Poschi fahren – Hauptstadt-Brief #326
Dienstag, 4. Juni 2024 – die Themen: Kehrsatz; Superblocks; Grosser Rat; Pflegeinitiative; Tierpark-Gastro; Präsident SIG; Hauptsachen-Talk; Gastro in Kehrsatz.
Die Veloständer beim Schulhaus Selhofen in Kehrsatz sind praktisch leer. Dabei ist Montagmorgen, grosse Pause, der Schulhof voll mit lachenden und lärmenden Kindern. Selhofen liegt ein bisschen unterhalb des Dorfes, gleich neben üppig wachsenden Spargelfeldern.
Wer oben im Dorf wohnt, am Gurten-Hügel oder in den Hängelen-Blöcken, der oder die muss täglich rund 100 Höhenmeter runter zur Schule. Und auch wieder rauf. Auf einer Wanderung sind 100 Höhenmeter nicht sehr viel. Allerdings kann ich mir vorstellen, dass sie ein Schulkind mit der Zeit recht nerven können.
Zu seiner Zeit habe man das Velo genommen, sagt der Kehrsatzer FDP-Gemeinderat René Walker, der mich durchs Dorf führt. Und fügt augenzwinkernd hinzu: Je weiter oben man gewohnt habe, desto sportlicher sei man gewesen. Heute seien Elterntaxis in Kehrsatz ein immer wieder diskutiertes Thema.
Was mich aber erstaunt: Offenbar fährt ein grosser Teil der Kinder mit dem Postauto zur Schule. Ganze vier Poschihaltestellen gibt es im 4500-Seelen-Dorf, zu den Stosszeiten morgens und abends fährt das Poschi jede halbe Stunde.
Die 100 Höhenmeter werden so zum Klacks. Oder fast. Denn einen Bremsklotz gibt es noch. Die Bahnschranke an der Bernstrasse. Alle, die irgendwie durch Kehrsatz wollen, müssen an ihr vorbei. Egal ob zu Fuss, auf dem Velo, im Auto, im Poschi.
Die Barriere ist, so wird es in Kehrsatz erzählt, 35 Minuten in der Stunde geschlossen.
Ob das auch als Ausrede zählt, wenn man zu spät zur Schule kommt?
Und das möchte ich dir mit in den Tag geben:
- Raumplanung: Die Stadt Bern testet sogenannte «Superblocks». Das sind Areale, auf denen der motorisierte Verkehr aussen herum fliesst. Im Inneren haben Fuss- und Veloverkehr Priorität, es hat Platz für unterschiedliche Nutzungen und Flächen können entsiegelt und begrünt werden. Das Konzept stammt aus Barcelona. Angeregt von einer Motion aus dem Stadtrat hat der Gemeinderat nun einen Kredit von 295’000 Franken gesprochen. Damit will er ab diesem Herbst mit einem Pilotversuch im Murifeldquartier herausfinden, wie ein Berner Superblock aussehen könnte. Die Quartierbewohner*innen und das Gewerbe können mitentscheiden, wie sie den Superblock nutzen und gestalten wollen.
- Kantonspolitik: Der Grosse Rat hat fünf neue Mitglieder. Sie sind gestern zu Beginn der Sommersession vereidigt worden. Adrian Spahr (SVP/Lengnau) tritt die Nachfolge seiner Parteikollegin Christine Gerber an. Daniel Studer (SP/Meiringen) und Daniel Wildhaber (SP/Rubigen) folgen auf Urs Graf und Luc Mentha. Bei den Grünen tritt Regula Bühlmann (Bern) für Hasim Sancar in den Rat ein. Der Grünliberale Roland Lüthi (Moosseedorf) ersetzt Barbara Stucki. Mit 156 von 157 möglichen Stimmen zur Grossratspräsidentin gewählt wurde die Grüne Dominique Bühler aus Köniz.*
- Pflegeinitiative: Bei der Umsetzung der Pflegeinitiative will der Kanton Bern Quer- und Späteinsteigenden mehr Lohn bezahlen. Das klingt erst einmal gut. Meine Kollegin Céline Rüttimann, die selbst in der Pflege arbeitet, hat sich aber bei Pflegestudierenden und Gesundheitspolitiker*innen umgehört. Dort ist der Tenor eindeutig: Nötig wäre eine generelle Erhöhung des viel zu tiefen Ausbildungslohnes. Hier geht es zur Reportage, in der für einmal auch die jungen Pflegenden zu Wort kommen.
- Essen beim Tierpark: Die Terrasse des Tierpark-Restaurants beim Dählhölzli ist leer, seit das Gebäude saniert wird. Das soll sich aber laut BZ/Bund (Abo) nun bald ändern. Über den Sommer wird die Zwischennutzung «Dschungu» aus Containern Essen und Trinken anbieten. Am Projekt sind mehrere Gastrounternehmen beteiligt, es soll unter anderem Pasta, vegane Hotdogs und Pommes-Frites geben. Den Lead beim Projekt hat Mark Hayoz vom Restaurant Zoe. Im Sommer 2025 ist die Wiedereröffnung des sanierten Restaurants geplant.
- Neuer Präsident: Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) hat am Sonntag an seiner Delegiertenversammlung den Berner Ralph Friedländer zum Präsidenten gewählt. Der pensionierte 65-Jährige war vorher als Kader mit Diplomatenpass und Verhandlungsspezialist bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA tätig. In seiner Rede nach der Wahl kündigte er an, weiterhin den Dialog des SIG nach innen und nach aussen, sowie die Ausweitung des interreligiösen Dialogs und die Einführung einer nationalen Antisemitismusstrategie zu verfolgen.
- Gemeinderat Kehrsatz: Am 20. Oktober finden in Kehrsatz Wahlen statt. 3 von 5 Gemeinderät*innen treten nicht mehr an, darunter auch Gemeindepräsidentin Katharina Annen (FDP). Nachdem ein neu formiertes Bündnis «Kehrsatz Links der Mitte» bereits vor einigen Wochen angekündigt hat, dass es aufs Gemeindepräsidium schielt, hat nun auch die FDP mitgeteilt, eine Listenverbindung einzugehen. Und zwar mit der in Kehrsatz neu formierten Mitte. Fürs Gemeindepräsidium, das erst fünf Wochen später gewählt wird, werden FDP und Mitte gemeinsam mit der SVP eine geeignete Kandidatur suchen.
- Stadtlandwirtschaft: Übermorgen Donnerstag (6.6.) laden wir zum nächsten Hauptsachen-Talk (19.30 Uhr, Aula im Progr). Es geht um das Thema Landwirtschaft und wie der Graben zwischen Konsument*innen in der Stadt und Produzent*innen auf dem Land zugeschüttet werden könnte. Obwohl: Gibt es diesen Graben überhaupt? Ich als Landbewohnerin mit einer durchaus städtischen Einstellung bin da gar nicht so sicher. Aber komm doch selber und hör zu, wir würden uns freuen!
PS: Gleich neben der Barriere, die 35 Minuten in der Stunde geschlossen ist, befindet sich in Kehrsatz das Ristorante Brunello. Und weil Gastrokritiken in unseren Aussenwochen schon Tradition haben, testeten wir es natürlich aus. Mein Kollege Linus Küng schwärmt von der grossen Pizza und dem Dessert aufs Haus. Mir hat es die Playlist mit Adriano Celentano angetan.
* In einer ersten Version stand fälschlicherweise, dass die neue Grossratspräsidentin Dominique Bühlmann heisst. Korrekt ist Dominique Bühler. Wir haben den Fehler korrigiert.