Milch für Kalb und Mensch
Lukas Jost, Milchbauer in Wohlen Bern, gehört zu den wenigen, bei dem die Kälber mehrere Monate bei der Mutterkuh Milch saugen dürfen. Dadurch verkauft er 40 Prozent weniger Milch.
Lukas Jost schaut skeptisch auf die Füsse der Besucher*innen. «Braucht ihr Gummistiefel?», fragt der Milchbauer. Wir stehen vor dem Bauernhof in Wohlen, der direkt am See liegt. Lukas Jost will uns die Kühe und Kälber zeigen, die auf der Weide grasen.
Es braucht mehr Kommunikation von den Produzent*innen und mehr Verständnis und Interesse von den Konsument*innen. Das fanden die Gästinnen des «Hauptsachen»-Talks zum Thema Landwirtschaft.
Hier will die «Hauptstadt» ansetzen. Mit der Serie: «Durch das Berner Bauernjahr» sollen Konsument*innen erfahren, vor welchen Herausforderungen Berner Landwirt*innen stehen, und wie sich ihr Konsum und die Herausforderungen der Landwirt*innen gegenseitig beeinflussen.
Gemeinsam mit Berner Landwirt*innen wollen wir Fragen beantworten wie: Welche Auswirkungen hatte der ausgeprägte Mai- und Juniregen auf die Ernte? Wird es dieses Jahr mehr importierte Biokartoffeln geben als inländische? Wie bereiten sich die Produzent*innen auf das verändernde Klima vor? Welchen Einfluss hat das wandelnde Konsumverhalten? Auch du als Leser*in und Konsument*in bist gefragt. Welche Themen interessieren dich? Was möchtest du von der Landwirtschaft wissen? Schreib uns eine Mail.
Lukas Jost, 35, hat nach einer Kochlehre eine Zweitausbildung zum Landwirt gemacht und 2019 abgeschlossen. Nun bewirtschaftet er den Hof in einer Generationengemeinschaft gemeinsam mit seinen Eltern Fredi und Karin Jost. Sie halten 26 Milchkühe und bewegen sich damit etwa im Durchschnitt der Schweizer Milchkuhbetriebe.
Auf der Weide zeigt uns Lukas Jost seine Kühe und stellt sie uns mit Namen vor. Eine hat gerade erst gekalbt. Das jüngste Kalb wurde vor zwei Tagen geboren und tollt mit den Kühen und anderen Kälbern auf der Weide herum. Auch ein Stier ist mit der Herde draussen. Er sei nicht gefährlich, sagt Jost, nur manchmal etwas launisch. Wir sollen ihm also doch nicht zu nahe kommen.
Euter statt Schoppen
Dass die Kälber bei den Müttern bleiben, ist ungewöhnlich für eine Milchkuhherde. Auf konventionellen, aber auch auf Bio- und Demeterbetrieben werden die Kälber direkt oder wenige Stunden nach der Geburt von der Mutter getrennt und isoliert. Durch diese Massnahme sollen sie mit möglichst wenig Keimen in Kontakt kommen, weil ihr Immunsystem nach der Geburt noch schwach ist. Gleichzeitig wird durch die Trennung sichergestellt, dass die Milch, die die Kuh produziert, gemolken und verkauft werden kann.
Die Kälber bekommen bei diesem Prozedere ihre Milch aufgewärmt aus dem Schoppen. Erst ist es noch Muttermilch. Wenn sie mit 4 Wochen in den Mastbetrieb kommen, besteht ihr Schoppen aus industriell hergestelltem Milchpulver, gemischt mit immunstärkenden Medikamenten. Oft braucht es auch den Einsatz von Antibiotika.
Damit eine Milchkuh Milch geben kann, muss sie im Schnitt jährlich ein Kalb zur Welt bringen. Die Milch der Milchkuh wird gemolken und landet in den Regalen der Grossverteiler.
Lukas Jost und seine Eltern halten ihre Milchkühe anders. Sie und – laut der Fachstelle Muka – 22 andere Höfe in der Schweiz betreiben eine muttergebundene Kälberaufzucht, auch Mutter-Kalb-Haltung (Muka) genannt. Das heisst, die Kälber bleiben nach der Geburt bei ihrer Mutter und saugen die Milch aus dem Euter. Was übrig bleibt, melkt und verkauft der Bauer einerseits im Milchautomat auf dem Hof. Der Absatz pendle und sei unvorhersehbar. Den Grossteil der Milch verkaufen Josts dem Grosshandel und erhalten dafür – wie für jede andere konventionelle Milch – 68 Rappen pro Liter.
Die Mutter-Kalb-Haltung ist nicht zu verwechseln mit der Mutterkuhhaltung. Diese wird in der Kalb- und Rindfleischproduktion seit den 1970er Jahren praktiziert. Auch hier darf das Kalb nach der Geburt bei der Mutter bleiben, trinkt die Muttermilch ab Euter und frisst Heu und Gras. Allerdings wird die Mutterkuh gar nicht gemolken. Mutterkuhhaltung dient nur der Fleischproduktion. 6'000 Mitglieder zählt der Mutterkuh Verband Schweiz, das sind 15 Prozent der Rindviehbauern.
Die Kälber seien durch den Kontakt mit der Mutter und das Trinken der Muttermilch vitaler und gesünder. Josts müssen den Kleinen weniger Antibiotika verabreichen als früher. Auch kommen sie nicht nach vier Wochen in einen Mastbetrieb, sondern bleiben auf dem Hof, bis sie mit zirka fünf Monaten geschlachtet werden.
Muka-Landwirt*innen erhalten für ihre Milch weder mehr Subventionen vom Staat noch mehr Geld von den Grossverteilern. Auch wenn sie mit der Haltung bis zu 40 Prozent weniger Milch verkaufen.
Nasenring zum Abgewöhnen
Lukas Jost hat 2021 auf die muttergebundene Kälberaufzucht umgestellt. Kurz zuvor hatte er davon in der Zeitung gelesen. Diese Haltung ist noch nicht lange legal. Erst durch eine Motion der Schaffhauser Nationalrätin Martina Munz (SP) wurde die Vermarktung von Milch, die gleichzeitig auch vom Kalb getrunken wird, 2020 im Gesetz verankert.
Die Trennung direkt nach der Geburt kann bei Kalb und Kuh zu Stress führen. Für Lukas Jost war es herzzerreissend, wenn die Mutterkühe nach ihrem Kalb brüllten, nachdem sie nach der Geburt von ihm getrennt worden waren. Seit er auf Muka umgestellt habe, passiere das kaum noch.
Auf der Weide tragen ältere Kälber einen Ring in der Nase. So können die Kälber keine Milch mehr saugen. Gleichzeitig habe die Mutterkuh das Gefühl, dass das Kalb nicht mehr trinken wolle, erklärt Jost. Zu diesem Zeitpunkt sind die Kälber schon über vier Monate alt.
«Es sieht brutaler aus, als es ist», sagt der Milchbauer. Das Kalb habe keine Schmerzen vom Ring in der Nase. Der Ring dient dazu, dass Jost die Kälber vom Milchtrinken abgewöhnen und später von den Müttern trennen kann. Es ist eine sanfte Methode, die verhindert, dass die Kuh nach der Trennung nach ihrem Kalb ruft und umgekehrt.
Land-Wirtschaft
«Da drüben steht Svenja», sagt Lukas Jost und zeigt auf eine der rot-weiss-gefleckten Kühe. Sie habe eine schwierige Geburt gehabt: Zwillinge – beide haben nicht überlebt. «Es war eine Steissgeburt», erzählt der Bauer und erklärt: «Kälber sollten eigentlich mit den Vorderbeinen voran auf die Welt kommen.» Die dreieinhalb Jahre alte Svenja hinkt stark. Sie konnte, nachdem die toten Kälber auf der Welt waren, ein paar Tage nicht aufstehen. Jost hat ihr auf der Weide, wo die Geburt stattfand, einen Sonnenschirm und einen Ventilator eingerichtet, bis er sie mit dem Traktor zurück in den Stall transportieren konnte.
Lukas Jost kramt sein Handy hervor und geht auf Instagram. Hier lässt er seine Follower*innen täglich am Alltag auf dem Hof teilhaben. Auch Svenjas Schwierigkeiten hat er festgehalten. Wahrscheinlich müsse er die verletzte Kuh bald auf dem Schlachthof verabschieden, sagt Jost. Das tue ihm weh.
Jost übt einen Spagat zwischen wirtschaftlichen Überlegungen und dem Tierwohl. In den nächsten Tagen nimmt er die alte Kuh einer Freundin auf, die ihm wirtschaftlich gesehen nichts bringt. Solche Taten sind ihm wichtig. Trotzdem müssen er und seine Eltern mit dem Hof auch genug erwirtschaften.
Der Bauer zeigt auf die verschiedenen Kälber auf der Weide. Sie unterscheiden sich nicht nur in ihrer Farbe, sondern auch in Statur. Kälber mit einem «eckigeren» Hintern werden Milchkühe. «Die behalte ich», sagt Jost. Kälber mit «runderen» Hintern, also mit mehr Fleisch am Knochen, verkaufe er oder lasse er schlachten.
Mit der muttergebundenen Kälberaufzucht schreibt der Bauer einen Verlust von zirka 40 Prozent Milchgeld im Jahr. Das fehlende Geld versucht Jost mit anderen wirtschaftlichen Zweigen zu kompensieren. Für sechs Monate wird er nun finanziell vom Muka Förderverein unterstützt. Der Zustupf kompensiert die finanziellen Einbussen, die in einem Jahr durch die Haltung zu Stande kommen. Danach ist er wie zuvor auf sich allein gestellt und muss den Verlust selbst ausgleichen.
Direktverkauf
Einen Teil des eigenen Kalbfleischs verkaufen die Josts direkt ab Hof. Die Kund*innen stehen an den Verkaufstagen Schlange, erzählt Lukas Jost. Er hat deshalb ein Ticketsystem eingeführt, damit die Ersten, die ankommen, auch als erstes Fleisch kaufen können.
Der Fleischdirektverkauf lohnt sich für den Bauernhof, weil sein Kalbfleisch nicht immer den vorgegebenen Normen entspricht, die der Grosshandel hat. Der Schweizer Fleisch-Fachverband legt für Kälber zum Beispiel fest, dass sie bis 160 Tage alt werden und 200 bis 240 Kilogramm Lebendgewicht wiegen dürfen. Im Grosshandel sind diese Vorschriften teilweise strenger. Auch die Farbe des Fleisches ist reglementiert.
Mit dem Fleisch, das Josts dem Grosshandel verkaufen, können sie Abzug in der Bezahlung erhalten. Manchmal ist ihr Kalbfleisch röter als das Handelsübliche. Das liegt daran, dass Josts Kälber mit der Herde mitlaufen und unter anderem auch Gras fressen können. Und: «Milchkühe geben mehr Milch als Mastkühe, weshalb unsere Kälber schneller an Gewicht zulegen», sagt Lukas Jost. Es kann passieren, dass die Kälber bereits mit vier Monaten 240 Kilogramm wiegen, also das Schlachtgewicht, das sie erst mit fünf Monaten haben könnten, wenn sie gemäss Vorschrift spätestens geschlachtet werden sollen.
Diese Kälber versucht Jost direkt zu vermarkten statt dem Grosshandel zu verkaufen. Seinen Kund*innen sei egal, ob das Fleisch röter, die Tiere schwerer oder etwas länger gelebt haben, sagt Lukas Jost.
Weihnachtsbäume und Schnaps
Der Hof ist IP Suisse zertifiziert. Josts bauen auch Futter für die Kühe, Äpfel, Zwetschgen, Birnen und Weihnachtsbäume an. Auch das verkaufen sie auf dem Hof – unter anderem in Form von Süssmost oder Schnaps. Es sei ein prächtiges Obstjahr gewesen, sagt der Bauer.
Etwas später, als wir den Instagram-Account nochmal anschauen, entdeckt der Fotograf, dass eine Bekannte von ihm dem Hof folgt. Er schreibt ihr und kurz darauf fragt sie: «Wie geht es Svenja?»