Lichtgeschwindigkeit – Stadtrat-Brief #22

Sitzung vom 18. Januar 2024 – die Themen: Abstimmungsbriefkästen; Citysoftnet; Brünnengut; Polizeiinspektorat; Viererfeld; Veloinfrastruktur; Ballenberg; Debattierbarometer.

Stadtrat-Brief
(Bild: Silja Elsener)

Es ist ein seltenes Ereignis im Berner Stadtparlament, dass ein Vorstoss von ganz links aussen auch bei den Bürgerlichen – trotz Mehrkosten – feurige Zustimmung auslöst. Aber David Böhner (Alternative Linke, AL) gelang gestern das Kunststück.

Er vertrat eine ältere Motion, mit der die inzwischen aufgelöste Freie Fraktion (AL, GPB, PdA) mehr Briefkästen zur unfrankierten brieflichen Stimmabgabe verlangte. Aktuell stellt die Stadt noch zwei solche Abstimmungs-Briefkästen zur Verfügung, beim Erlacherhof und beim Bienzgut in Bümpliz. Den dritten Briefkasten (Standort Predigergasse) hat die Stadt kürzlich ausser Betrieb genommen – weil die Sicherheit der Stimmabgabe gefährdet war. Der Kasten war oft so voll, dass es möglich gewesen wäre, abgegebene Couverts durch den Schlitz wieder herauszufischen.

David Böhner schwebt – wie Sara Schmid (SP) und Lea Bill (GB/JA) – nun vor, künftig in jedem der sechs Stadtteile einen Briefkasten aufzustellen. Tom Berger (FDP/JF) gab sogar zu, vor Jahren einen SP-Vorstoss für die Vorfrankierung von Abstimmungscouverts noch abgelehnt zu haben. Jetzt aber unterstütze er die Bemühungen, Abstimmungsteilnahmen niederschwelliger zu machen, sagte Berger: «Demokratie kostet halt etwas.» Selbst Janosch Weyermann (SVP) legte seinen ursprünglichen Widerstand ab und sekundierte Böhner.

Deshalb stand Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) alleine da. Denn die Regierung ist gegen zusätzliche Abstimmungsbriefkästen. «Das Problem ist der Betriebsaufwand», argumentierte von Graffenried. In den Wochen vor einer Abstimmung müsse der Briefkasten beim Erlacherhof bis zu sechsmal täglich geleert werden. Spontan – angesichts der einträchtigen Debatte – präsentierte der Stadtpräsident eine Alternative. Die Regierung werde dem Parlament einen Vorschlag für die Einführung vorfrankierter Abstimmungscouverts machen. Jährlicher Kostenpunkt: 125’000 Franken. Lustigerweise hatten Mirjam Arn (GB) und Nora Joos (JA) gestern praktisch zeitgleich mit von Graffenrieds Idee eine Motion mit dieser Forderung eingereicht.

So geht Stadtberner Politik in Lichtgeschwindigkeit. Der Stadtrat überwies den Vorstoss, der das Aufstellen zusätzlicher Briefkästen verlangt, aber trotzdem. Doppelt genäht hält besser.

Timur Akcasayar (SP), fotografiert fuer den Stadtrat-Brief am Donnerstag, 26. Oktober 2023 in der Wandelhalle vom Berner Rathaus. (HAUPTSTADT.CH/Bruam/Dominic Bruegger)
Ratsmitglied der Woche: Timur Akçasayar

Timur Akçasayar (44) ist Sachbearbeiter für Umwelt, Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit. Er politisiert für die SP seit 2017 im Stadtrat, dort sitzt er in der vorberatenden Kommission für Planung, Verkehr und Stadtgrün. Akçasayar ist Teil der im Stadtrat vertretenen LGBT-Community.

Warum sind Sie im Stadtrat?

Die parlamentarische Arbeit auf lokaler Ebene finde ich sehr spannend. Denn als Stadtrat kann ich konkret die Quartiere und den Service Public mitgestalten. 

Wofür kennt man Sie im Rat – auch ausserhalb Ihrer Partei?

Hoffentlich nicht nur als «den Bümplizer», sondern auch als Sachpolitiker für die ganze Stadt.

Welches ist Ihr grösster Misserfolg im Rat?

Gewisse Stellen und Personen konnte ich leider (noch) nicht überzeugen, ihren Pragmatismus bei gewissen Sachfragen aufzugeben und langfristig zu denken. Dies betrifft insbesondere die vollständige Hindernisfreiheit und Entsiegelung bei Sanierungsprojekten von Schulanlagen. 

Worauf sind Sie stolz bei Ihrer Ratsarbeit?

Auf etwas stolz zu sein, liegt mir nicht. Ich bin eher erfreut darüber, dass ich als Secondo und Vertreter der Maschinenindustrie eine weitere Sichtweise in den Rat einbringen kann. Auch, dass trotz der finanziellen Situation die Ressourcen für die soziale Infrastruktur bereitgestellt werden, und dass notwendige Investitionen für die Soziokultur eine Mehrheit gefunden haben.

Welches ist Ihr liebster Stadtteil und warum?

Die Stadt Bern als Ganzes finde ich toll, und jedes Quartier hat seinen eigenen Charme. Besonders mag ich meinen Wohnort: den Westen von Bern. Hier im Stadtteil 6 (Bümpliz, Bethlehem und Bottigen) sind Urbanität und Natur sehr nah beieinander. Und mit seiner Diversität und den aktiven Vereinen ist es eine sehr lebenswerte Kleinstadt.

Das debattierte der Rat weiter:

IT-Debakel: Ungleich heftiger diskutierte der Stadtrat den bereits dritten Zusatzkredit von diesmal einer Million Franken zur Einführung der Software Citysoftnet im Sozialamt sowie beim Amt für Erwachsenen- und Kindesschutz. Die Einführung von Citysoftnet im Sommer 2023 führte zu Tausenden unbezahlter Rechnungen sowie frustrierten und überlasteten Mitarbeiter*innen. Corina Liebi (GLP) kritisierte scharf und stellte eine Untersuchung durch die Geschäftsprüfungskommission in Aussicht. Die Stadt habe es unterlassen, Transparenz zu schaffen. Der Kanton führe bei sich eine andere Software als Citysoftnet ein, die von den Gemeinden übernommen werden müsse. Das bedeute, befürchtete Liebi, dass die Stadt mit Citysoftnet am Ende über 18 Millionen Franken in den Sand setzt. Die zuständige Gemeinderätin Franziska Teuscher (GB) verhehlte Probleme und Ratlosigkeit nicht. Sie glaubt aber, dass man nun «auf gutem Weg» sei. Der Rat hiess den Nachkredit mit 53 zu 6 Stimmen gut.

Jugendhaus Bern West: Der Gemeinderat will den Brünnenhof in Bümpliz der Stiftung B im Baurecht abgeben, damit diese dort ein Jugendhaus einrichtet. Niemand im Stadtrat stellte das Bedürfnis dafür in Frage. Kontrovers diskutiert wurde aber der Liegenschaftshandel. Das Haus hat offenbar einen amtlichen Wert von 1,5 Millionen Franken, die Stiftung B erhält es für 200’000 Franken. Weil linke Politiker*innen – Gemeinderätin Franziska Teuscher, SP-Stadtrat Chandru Somasundaram – Ämter bei der Stiftung B ausüben, ortete etwa Janosch Weyermann (SVP) Vetterliwirtschaft. Parteikollege Alexander Feuz kritisierte, der Gemeinderat verscherble städtisches Vermögen. Simone Richner (FDP) bemängelte, dass Transparenz und Wettbewerb fehlten. Die Stiftung B investiere für den Umbau des Hauses drei Millionen Franken, entgegnete Finanzdirektor Michael Aebersold (SP). Der Rat nahm die Vorlage mit 40 zu 24 Stimmen an.

Polizeiinspektorat: Der Stadtrat bewilligte einen Nachkredit für das Jahr 2023 von 2,5 Millionen Franken zu Gunsten des Polizeiinspektorats. Mit Zähneknirschen, wie Marcel Wüthrich (GFL) bemerkte. Hauptgrund für den Nachkredit: Der Gemeinderat hatte Einnahmen aus der Erhöhung der Parkkartengebühren bereits budgetiert, obschon das Referendum ergriffen und danach eine Volksabstimmung nötig wurde.

Viererfeld: «Ich war noch selten so enttäuscht von einer Antwort auf einen Vorstoss», sagte Lionel Gaudy (Mitte). Die Antworten seien «plump und oberflächlich», sie fühle sich vom Gemeinderat nicht ernstgenommen, sagte Florence Pärli (FDP). Thomas Glauser (SVP)  sagte, der Gemeinderat kommuniziere «nicht offen und ehrlich». In einem interfraktionellen Vorstoss hatten sie wissen wollen, ob die Stadt bei der geplanten Überbauung Viererfeld «im Blindflug» unterwegs sei, nachdem die Pensionskasse der Berner Kantonalbank (BEKB) als Investorin ausgestiegen war. Finanzdirektor Michael Aebersold (SP) beteuerte, der BEKB-Ausstieg führe nicht zu einer weiteren Verzögerung, die Stadt habe «den Boden unter den Füssen nicht verloren».

Veloinfrastruktur: Mit dem seltenen Resultat von 64 zu 0 Stimmen bewilligte der Stadtrat einen Nachkredit von 200’000 Franken für die Projektierung eines Fuss- und Radwegs an der Bottigenstrasse in Riedbach. Ein Wunsch, den die lokale Bevölkerung laut Gemeinderätin Marieke Kruit (SP) seit den 1980er-Jahren äussert.

Ballenberg: Einen Abstellplatz für Denkmäler historischer Figuren aus der ganzen Schweiz, die mit rassistischer und kolonialer Ausbeutung in Verbindung gebracht werden: Das möchte David Böhner (AL) auf der Grossen Allmend einrichten – eine Art Ballenberg einst verherrlichter und inzwischen gestürzter Männer. Mehrere Redner*innen gewannen der Idee Originalität ab, Barbara Keller (SP) aber etwa befürchtete, dass so eine historische Einordnung nicht stattfinden könne. Der Vorstoss wurde klar abgelehnt.

PS: In den letzten Monaten gab die Diskussionskultur im Stadtrat zu reden, weil bei bürgerlichen Vorstössen verschiedentlich Debatten nicht zugelassen wurden. Die «Hauptstadt» schaut genau hin und zählt mit, wie oft das passiert. An der gestrigen Sitzung lehnte die rot-grüne Mehrheit bei einer Interpellation von Alexander Feuz (SVP) zur Velooffensive die Diskussion ab.

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