Kollektiv in der Krise

Die «Hauptstadt» hat mit der Reitschule über die Hintergründe ihrer temporären Schliessung gesprochen. Das grösste Problem des Kollektivs sind die fehlenden Gäste.

Reitschule temporaer geschlossen fotografiert am Samstag, 11. Januar 2025 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
«So kann es nicht mehr weitergehen»: Simon, Michel und Lou vom Reitschul-Kollektiv sprechen über die belastende Situation und über ausbleibende Besuchende. (Bild: Simon Boschi)

Es ist später Samstagnachmittag und klirrend kalt. Lou, Simon und Michel posieren im verwaisten Innenhof der Reitschule fürs Foto, dann düst Lou gleich wieder davon – parallel zum Interviewtermin mit der «Hauptstadt» leitet sie ein schweizweites Vernetzungstreffen von Kulturorten, zu welchem die Reitschule eingeladen hat.

Steile Holztreppen führen in die oberen Geschosse des Gebäudes, vorbei an etwa dreissig Personen, die gerade still und konzentriert an einem Workshop teilnehmen. Michel und Simon gehören zur Mediengruppe der Reitschule und setzen sich an einen langen Beizentisch im Dachgeschoss. Den vordersten Stuhl lassen sie frei für Lou, die ab und zu mit den Worten «Braucht ihr mich noch? – Ich hätte jetzt schnell Zeit» ins Zimmer rauscht, sich kurz am Gespräch beteiligt und dann wieder an die Versammlung ein Stockwerk weiter unten verschwindet.

Mitten in der Hauptsaison ist die Reitschule für zwei Wochen geschlossen. Grund ist laut eigener Mitteilung «massiv eskalierte Gewalt». Das hat das Kulturzentrum am 7. Januar öffentlich gemacht. Drogendeal, Bandenkrieg und Perspektivlosigkeit hätten auf der Schützenmatte und in der Reitschule zu einer unhaltbaren Situation geführt. 

Die Massnahme rüttelt auch Behörden auf. Stadtpräsidentin Marieke Kruit will ein Gespräch mit allen beteiligten Akteur*innen initiieren: Reitschule, Stadt, Kantonspolizei. 

Die Polizei möchte laut eigener Aussage intensiver mit der Reitschule zusammenarbeiten, was diese aber ablehne. In einem Beitrag von SRF wurde letzte Woche der Reitschule gar vorgeworfen, sie habe bei einem Vorfall Ende Dezember Beamte daran gehindert, einem Gewaltopfer mit abgehackten Finger zu helfen. 

Bisher hat sich die Reitschule – ausser einem Zwischenbericht auf Instagram – nicht weiter öffentlich geäussert. Nun gewährt sie der «Hauptstadt» Einblick in ihre Prozesse. 

Drei Reitschüler*innen erklären, was zum drastischen Schritt der Schliessung geführt hat, mit welchen Herausforderungen das Kollektiv kämpft, was es von der Stadt fordert und wie die Reitschule zu einer Zusammenarbeit mit der Polizei steht.

Im Gespräch mit Lou, Simon und Michel wird schnell deutlich: Das Kollektiv befindet sich in einem intensiven und herausfordernden Prozess. 

Ein Teufelskreis aus Gewalt und zu wenig Publikum

«Wir sind an einem Punkt, wo wir finden: So kann es nicht mehr weitergehen», sagt Michel. Die Reitschule habe die Sicherheit der Besuchenden nicht mehr gewährleisten können. Die Gewalt hat in den letzten Monaten zugenommen, rivalisierende Banden tragen Konflikte näher am Haus aus und diese eskalieren vermehrt zu grossen Kämpfen mit vielen Beteiligten. 

«Mit solchen Situationen umzugehen, hat bei der Reitschule zu einer Überlastung geführt», sagt Simon. 

Der unmittelbare Hauptgrund für die Schwierigkeiten ist aus Sicht der Reitschüler*innen, dass der Vorplatz und die Schützenmatte zu wenig belebt sind. Das grösste Problem der Reitschule sind die seit längerer Zeit fehlenden Gäst*innen – insbesondere in den Gastrolokalen. 

Reitschule temporaer geschlossen fotografiert am Samstag, 11. Januar 2025 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Derzeit ist das Tor der Reitschule verschlossen: Für eine integrative Atmosphäre im Innenhof und auf dem Vorplatz ist das Publikum des Restaurants und der Rössli Bar entscheidend. (Bild: Simon Boschi)

«Deal und Klau gab es schon immer», sagt Simon. Doch wenn sich auf dem Platz vor der Reitschule viel Publikum aufhalte, dann rückten Delikte in den Hintergrund und Gewalt eskaliere seltener. Jetzt habe der Deal aber Überhand genommen und gewaltvolle Strukturen sich ausgebreitet. «Das ist geblieben, während viel anderes Leben verschwunden ist.»

Gründe für das fehlende Publikum sind schwer festzumachen. Erklärungsansätze gibt es viele: Folgen der Corona-Pandemie, verändertes Ausgehverhalten der Jugendlichen, Teuerung. Das Phänomen ist vielschichtig und nicht neu. Die Reitschule ist nur eines von zahlreichen alternativen Kulturlokalen in der Schweiz, die mit finanziellen Problemen kämpfen. 

Besonders das Reitschul-Restaurant Sous le Pont generiert seit längerer Zeit zu wenig Einnahmen und musste im Herbst seine Öffnungszeiten anpassen. Die Reitschule als Gesamthaus kann nicht beziffern, wie es um ihren Umsatz steht, da die einzelnen Kollektive unterschiedlich aufgebaut sind. Im Gegensatz zur Gastronomie laufen die kulturellen Angebote wie Veranstaltungen im Dachstock oder im Theater Tojo nicht schlecht. Das hat der Sous le Pont-Wirt Thomas Laube bereits im Herbst gegenüber der «Hauptstadt» erläutert. 

Doch für eine gute Durchmischung und damit eine integrative Atmosphäre im Innenhof und auf dem Vorplatz ist das Publikum des Restaurants und der Rössli Bar entscheidend – diese offenen Räume bilden den Grundboden einer belebten Reitschule, während die Veranstaltungen eher im Inneren des Hauses stattfinden. 

Sich verschärfende Gewalt und sichtbares soziales Elend auf dem Vorplatz und in der Reitschule führen dabei zu einem Teufelskreis: Je weniger Leute in der Reitschule in den Ausgang gehen, umso prägender wird das Drogen- und Gewaltproblem. Und je grösser das Problem, umso unattraktiver wird der Ort für das Ausgeh-Publikum.

Das wiederum zehrt stark an der Moral und den Ressourcen der aktiven Reitschüler*innen. Simon, Michel und Lou lassen durchblicken, dass die Zeiten für das Kollektiv äusserst fordernd sind. Es ist von Ausbrennen die Rede und davon, dass es wieder mehr Menschen brauche, die die Werte der Reitschule mittragen. 

«Die temporäre Schliessung soll auch Ressourcen freilegen für diesen anspruchsvollen Prozess», sagt Simon. «Wir brauchen Lösungsansätze», sagt Michel. Dabei reflektiert sich das Kollektiv auch selbst. Lou sagt: «Wir müssen auch Kritik an uns selbst äussern. Wir können vieles besser machen.» Oberstes Ziel müsse sein, wieder mehr Leute in die Reitschule zu holen. Einfache Lösungen gebe es dafür nicht. «Deshalb können wir aktuell nicht den Betrieb aufrechterhalten, so tun, als wäre nichts, und nebenbei Veränderungen herbeiführen», sagt Michel. 

Beziehung zur Stadt ist besser geworden

Bereits im letzten Frühling hat eine Vernetzungsgruppe bestehend aus der Reitschule, der Gassenarbeit und dem Verein Medina, der auf der Schützenmatte soziale Unterstützung bietet, Forderungen an die Stadt formuliert, um das steigende Elend in dem Perimeter besser abzufedern. 

Einige davon hat die Stadt umgesetzt. So gibt es neu einen Schutzraum mit Sozialarbeiter*innen und einen Sicherheitsdienst, der regelmässig auf dem Platz patrouilliert.*

«Der Dialog mit der Stadt hat sich verbessert», sagt Michel. Beide Seiten seien in letzter Zeit aufeinander zugekommen. Die Massnahmen hätten zu kurzfristiger Entlastung geführt. Aber sie reichen aus Sicht der Reitschüler*innen nicht aus.

Reitschule temporaer geschlossen fotografiert am Samstag, 11. Januar 2025 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
«Wir leisten sehr viel soziale Arbeit, oftmals gratis», sagen Lou, Michel und Simon vom Reitschul-Kollektiv. (Bild: Simon Boschi)

«Die Stadt macht nicht genug», sagt Lou. Noch immer fehlten unter anderem Plätze in Notschlafstellen. Das Konzept «Housing first» für Obdachlose, welches von der Gassenarbeit schon seit Jahren gefordert wird, werde nicht umgesetzt. Und die Gruppe fordert einen «Dealer Corner», wo Personen geschützt mit Drogen handeln können. 

Ob und in welchem Rahmen das von Marieke Kruit via Medien vorgeschlagene Gespräch mit allen Beteiligten stattfinden wird, ist noch nicht klar. Es sei hier noch kein direkter Kontakt zwischen Stadt und Reitschule erfolgt. Den üblichen regelmässigen Austausch mit der Stadt will die Reitschule aber wie bisher weiterführen.

(Zu) viel soziale Arbeit der Reitschüler*innen

Generell gründen die Probleme auf der Schützenmatte aus Sicht des Reitschule-Kollektivs in einer verfehlten (nationalen) Asyl- und Drogenpolitik, zu wenig Angeboten für Menschen in psychischen Notlagen sowie zu viel staatlicher Repression.

Vieles von dem, was die Behörden ihrer Meinung nach nicht hinkriegen, würden Mitglieder des Kollektivs auffangen. Denn sie sind ständig vor Ort. «Wir leisten sehr viel soziale Arbeit, oftmals gratis», sagt Lou. 

Sie sagt auch: «Wir sind uns bewusst, dass wir Dinge anders machen wollen.» Sie meint damit etwa Prävention statt Repression im Umgang mit Süchtigen. Das bringe auch Konsequenzen mit sich. «Logisch, das ist unsere Entscheidung». Trotzdem werde in der Öffentlichkeit – und auch beim Reitschul-Publikum – oft zu wenig sichtbar, wie viel Sozial- und Care-Arbeit die Mitglieder der Reitschule leisten: Betreuung, Gespräche, Streit schlichten, Leute verarzten. All das sei in letzter Zeit angestiegen.

Einigen Mitgliedern des Kollektivs wurde das offenbar zu viel. Auch, weil Konflikte häufiger bewaffnet ausgetragen werden, etwa mit Messern. Im Dezember gab es gleich zwei Vorfälle mit Schwerverletzten. Es sei auch schwieriger geworden, intern ausgesprochene Hausverbote durchzusetzen, sagt Simon. 

Weiterhin keine Zusammenarbeit mit der Polizei 

Die Kantonspolizei Bern gibt auf Anfrage der «Hauptstadt» an, in letzter Zeit seien ihnen im Gebiet der Reitschule und der Schützenmatte rund fünf Gewaltvorfälle pro Monat bekannt geworden. Es sei aber von einer Dunkelziffer auszugehen. Das Gebiet sei für die Polizei ein Brennpunkt mit erhöhter Präsenz. 

Und sie schreibt: «Grundsätzlich wünschen wir uns einen Austausch und eine Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich mit der Reitschule, welche aber von Seiten Reitschule aktuell abgelehnt wird.»

Das bestätigen die drei Mitglieder des Kollektivs. Die Reitschule lehne es grundsätzlich ab, mit der Kapo direkt zusammenzusitzen, stellt Simon klar. Die Präsenz der Kantonspolizei auf der Schützenmatte habe die Situation bisher nicht verbessert. «Solange die Kantonspolizei so massiv gewaltvoll, rassistisch und einfach nicht zielorientiert arbeitet, können und werden wir unsere Haltung nicht ändern», sagt Lou.

Abgehackter Finger: Reitschule weist Vorwürfe der Polizei zurück

Enttäuscht zeigen sich die drei auch über die Vorwürfe via SRF, die Reitschule habe bei einer Auseinandersetzung am 28. Dezember Beamte daran gehindert, einem Mann zu helfen, dem mit einer Machete ein Finger abgetrennt worden war. 

«Das stimmt nicht», sagt Simon. Die Kommunikation sei in Wahrheit kooperativ abgelaufen: Als die Polizei kam, sei die verletzte Person gerade im Gebäude der Reitschule von einem Arzt aus dem Kollektiv versorgt worden. Rettungssanitäter*innen seien ebenfalls im Gebäude dazugestossen. In Absprache mit den Polizeibeamten habe man sich geeinigt, dass die Person kurz darauf von den Erstversorger*innen aus dem Gebäude begleitet und ins Spital gebracht werde. Die Polizei habe also selbst gar nicht verlangt, in die Reitschule eingelassen zu werden, weil das nicht nötig gewesen sei.

Auf Nachfrage der «Hauptstadt» schreibt die Kantonspolizei: «Als unsere Mitarbeitenden die Räumlichkeiten der Reitschule zwecks Versorgung der verletzten Person betreten wollten, wurde ihnen klar signalisiert, dass sie vor Ort nicht erwünscht seien.» Ein Rettungssanitäter konnte aber laut Polizei das Gebäude betreten und sich um die verletzte Person kümmern. «Da die Versorgung des Verletzten sichergestellt war, haben unsere Mitarbeitenden auf die Durchsetzung des Zutritts verzichtet», so die Polizei.

Reitschule temporaer geschlossen fotografiert am Samstag, 11. Januar 2025 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Als kurzfristige Massnahmen will das Kollektiv bei der Wiedereröffnung die Lichtverhältnisse auf dem Vorplatz verbessern und den Platz so aktiv wie möglich bespielen. (Bild: Simon Boschi)

Aus Sicht der Reitschule verlaufen bei akuten Notsituationen die Interaktionen mit der Polizei normalerweise «pragmatisch und gut», wie Simon sagt. Die Reitschule hat mittlerweile auch auf ihrer Website ein Statement zu diesem Vorfall veröffentlicht.

Kritik äussert das Kollektiv allerdings an der Praxis der Polizei bei Veranstaltungen auf dem Vorplatz. Diese sei zu restriktiv. Oft werde es nicht genehmigt, draussen Musik abzuspielen oder eine Bar aufzustellen. Dadurch werde es erschwert, den Vorplatz zu beleben. «Man hat es beim bewilligten ‹No Borders, No Nations› diesen Sommer gesehen», sagt Lou. «Als wir ein Festival veranstalten durften, war der Platz voll und die Stimmung super. Es gab keine Gewaltvorfälle.»

Die Polizei stellt auf Anfrage klar, dass sie keine Bewilligungsbehörde für Veranstaltungen sei. «Liegen entsprechende Bewilligungen – wie beispielsweise für einen Barbetrieb – nicht vor, ist es aber unsere Aufgabe, die geltenden rechtlichen Bestimmungen durchzusetzen.»

Ein intensiver Prozess

Am 22. Januar will die Reitschule wieder aufmachen. Ob dann mehr Publikum kommt und sich die Probleme entschärfen, kann niemand vorhersehen. Das Kollektiv ist sich bewusst: Was die Reitschule tun muss, ist eigentlich klassisches Marketing. Wie wieder mehr Leute angelockt werden können, die «die Werte des Hauses mittragen», wie es die drei formulieren, ist noch nicht abschliessend geklärt.

«Das ist die Kernfrage. Daran chätschen wir intensiv herum», sagt Simon. Als kurzfristige Massnahmen will das Kollektiv bei der Wiedereröffnung die Lichtverhältnisse auf dem Vorplatz verbessern und den Platz so aktiv wie möglich bespielen.

Letztlich zählen die Reischüler*innen darauf, dass wieder mehr Menschen sich für das Manifest der Reitschule interessieren. «Wir wollen ein Ort sein, wo Mensch Mensch sein kann», sagt Michel. Dem Kollektiv sei es sehr wichtig, dass niemand Benachteiligungen aufgrund von äusserlichen Merkmalen, Herkunft oder sexueller Orientierung erfahre. «Wir versuchen, Probleme anders zu lösen als im Rest der Gesellschaft», ergänzt Simon. «Wir wollen, dass unsere Gäste ein Teil davon sind».

Draussen ist es längst dunkel, als das Gespräch endet. Die Versammlung im Haus ist immer noch in vollem Gang. Auch wenn die Tore verriegelt sind: In der Innenwelt der Reitschule ist es alles andere als still.

*In einer ersten Version dieses Beitrags schrieben wir fälschlicherweise, die Öffnungszeiten der Drogenanlaufstelle an der Hodlerstrasse seien erweitert worden. Wir haben das korrigiert.

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Diskussion

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Thomas Schneeberger
17. Januar 2025 um 21:35

Danke für den Beitrag.

Von aussen hat man das Gefühl, es sei seit Jahrzehnten das Gleiche. Bestenfalls Stillschweigen auf allen Seiten, sonst gegenseitige Forderungen oder gar Vorwürfe. Man weiss nie, wieviel von was zutrifft. Irgendwie schade, denn "die Reithalle" (ich sage seit 1987 immer noch so, und nicht -schule) ist wichtig und hat noch immer viele Sympathien.