Wie wir uns etwas näherkommen
In seiner letzten Kolumne fragt sich unser Hauptstadt-Philosoph, warum wir eigentlich so wenig miteinander reden. Und wie man das ändern könnte.
Wir reden wenig miteinander. Zu wenig, wie mir vorkommt. Ich meine nicht die Gespräche, die mit unseren Freund*innen, in unseren Familien oder bei der Arbeit führen. Es geht mir um Gespräche mit Fremden. Mit den Menschen, die uns im Bus gegenübersitzen, die uns nach dem Weg zum Bahnhof fragen oder die mit uns in der Supermarktschlange warten.
Eine Zeit lang habe ich vermutet, dass das eine Berner Eigenheit sein könnte. Die Stille in Bern. Die gesenkten Blicke. Die mürrischen Mundwinkel. Was die grosse brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector meinte, als sie in den 40er-Jahren hier gelebt hat und schrieb: «Bern ist traurig, extrem schweigsam, hat nur Kinos.»
Keine Berner Eigenheit
Unsere Stadt ist tatsächlich schroffer als manche andere Städte. Aber es wird auch anderswo zunehmend geschwiegen und aneinander vorbeigeschaut. Nicht nur in der Schweiz und nicht nur an Orten, die von protestantischer Kultur geprägt sind, der man eine gewisse zwischenmenschliche Zurückhaltung nachsagt.
Es liegt deshalb nahe, die Ursache für das Phänomen woanders zu suchen. Zum Beispiel bei der immer weiter fortschreitenden Digitalisierung. Immerhin schauen die meisten Menschen in der Öffentlichkeit nicht nur aneinander vorbei, sondern auf die Bildschirme ihrer Smartphones.
Das gab es schon in den 60ern!
Technischer Fortschritt hat schon immer das Potential gehabt, soziale Verhältnisse zu verändern, und das nicht immer zum Guten. Der Politikwissenschaftler Robert D. Putnam hat in seinem Buch «Bowling Alone» einen Rückgang des zivilgesellschaftlichen Engagements in den USA seit etwa der Mitte der 60er-Jahre konstatiert.
Putnams Erklärung für diesen Trend? Die flächendeckende Verbreitung von Fernsehgeräten in Privathaushalten: Wo man früher draussen vor der Tür herumstand und sich aus Langeweile mit anderen unterhalten hat, sind die Menschen nach und nach in ihre Wohnzimmer verschwunden. Auf diese Weise werden Fremde noch fremder.
Vergleicht man Smartphones mit Fernsehgeräten, fällt sofort auf, dass sie einen ganz ähnlichen Effekt haben können – nur dramatisch potenziert. Fernsehen kann man noch mit anderen Menschen, mit unseren Smartphones sind wir meist allein. Zudem sind die Mechanismen, die zur sozialen Vereinsamung in der echten Welt beitragen, im digitalen Bereich um einiges effektiver.
Small Talk als Belästigung?
Wichtig ist allerdings, dass wir es selbst in der Hand haben, diese Situation zu verändern, wenn wir davon überzeugt sind, dass sich das lohnt. Was hindert uns eigentlich daran, öfter mit Fremden zu reden?
In vielen Fällen sprechen wir Personen, die wir nicht kennen, nicht an, weil wir Angst haben, sie zu belästigen. Man will sich nicht in das Leben anderer Leute einmischen. Jede*r soll sich doch um das eigene Leben kümmern, denken wir dann.
Nicht jedes Gespräch ist aber damit gleichzusetzen, dass man sich in das Leben anderer Leute einmischt. Und nicht alle Menschen empfinden Small Talk als Belästigung. Es ist völlig legitim, keine Gespräche mit Fremden führen zu wollen, es gibt aber kein Recht darauf, nicht angesprochen zu werden.
Ich bin nicht der Typ dafür…
Es braucht manchmal einige Überwindung, einfach so eine andere Person anzusprechen. Ich bin nicht der Typ für sowas, denken wir dann oft. Bis auf wenige Ausnahmen ist das aber nur eine Frage der Übung. Auch ich dachte jahrelang, dass ich nicht der Typ für Gespräche mit Fremden bin. Es hat mich regelrecht gestresst, wenn mich jemand im Bus angesprochen hat.
Ich bin diese Hemmung nur dadurch losgeworden, dass ich – aus welchen Gründen auch immer – einfach angefangen habe, mich mit Fremden zu unterhalten, so holperig die Gespräche zu Beginn auch sein mochten. Was mir anfangs wie eine Qual vorkam, wurde mit der Zeit leichter und leichter.
Aber worüber soll man denn reden mit Leuten, die man nicht kennt, wird man an dieser Stelle fragen. Man braucht doch irgendeinen geteilten Horizont, um sinnvoll miteinander zu reden. Sind solche Gespräche unter Fremden nicht immer nur völlig belanglos und banal? Welchen Sinn hat es, über das sprichwörtliche Wetter zu plaudern?
Gute Gespräche über das Wetter?
Die knappe Antwort auf diese Frage lautet: Manchmal kann auch ein Gespräch über das Wetter Wert haben; es kommt darauf an, wie man darüber redet. Ich habe anfangs behauptet, dass es mir viel zu selten passiert, mit Menschen auf der Strasse ins Gespräch zu kommen. Es gibt aber eine Ausnahme: Ältere Menschen. Sie kriegen die Gratwanderung zwischen Oberflächlichkeit und Aufdringlichkeit irgendwie noch besser hin, finde ich.
Wenn ich dann mit älteren Berner*innen vor dem Supermarkt oder beim Bäcker plaudere, dann geht es manchmal auch um das Wetter. Ich frage, ob sie sich auf den Frühling freuen und hole mir Ratschläge ab, wie man regennasse Schuhe schnell trocknet.
Das sind keine weltbewegenden Themen. Aber sie stellen Ausgangspunkte dar, um über anderes zu reden. Und wenn man in so einem Gespräch authentisch und offen bleibt, erhält man interessante kleine Einblicke in das Leben der Person, mit der man es gerade zu tun hat.
Natürlich gibt es aber nicht nur das Wetter als Thema. Worüber man mit jemandem «schnackt», wie man in meiner Bremer Heimat zum Small Talk sagt, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Es hilft aber, wenn das Thema mit Dingen zu tun hat, die man selbst interessant findet.
Eine Themenliste im Hinterkopf
Und weil das alles eine Übungssache ist, kann es nicht schaden, sich im Vorfeld Gedanken darüber zu machen, worüber man mit Fremden reden könnte. Ich selbst überlege mir das oft beim Velofahren: Was interessiert mich und ist so unpersönlich, dass ich auch mit einer fremden Person darüber reden könnte? Gerade ist es das Gemüsebeet, das wir dieses Jahr gemietet haben.
Man kann aber auch über andere, weniger banale Dinge reden. Das hängt davon ab, wie geschmeidig man das Thema wechseln kann und wie aufmerksam man darauf hört, was die andere Person einem sagt. Ich habe mit wildfremden Menschen über den Krieg in der Ukraine, Kindererziehung oder kulturelle Aneignung geredet und dabei viel gelernt. Auch wenn wir nur drei, vier Minuten Zeit miteinander verbracht haben.
Das alles mag trivial klingen. Gerade so, als würde ich einem Roboter erklären, wie man menschliche Konversation macht. Aber ich würde nicht darüber schreiben, wenn ich nicht den Eindruck hätte, dass wir uns teilweise tatsächlich in die Position von solchen gesellschaftlichen Robotern haben bringen lassen, die nicht mehr auf natürliche Weise miteinander interagieren können. Auch ich, auch Menschen, mit denen ich befreundet bin.
Unser demokratisches Miteinander
Warum sollte das aber überhaupt schlimm sein? Haben wir alle nicht mehr als genug mit unserem beruflichen und privaten Leben zu tun? Haben wir nicht alle keine Zeit für so etwas? Warum sollten wir uns die Mühe machen, auf Fremde zuzugehen, nur um mit ihnen dreieinhalb Minuten darüber zu reden, wie man Gurken züchtet?
Weil das, was man durch diese kleinen, scheinbar banalen Gespräche gewinnt, von zentraler Bedeutung für unser demokratisches Miteinander ist. Es geht um etwas, das sehr schwer zu fassen ist: Das Gefühl für die Realität der Menschen, die wir nicht persönlich kennen, die aber unsere Mitbürger*innen sind.
Wann immer ich ein nettes kleines Gespräch mit einer fremden Person geführt habe, fühle ich mich wie ein Mensch unter Menschen. Die anderen Leute kommen mir weniger abstrakt vor. Auch wenn ich es schon immer intellektuell verstanden habe, habe ich plötzlich ein sehr unmittelbares Gefühl dafür, dass um mich herum und mit mir zusammen andere Menschen leben, die eine eigene Perspektive, eigene Wünsche und Hoffnungen haben und ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen vom Guten zu gestalten versuchen.
Gegen soziale Isolation
Das zu fühlen, schafft Nähe. Das heisst nicht, dass man die Menschen, denen man auf diese flüchtige Weise begegnet, besonders mag oder gar mit ihren Ansichten einverstanden ist. Diese Nähe macht es aber schwieriger, in demokratischen Entscheidungsprozessen so zu tun, als gäbe es andere Perspektiven gar nicht oder als würden sie nicht zählen.
Deshalb glaube ich, dass der kleine Plausch vor dem Supermarkt wichtig ist. Und weil wir soziale Wesen sind, glaube ich auch, dass er uns glücklich machen kann. Umso mehr freut mich, dass der Stadtrat ein Pilotprojekt initiiert hat, das genau dieses Ziel hat: An 21 Standorten findet man in Bern neu «Plauder-Bänkli», die eigens dazu gedacht sind, Begegnungen in der Öffentlichkeit zu befördern, um sozialer Isolation zu begegnen.
Lokaljournalismus schafft Nähe
Als ich angefangen habe, diese Kolumnen zu schreiben, habe ich das aus der Motivation getan, etwas gegen den Verlust von Bürger*innen-Nähe zu tun. Und gedacht, dass der Lokaljournalismus der Hauptstadt-Redaktion eine von verschiedenen Möglichkeiten sein könnte, diese Nähe wiederherzustellen.
Darin habe ich mich nicht getäuscht. Die Arbeit der Redaktion lässt uns ein wenig näher rücken, finde ich, und ich bin froh, dass ich dabei helfen konnte.
In den letzten drei Jahren haben mich viele Menschen wegen der Kolumnen angesprochen. Manchmal ergab sich daraus ein längeres Gespräch. Das hat Nähe geschaffen und mich glücklich gemacht. Jetzt, da ich diese letzte Kolumne schreibe, merke ich, wie sehr mir das fehlen wird.
Solltest du mich irgendwo in Bern sehen, dann sprich mich doch an. Vielleicht werden wir dreieinhalb Minuten Zeit füreinander haben, um über Gurken oder die Krise der Demokratie zu reden. Ich würde mich freuen.
Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit über 15 Jahren in Bern.