Wer im Stadtrat das Sagen hatte
Rund 95 Stunden debattiert der Stadtrat in einem Jahr. Wer hat wie lange gesprochen? Die «Hauptstadt» hat die digitalen Wortprotokolle erstmals systematisch ausgewertet.
Rund jeden zweiten Donnerstag tagt der Berner Stadtrat im Rathaus. Vier Stunden lang, unterteilt in zwei Sitzungen, von 17 bis 19 Uhr und von 20.30 bis 22.30 Uhr. Es wird debattiert, beschlossen und zurückgewiesen.
Dabei wird unglaublich viel gesprochen.
Die «Hauptstadt» ist – wie sonst nur noch die Nachrichtenagentur sda – als Medium bei jeder Ratssitzung dabei und fasst die Diskussionen am Tag darauf im Stadtrat-Brief knapp und verständlich zusammen. Gross Aufsehen erregen oft nur einzelne Themen. Wenn der Stadtrat etwa ein Experiment zum bedingungslosen Grundeinkommen gutheisst oder den Kapitalismus abschaffen will, sorgt das für Schlagzeilen. Ausführliche Zitate oder Wortlaute dringen selten nach aussen. Einen Überblick über die im Stadtrat verlorenen Worte gibt es bis jetzt nicht.
Dabei sind die Sitzungen und deren Protokolle öffentlich. Seit einem Jahr werden die vollständigen Wortprotokolle des Stadtrats auf einer eigenen Website veröffentlicht. Jedes einzelne gesprochene Wort aus 25 Stadtrats-Sitzungen pro Jahr findet sich dort. Das sind knapp 700’000 Wörter oder über 95 Stunden Redezeit.
Dort schlummert also ein Datenschatz – die «Hauptstadt» hat ihn nun als erste gehoben und sich dabei folgende Fragen gestellt:
- Wer sprach wie viel?
- Welches Geschlecht hatte das Sagen?
- Welche Partei hatte das Sagen?
- Wer sprach wie häufig über spezifische Themen?
Die frei zugänglichen, vollständigen Protokolle aus dem Zeitraum August 2023 bis August 2024 wurden unter Einsatz der Programmiersprache Python heruntergeladen (Web Scraping) und dann in der Programmiersprache R analysiert. Der Datensatz enthält keine Daten zu Geschlecht, diese wurden mithilfe der Python-Bibliothek «Gender-Guesser» angefügt und händisch geprüft, korrigiert und ergänzt. Der Datensatz sowie der gesamte Quellcode ist hier einsehbar. Wer Fragen zum Projekt oder Methodik hat oder einen Fehler findet, meldet sich gerne direkt bei der Redaktion.
Wie sich herausstellen wird, fällt ein Mann besonders auf. Aber nun erstmal von vorne.
Wer sprach wie viel?
Um zu verstehen, wer wie viel spricht, muss man verstehen, wie der Stadtrat zusammengesetzt ist. Er besteht aus 80 Mitgliedern, die für vier Jahre gewählt sind. Der nächste Wahltermin ist am kommenden Wochenende: Am 24. November werden Stadtpräsidium, Gemeinderat und Stadtrat neu gewählt.
Eines der Stadtratsmitglieder leitet die Sitzungen als Präsident*in. Das Präsidium wechselt jedes Jahr Person und Partei. Im gesamten Stadtrat gibt es während einer vierjährigen Legislaturperiode wegen Rücktritten zahlreiche personelle Wechsel. Rund die Hälfte der Stadtratssitze wird neu besetzt, mit der nächstklassierten Person auf der Parteiliste der letzte Wahlen.
An den Sitzungen sind neben den Stadträt*innen immer auch Gemeinderät*innen präsent. Sie vertreten die Geschäfte ihrer Direktionen vor dem Parlament.
Bis zu einem gewissen Grad von Amtes wegen und nicht aus freiem Willen treten die Präsident*innen der vorberatenden Kommissionen des Stadtrats ans Mikrofon. Sie wurden in den nachfolgenden Analysen aus Aufwandgründen nicht herausgerechnet. Das kann in Einzelfällen das Resultat geringfügig beeinflussen.
Top 10 Sprecher*innen nach Redezeit
mit Stadtratspräsidentin und Gemeinderat
Valentina Achermann (SP) ist seit Anfang 2024 Stadtratspräsidentin, zuvor war es Michael Hoekstra (GLP). Sie haben die jeweiligen Sitzungen geführt und deshalb viel gesprochen. Alec von Graffenried (GFL), Marieke Kruit (SP), Franziska Teuscher (GB) und Michael Aebersold (SP) sind Mitglieder des Gemeinderats – was ihren relativ hohen Redeanteil erklärt.
Angeführt wird die Rangliste aber von einem normalen Stadtrat: Alexander Feuz. Er war bis September 2024 SVP-Fraktionspräsident, trat dann aber aus dem Stadtrat zurück. So umgeht er eine Amtszeitbeschränkung und kann bei den bevorstehenden Wahlen wieder antreten. Für seine Redezeit gibt es vordergründig nur eine Erklärung: Er redet viel. Feuz sitzt seit knapp 13 Jahren im Stadtrat und hängt nun wahrscheinlich eine weitere Legislatur an. Er ist als umtriebiger Politiker bekannt – er reicht sehr viele Vorstösse ein und ergreift gerne das Wort.
Das hat auch einen politischen Grund: Als SVPler ist Feuz in der von einer linken Mehrheit regierten Stadt in der Opposition. Er nutzt jede Gelegenheit, die Mehrheit verbal herauszufordern.
Auf Anfrage der «Hauptstadt» hält Alexander Feuz fest, er sei sich bewusst, dass er bis zu seinem Rücktritt vor ein paar Monaten sehr viele Vorstösse gemacht und oft am Rednerpult gestanden sei. Er verstehe aber genau das als Aufgabe des SVP-Fraktionspräsidenten, «die Standpunkte der Opposition auch für das Protokoll immer wieder darzulegen, auch wenn wir gegen die Mehrheitsmeinung keine Chance haben». Es könne ja nicht sein, dass er sich quasi in vorauseilendem Gehorsam nicht zu Wort melde, nur weil er wisse, dass seine Argumente bei der Linken durchfallen.
Überdies sei es auch nicht so, dass er sich fraktionsintern vordränge, sagt Feuz: «Ich liess meinen Kollegen gerne den Vortritt.» Aber oft seien diese froh gewesen, wenn er ans Mikrofon gegangen sei. Er habe die Fraktion aber stets zu lebhafter Diskussion ermuntert. Zudem habe er bei jedem Geschäft auf der Beschlussliste seiner Fraktion immer einen Haupt- und Nebenredner aufgeführt.
Er dürfe für sich in Anspruch nehmen, die meisten Geschäfte gut zu kennen, findet Feuz. Und er sei in der Lage, ohne vorbereiteten Text frei zu reden – oder auf Aussagen der Vorredner*innen spontan zu reagieren: «Ich kämpfe immer mit offenem Visier», sagt Feuz. Und abgesehen davon: Er habe fast nie eine Verwarnung wegen Überschreitung der Redezeit kassiert. «Es stört mich nicht, wenn die Redezeit auf zwei Minuten verkürzt wird. Ich kann mich kurz fassen.» Aber Schweigen, ohne sich zu wehren, das sei für ihn keine Option.
Und mit Blick auf den Pendenzenberg sei er der Meinung, dass dieser vor allem mit geschickter Traktandierung massiv abgebaut werden könne.
Wie viel Alexander Feuz geredet hat, wird umso deutlicher, wenn die Stadtrats-Präsident*innen sowie die Gemeinderät*innen aus dem Datensatz ausgeschlossen werden.
Top 10 Stadtrats-Mitglieder nach Redezeit
Ohne Stadtratspräsident*in und Gemeinderat
Im direkten Vergleich redete Alexander Feuz etwa vier- bis fünfmal so viel wie seine nach ihm redefreudigsten Ratskolleg*innen. Insgesamt 555 Minuten oder geschlagene 9,25 Stunden. Anders gesagt: Feuz hat in einem Jahr Stadtrat zusammengerechnet mehr als einen Arbeitstag lang ohne Unterbruch das Wort gehabt.
Auf den Podestplätzen findet man SP-Fraktionspräsidentin Barbara Keller und David Böhner von der Alternativen Linken (AL), die links des RGM-Blockes politisiert. In die Top Ten geschafft haben es Johannes Wartenweiler (SP), Katharina Gallizzi (GB), Bernadette Häfliger (SP), Tom Berger (FDP, designierter Stadtratspräsident 2025), Thomas Glauser (SVP) und Tanja Miljanović (GFL). Sie alle haben in einem Stadtrats-Jahr rund 100 Minuten am Redner*innenpult verbracht.
Welches Geschlecht hatte das Sagen?
Es war eine kleine Sensation. Vor vier Jahren wählte die Stadt Bern ein sehr weibliches Parlament. 55 der 80 frisch gewählten Politiker*innen waren Frauen. Ein Frauenanteil von 70 Prozent. Seither ist dieser stetig geschrumpft, mittlerweile liegt er noch bei knapp über 50 Prozent. Aus verschiedenen Gründen, etwa der schwierigen Vereinbarkeit, traten Frauen aus dem Stadtrat aus, und es rückten häufig Männer nach. Abgesehen vom Frauenschwund: Wie lange redeten zwischen Sommer 2023 und Sommer 2024 Frauen, Männer und nicht binäre Personen im Stadtrat?
Gesamte Redezeit nach Geschlecht
Ohne Gemeinderat und Ratspräsident*in (fortan wird immer dieser Datensatz verwendet)
Im letzten Jahr sprachen die Männer mit zusammengezählt 2073 Minuten ein wenig mehr als die weiblichen Mitglieder. Sofia Fisch, als einzige nichtbinäre Person, fiel mit 38 Minuten Redezeit kaum ins Gewicht. Mit anderen Worten: Männer sprachen mehr, obschon sie weniger an der Zahl sind. Dieses Bild verdeutlicht sich, wenn die Redezeit ins Verhältnis zur Geschlechterquote, also der Anzahl Männer, Frauen und nicht binärer Personen gestellt wird (unten).
Redeanteil und Sitzanteil nach Geschlecht
Die ansteigende Linie beschreibt ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Sitzanteil und Redeanteil: Wenn ein Punkt darüber ist, ist die Gruppe überrepräsentiert, darunter ist sie unterrepräsentiert. Die zentrale Aussage dieser Auswertung: Frauen fassen sich kürzer, Männer ufern eher aus. Obschon sie die kleinere Gruppe sind, nehmen sie mehr Rederaum ein.
Redeanteil und Sitzanteil nach Geschlecht ohne Alexander Feuz
Auch hier sehen wir den Einfluss, den ein besonders redefreudiges Stadtrats-Mitglied nehmen kann. Rechnet man die Redezeit von Alexander Feuz heraus, verändert sich das Bild: Die Frauen sprechen nun deutlich mehr als die Männer, aber genau so viel, wie es ihrem Sitzanteil entspricht. Die Männer tendieren auch ohne Alexander Feuz noch leicht zu einem übermässigen Redefluss.
Welche Partei hatte das Sagen?
Das politische Kräfteverhältnis im Stadtrat wird klar von der Fraktion SP/Juso angeführt: Sie hat 24 Sitze. Die zweitgrösste Fraktion ist GB/JA! mit 13 Sitzen, gefolgt von GLP/JGLP mit 9 und der GFL mit 8. Die bürgerlichen Parteien FDP/JF und SVP haben je 7 Sitze.
Parteien nach Redezeit
Die SP führt das Redezeit-Ranking klar an, dicht gefolgt von der SVP und dem Grünen Bündnis. Die SP ist mit 22 Sitzen die mit Abstand stärkste Partei im Stadtrat, was ihren Vorsprung bis zu einem gewissen Grad erklärt. Die SVP auf dem zweiten Platz hat sieben Sitze im Stadtrat, spricht also mehr als das Grüne Bündnis mit 10 Sitzen. Deutlicher wird die Diskrepanz zwischen Sitz- und Redeanteil, wenn erneut nach Sitzverteilung gewichtet wird.
Redezeit nach Partei im Verhältnis zum Sitzanteil
Nun sticht die SVP klar heraus. Auch das Grüne Bündnis, die FDP und die Alternative Linke reden länger, als es ihrem Sitzanteil im Stadtrat entspräche.
Allerdings kann nicht erwartet werden, dass sich die Parteien im Idealfall auf der Linie befinden müssen.
Weil sich die meisten Parteien zu fast allen Themen äussern, müsste der Redeanteil kleiner Parteien eher höher sein als er dem Sitzanteil entspräche. Und derjenige der grossen Parteien eher kleiner.
Das beobachten wir bei der SP. Logischerweise melden sich nicht bei jedem Traktandum mehrere SP-Stadträt*innen zum selben Thema, weshalb die SP leicht unter der Mittellinie landet*.
Auffallend ist hingegen, wie selten die GLP-Parlamentarier*innen das Wort ergreifen. Und wenn sie reden, fassen sie sich eher kurz: Ihre Redezeit liegt deutlich unter dem Anteil, der ihrer Fraktionsgrösse entspräche.
Der Redeanteil von Feuz fällt auch hier so stark ins Gewicht, dass die Grafik ohne seine Redezeit so aussieht:
Redezeit nach Partei im Verhältnis zum Sitzanteil
Ohne Alexander Feuz
Wer sprach wie häufig über spezifische Themen?
Wenn über den Stadtrat gesprochen wird, tauchen oft Klischees auf: Die SVP wettert über die Reitschule, die Linke beschäftigt sich mit Fahrrädern, Klima und Gender. Zeigen sich diese Vorurteile auch in den ausgewerteten Daten?
Erwähnungen aus Themenkomplex Reitschule
Stichworte: Reitschule, Schützenmatt, Dachstock, Vorplatz.
Nicht unerwartet bringt die SVP die Reitschule am häufigsten zur Sprache, gefolgt von der SP und der Alternativen Linken (AL). Während die SVP die Reitschule kritisiert, gehören die SP und die AL normalerweise zu ihren Verteidiger*innen.
Erwähnungen aus Themenkomplex Velo
Stichworte: Velo, Fahrrad, Bike, Radfahren.
Beim Thema Velo fährt die SP voraus, im Windschatten das Grüne Bündnis und die Junge Alternative (JA!). Die JA! ist die Jungpartei des GB, mit nur drei Stadtratssitzen erreicht sie bei der Nennung von Wörtern aus dem Bereich Velo einen Spitzenplatz.
Erwähnungen aus Themenkomplex Klima
Stichworte: Klima, Erderwärmung, CO2, Global Warming, Globale Erwärmung.
Die Rot-Grün-Mitte-Koalition im Stadtrat will im Klimadossier entschlossener vorwärtsmachen als dies der Gemeinderat vorgibt. Beim Gebrauch von Wörtern aus dem Themenkomplex Klima legen die drei Parteien am Redner*innenpult einen Tatbeweis ab: Niemand nimmt das Wort Klima häufiger in den Mund als die RGM-Parteien GB, SP und GFL .
Das Fazit
Fasst man die Ergebnisse dieser ersten Datenanalyse der Stadtratsprotokolle zusammen, kann man zu drei Erkenntnissen kommen.
1) Redeweltmeister Feuz: Der Stadtrat mit Alexander Feuz ist ein anderer Stadtrat als derjenige ohne Alexander Feuz. Der SVP-Fraktionschef, der zurzeit eine Stadtratspause einlegt und hofft, am Sonntag wiedergewählt zu werden, bricht bezüglich Rededauer alle Rekorde.
2) Redselige Männer: Männer fassen sich weniger kurz als Frauen. Männer legen im Stadtrat ein grösseres Bedürfnis an den Tag, ans Redner*innenpult zu schreiten und dort auch länger zu verweilen als es Frauen tun.
3) Schweigsame GLP: Als einzige Partei des Berner Stadtparlaments verzeichnet die GLP einen im Vergleich zu ihrer Sitzzahl klar unterdurchschnittlichen Redeanteil. Das entspricht der Selbstdeklaration der GLP, die für sich in Anspruch nimmt, nur dann zu reden, wenn sie wirklich etwas Substanzielles beizutragen habe.
*Hinweis: Eine frühere Version enthielt einen Fehler in den zwei Grafiken «Redezeit nach Partei im Verhältnis zum Sitzanteil». Konkret war die Mittellinie falsch gesetzt. In dieser ersten Version war die SP direkt auf der Mittellinie, obwohl sie, wie in der nun korrigierten Fassung, eigentlich leicht darunter wäre.