanke im Moment. Ich fühle mich da als Theologe sehr herausgefordert, weil das Publikum von mir zu Recht erwartet, dass mir etwas mehr einfällt als das, was jedem und jeder auf dem Barhocker in den Sinn kommt.
Bremsen Ihre Vorgesetzten in der Kirchgemeinde Sie manchmal, wenn Ihre Ideen zu weit gehen?
Die Situation in der Markuskirche mit der Zwischennutzung ist aussergewöhnlich. Ich bin hier mit einem Kirchgemeinderat unterwegs, von dem ich sehr viel Unterstützung erfahre.
Stossen Sie mit Ihrem Kurs auch auf Widerstand?
Ich würde heucheln, wenn ich sagen würde, dass es keine Menschen gibt, die es stört, was wir hier tun. Wir bewegen uns, wie bei jedem Experiment, zwischen Chaos und Ordnung. Wir orientieren uns an den Geschichten von Weihnachten, Karfreitag und Ostern. Das inspiriert, Geschichte weiterzuschreiben, ohne alles in den eigenen Händen zu haben.