«Kreislaufwirtschaft ist das einzig zukunftsfähige Geschäftsmodell»
Schweizer*innen rezyklieren zu wenig Plastik. Das soll sich künftig ändern, doch macht Kunststoff-Recycling überhaupt Sinn? Zu Besuch bei Branchenexperte Patrick Semadeni in Ostermundigen.
Wo steht die Schweiz aktuell beim Plastik-Recycling? Patrick Semadeni antwortet mit einem Bild: «Es ist halb Zehn an einem schönen Morgen.» Man sei zwar gut unterwegs, befinde sich aber immer noch am Anfang. Und es sei gut möglich, dass noch ein Sturm oder Gewitter aufziehe.
Semadeni, grau meliertes Haar, schreitet in Fairtrade-Sneakers durch die Fabrikhalle. Seine gleichnamige Firma in Ostermundigen stellt Plastikprodukte her, unter anderem Behälter für Arzneimittel. Die Semadeni Plastics Group beschäftigt 200 Mitarbeitende an sieben Standorten, neben der Schweiz in Österreich, Deutschland und Kroatien. Patrick Semadeni sitzt ausserdem im Vorstand des Schweizer Kunststoffverbands und kümmert sich um das Thema Nachhaltigkeit.
Kunststoff-Recycling ist neuerdings in vielen Berner Haushalten ein Thema. Seit einem halben Jahr wird in ein paar Dutzend Gemeinden das von privaten Partnern entwickelte Sammelsacksystem «Bring Plastic back» angewendet. Man sammelt Joghurtbecher, Shampooflaschen und Fruchtsaftbeutel zu Hause in einem separaten Bezahlsack. Die Rolle mit zehn Säcken à 35 Liter kostet durchschnittlich 19 Franken, die Säcke deponiert man anschliessend in speziell aufgestellten Containern, von wo aus sie dem Recycling zugeführt werden.
Angesichts des sich schockierend schnell füllenden Sammelsacks stellt sich die Frage: Macht das aufwändige Plastik-Recycling überhaupt Sinn? Wäre es nicht besser, Plastik zu vermeiden?
Zweischneidiges Schwert
Patrick Semadeni, dessen Geschäftsmodell vom Absatz von Kunststoffen abhängt, gewinnt der Vermeidungsstrategie erstaunlich viel ab: Plastik sei zwar ein vielseitig einsetzbarer Werkstoff, sagt er, «aber nur dort sinnvoll, wo es sich auch ökologisch rechtfertigen lässt». Aufgeblasene Kunststoff-Verpackungen, die ein Produkt grösser oder schöner aussehen lassen, als es wirklich ist, seien wenig sinnvoll, sagt Semadeni.
Als Verpackungsmaterial für verderbliche Nahrungsmittel hingegen sei Plastik genial und verhindere viel Food-Waste. Gurken zum Beispiel nicht mehr in Plastik einzuschweissen «macht absolut keinen Sinn», sagt Semadeni, «weil diese dann fünfmal weniger lang haltbar sind.» Der CO2-Ausstoss der Verpackung mache nur drei Prozent der Treibhausgas-Emissionen aus, die bei Produktion und Transport der Gurken anfallen. Die Gurken verderben zu lassen, wäre aus ökologischer Perspektive fahrlässig, findet Semadeni.
Was konkret tun, Herr Semadeni? «Wir müssen Plastik reduzieren oder vermeiden, wenn es Sinn macht. Das heisst dort, wo andere Designs oder Materialien eine bessere Umweltbilanz aufweisen und keine technischen Gründe dagegen sprechen», sagt der Geschäftsführer. «Und dort, wo wir Plastik einsetzen, muss es wiederverwertbares Material sein, Teil einer Kreislaufwirtschaft.» Mit anderen Worten: «Recycling ist ein wichtiger Bestandteil. Ebenso Mehrweglösungen anstelle von Einweg.» Dafür setzt sich Semadeni ein. In seinem Betrieb. In Bundesbern. Aber auch auf EU-Ebene in Brüssel.
Allerdings ist das Dossier kompliziert.
Vorbild PET-Recycling
Wie die Schweiz aktuell mit Plastikabfall umgeht, ist nicht besonders nachhaltig. Die Recyclingquote liegt laut Expert*innen bei unter zehn Prozent. Zum Vergleich: Deutschland erreicht eine Quote von rund 60 Prozent und die EU hat sich das Ziel gesetzt, bis 2030 eine Quote von 55 Prozent zu erreichen.
Deshalb soll in der Schweiz eine Kreislaufwirtschaft für Kunststoffe aufgebaut werden – nach dem Vorbild von PET-Flaschen, bei denen eine Recyclingquote von 82 Prozent erreicht wird.
Tonangebend ist dabei der Dachverband der Schweizer Recycling-Organisationen «Swiss Recycling». Er hat sich zum Ziel gesetzt, ein «kundenfreundliches, schweizweit koordiniertes Recycling-System für Kunststoff-Verpackungen und Getränkekartons» zu etablieren – auch Patrick Semadeni plädiert für diese Lösung. Er nutzt dafür sein breites Netzwerk bis in die Politik und Verwaltung.
Welches System setzt sich durch?
Bis das Projekt «Sammlung 2025» Realität ist, kann es aber noch dauern. Vor Ende des laufenden Jahres sollen zumindest die Voraussetzungen geklärt sein, dann könne mit dem Aufbau begonnen werden, teilt Swiss Recycling auf Anfrage mit. Dabei werden auch die Hersteller von Plastik stärker in die Pflicht genommen und der Einsatz des Kunststoffs soll effizienter werden: Plastikprodukte müssen länger halten und die Rezyklierbarkeit bereits im Produktdesign angelegt werden.
In der Schweiz hat die öffentliche Hand das Monopol auf den Siedlungsabfall – es wird wiederum an die Kantone und Gemeinden weiter delegiert. Die Kantone wollen eine verlässliche Abfallplanung organisieren und ihre Entsorgungskapazitäten auslasten. Der Bund möchte die Sicherheit haben, dass auch tatsächlich alle Abfälle entsorgt werden, und nicht nur dort, wo es rentabel ist. Jedes private Sammelsystem muss diese Bedingungen für eine regelmässige und zuverlässige Sammlung erfüllen.
Eines dieser Systeme ist «Bring Plastic back».
Entwickelt wurde die Lösung von der Entsorgungsfirma AVAG Umwelt AG gemeinsam mit Berner Gemeinden, Partnern und der Kunststoffverwerterin InnoRecycling AG. Das Vorhaben wird zudem vom Amt für Wasser und Abfall (AWA) des Kantons Bern unterstützt.
«Bring Plastic back» auch in der Stadt?
Einen anderen Weg hat die Stadt Bern eingeschlagen: Die Stimmberechtigten haben im November 2021 die Einführung des Farbsack-Trennsystems gutgeheissen. In diesem System ist auch ein Sack für die «gemischte Kunststoffsammlung» vorgesehen. Vorgesehen, denn bis heute ist das Trennsystem nicht eingeführt worden.
Im Februar dieses Jahres kommunizierte die Stadt einen «Marschhalt»: Zu gross seien die Unsicherheiten im Baurecht und bei den Containern gebe es «Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum». Diese Probleme konnten seither noch nicht behoben werden, weshalb das Trennsystem-Projekt in der Schwebe ist. Sogar eine Teilnahme am Sammelsystem «Bring Plastic back» schliesse die Stadt mittlerweile nicht mehr aus, wie es auf Anfrage heisst.
Akutell entsorgen die Einwohner*innen der Stadt Bern ihren Plastik-Müll noch in den blauen Gebührensäcken. Analysen hätten ergeben, dass Kunststoff rund 10 Prozent des gesamten auf diese Weise entsorgten Kehrrichts ausmache, teilt die Stadt mit.
Was bringen Recycling-Lösungen?
Das deckt sich ungefähr mit nationalen Zahlen. Pro Kopf und Jahr verursachen Schweizer*innen 703 Kilogramm Siedlungsabfall, davon sind 13 Prozent reiner Kunststoff. Jede Schweizerin und jeder Schweizer häuft pro Jahr rund 90 Kilogramm Plastikmüll an. Mit entsprechender Umweltbilanz: Für die Herstellung eines Kilogramms Plastiks sind drei Liter Erdöl nötig. Kommt hinzu, dass durch Littering und Abrieb – zum Beispiel von Autoreifen – 14’000 Tonnen Mikroplastik in die Umwelt gelangen.
Anderseits benötigt auch das Recycling Energie.
Kommt hinzu: Wegen zu geringer Sammelmengen lässt sich in der Schweiz bis jetzt keine Sortieranlage betreiben. Also werden die von «Bring Plastic Back» gesammelten Kunststoffe zum Sortieren nach Österreich gefahren und dann zurück in die Ostschweiz, wo man sie zu Granulat verarbeitet, aus dem etwa Plastikhüllen für Kabel entstehen.
Der Umweltverband Greenpeace stellt das Plastik-Recycling sogar grundsätzlich in Frage: Recyceln fördere die Plastikproduktion und zementiere schädliches Konsumverhalten. Greenpeace rechnet vor, dass eine Person in der Schweiz, die ein Jahr lang 70 Prozent ihres Plastikabfalls separat sammelt, damit einen ökologischen Nutzen erzielt, der dem Verzicht auf ein einziges Rindsentrecôte entspricht.
Der Umweltverband schlägt deshalb vor, Abgaben auf Plastikverpackungen einzuführen, die einen Anreiz schaffen, Verpackungen zu vermeiden. Auch in einer stabilen Mehrweg-Infrastruktur sieht Greenpeace eine Lösung, insgesamt weniger Plastik einzusetzen.
Fernziel Kreislaufwirtschaft
Sehr weit weg von Patrick Semadenis Vision ist diese Position nicht. «Kreislaufwirtschaft ist das einzige zukunftsfähige Geschäftsmodell», sagt er. Wie sinnvoll Recycling ist, hänge entscheidend von der eingesetzten Technologie ab, sagt er. Im Prinzip müsse die Recyclingfähigkeit bereits bei der Konzeption der Verpackung mitgedacht werden.
In dieser Hinsicht bewege sich gerade viel. Die EU sei daran, eine neue Verpackungsverordnung zu erlassen, in der auch Guidelines formuliert werden, die das künftige Recycling im Design von Verpackungen vorschreiben. Wie ein solcher Kreislauf konkret aussehen könnte, hat Semadeni in einem Projekt mit Coop ausprobiert: Gesammelte Kunststoff-Kanister werden zu einem Granulat verarbeitet, aus dem wiederum für Coop Spülmittelverpackungen hergestellt werden.
Die Sache mit der Fernwärme
Warum eigentlich ist die Schweiz beim Recycling so weit im Rückstand? «Noch bis vor kurzem», sagt Semadeni, «galt die thermische Verwertung von Plastik in den Kehrichtverwertungsanlagen als Königsweg.»
Die KVA wie zum Beispiel die Energiezentrale Forsthaus von Energie Wasser Bern (ewb) sind auf genügend Brennstoff angewiesen, weil sie Fernwärmenetze versorgen, mit denen in Agglomerationen die Energiewende von Öl-Heizungen zu ökologischer Wärmegewinnung realisiert werden soll. Deshalb besteht ein Zielkonflikt zwischen Abfallreduktion und ökologischem Umbau der Wärmeversorgung. Und deshalb habe sich in der Schweiz noch keine Kultur des Plastik-Sammelns etabliert. Inzwischen habe sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, sagt Experte Semadeni, dass die Klimakrise die Kunststoff-Verwertung mittels Verbrennung nicht mehr zulasse.
Es ist halb Zehn. Schönes Wetter. Patrick Semadeni ist optimistisch.