Der Mann als Opfer
Auch Männer erleben sexualisierte Gewalt. Häufig auf der Flucht, in Haft, im Krieg. Das muss sichtbarer werden, fordern Seelsorger*innen der Berner Bundesasylzentren.
Beatrice Teuscher hört viele schwierige Lebensgeschichten. Sie arbeitet als Seelsorgerin in den Berner Bundesasylzentren. Ein Thema beschäftigt sie gerade besonders stark. Immer wieder, sagt sie, hat sie mit Männern zu tun, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Was ihr dabei schwerfällt: Sie weiss nicht, wo sie Unterstützung für sie finden kann.
Teuscher ist Teil eines vierköpfigen Teams, das in den beiden Berner Zentren im früheren Zieglerspital und in Kappelen ökumenische Seelsorge anbietet. Asylsuchende können mit den Seelsorger*innen vertrauliche Gespräche führen. Das Angebot wird von den Landeskirchen getragen.
In unserer Gesellschaft sei wenig Bewusstsein da, dass auch Männer Opfer von sexueller Gewalt werden, findet Beatrice Teuscher. Das Asylgesetz zum Beispiel wurde 1998 mit einem Zusatz versehen. Darin heisst es, dass frauenspezifischen Fluchtgründen Rechnung getragen werden soll. Man wollte damit Nachteile stärker ins Bewusstsein rufen, denen Frauen speziell ausgesetzt sind. Dazu gehört auch sexuelle Gewalt. Eine wichtige Entwicklung, sagt Teuscher. Aber sie findet: Eigentlich müssten wir generell von «patriarchaler Gewalt» sprechen. Denn das sei es, von dem auch die Männer betroffen sind, die immer wieder in ihren Sprechstunden auftauchen.
Männer mit Fluchtgeschichte haben häufig auf irgendeine Art sexuelle Gewalt erlebt, so die Einschätzung der drei Berner Seelsorger*innen, mit denen die «Hauptstadt» gesprochen hat. Das beobachtet auch Thierry Büttiker, Fachverantwortlicher für die Rechtsvertretung im Bundesasylzentrum Bern.
Das Bild des starken Mannes
«Patriarchal», wie sie Beatrice Teuscher nennt, ist die Gewalt, weil sie auch bei männlichen Betroffenen in aller Regel durch andere cis Männer ausgeübt wird. Und weil patriarchale Strukturen das Thema umso stärker tabuisieren. Es ist die Rede von Vergewaltigungen in Haft oder als demütigendes Kriegsmittel, von Menschenhandel, von Minderjährigen, die in ihren Heimatstaaten missbraucht wurden, von sexuellen Übergriffen auf der Flucht.
Statistiken dazu gibt es wenige, und man vermutet eine grosse Dunkelziffer – denn das Thema ist, noch stärker als bei weiblichen Betroffenen, extrem schambehaftet.
Doch Erhebungen aus Konfliktregionen deuten darauf hin, dass gerade sexuelle Gewalt gegen Männer als Kriegsmittel sehr verbreitet ist. Für queere Männer, trans oder nonbinäre Personen gilt das umso stärker, aber auch cis-hetero Männer sind häufig betroffen. Das stellt etwa ein Bericht der UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR zu sexueller Gewalt an Männern und Jungen im Syrien-Konflikt fest. In einem Artikel über sexuelle Gewalt gegen Rohingya-Männer in Myanmar wird es so beschrieben: «Weil die Opfer nicht darüber sprechen, gibt es nicht genug spezielle Hilfsangebote. Und weil es nicht genügend Hilfsangebote gibt, kommen die Männer nicht auf die Idee, darüber zu sprechen. Weil niemand darüber spricht, gibt es wiederum keine Daten, die einen Bedarf suggerieren.»
Beatrice Teuscher sagt: «Verhältnismässig sind es immer noch wenige männliche Betroffene. Aber vielleicht macht das ihre Situation umso schwieriger.» Behörden, Angehörige und Hilfsorganisationen seien weniger auf männliche Opfer sensibilisiert. Und die Betroffenen selbst hätten nicht selten mit überwältigender Scham zu kämpfen.
«Im Asylverfahren dominiert oft die Haltung: Ein Mann, dem es körperlich an nichts fehlt, ist stark. Ihm ist alles zuzumuten», sagt Beatrice Teuscher. Doch gerade Männer, die sexuelle Gewalt erlebt haben, seien psychisch häufig sehr angeschlagen. «Sie bräuchten mehr Zeit und vor allem Therapie, um ihre Erlebnisse zu verarbeiten», sagt sie. Dazu habe die Seelsorge viel zu wenig Ressourcen. Wohin also mit den Problemen dieser Männer?
Keine Opferhilfe
Es gebe zu wenige Anlaufstellen, an die sie Betroffene weiterleiten könne, sagt Beatrice Teuscher. Gerade jetzt, wo es ohnehin überall an psychiatrischen und psychologischen Behandlungsplätzen mangelt, wären solche aber dringend notwendig. Die Nachfrage ist sehr hoch, etwa nach transkulturellen psychiatrischen Sprechstunden der Universitären Psychiatrischen Dienste oder beim Schweizerischen Roten Kreuz, das ein Ambulatorium für Folteropfer führt.
Ein Anruf bei der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) zeigt: Nicht nur cis Männer bleiben mit ihren Problemen allein. Asylsuchende, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, würden in der Schweiz unabhängig vom Geschlecht zu wenig unterstützt. Das sagt Géraldine Merz, Projektleiterin für Menschenhandel und Asyl bei der FIZ.
Grund ist das Schweizer Opferhilfegesetz. Es erfasst Opfer von Straftaten nur, wenn diese in der Schweiz begangen wurden oder wenn die Opfer zum Zeitpunkt der Tat ihren Wohnsitz in der Schweiz hatten. Asylsuchende, die im Ausland sexuelle Gewalt erlebt haben, fallen nicht darunter. Deshalb können sie sich nicht an Opferhilfestellen in der Schweiz wenden. Eine parlamentarische Initiative fordert, das Gesetz auszuweiten.
Auch die FIZ fordert eine solche Erweiterung. Und sie springt in die Lücke mit einem Beratungsangebot für Asylsuchende, die Opfer von Menschenhandel wurden – egal, welchen Geschlechts. Menschenhandel ist oft mit sexueller Ausbeutung verbunden. Doch das Angebot löse das generelle Problem nicht.
Dasselbe sagt Simone Eggler von der Nichtregierungsorganisation Brava. Die Organisation unterstützt Betroffene von Gewalt, insbesondere Geflüchtete und Migrantinnen. «Das Problem besteht für alle Geschlechter», sagt Simone Eggler. Auch Brava könne mit ihrem Angebot die Lücke nicht aufwiegen, die das Opferhilfegesetz bei Straftaten im Ausland offenlasse. Nur die via Opferhilfegesetz finanzierten Stellen verfügten über die nötigen Ressourcen für Soforthilfe, finanzielle Unterstützung für Therapie oder Rechtsvertretung. Brava finanziert die Beratung über Spenden.
Runder Tisch
Für Asylsuchende ist nicht nur wesentlich, dass sie das Erlebte psychisch verarbeiten können. Ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt können sich auch darauf auswirken, ob sie in der Schweiz Asyl erhalten.
Deshalb ist es entscheidend, dass sie nicht nur bei der Seelsorgerin, sondern auch bei Anhörungen im Asylverfahren darüber sprechen können – und dass die Personen, die sie befragen, darauf sensibilisiert sind. Auf Wunsch können Asylsuchende nur von Frauen oder nur von Männern interviewt werden.
Die Berner Seelsorger*innen wollen den Umgang mit dem Thema weiter voranbringen. Auf ihren Anstoss hin organisiert das Staatssekretariat für Migration nun einen runden Tisch zu sexualisierter Gewalt an Männern. Es werden sich verschiedene Akteur*innen mit dem Thema befassen, die an einem Asylverfahren beteiligt sind: Rechtsschutz, Seelsorge, Pflege, Sozialpädagog*innen, Verfahrensleitung.