Wette auf die Zukunft
Für die kleine Gemeinde Stettlen ist der Bernapark wie ein Sechser im Lotto. Aber auch ein schwer berechenbares Wagnis. Der abtretende Gemeindepräsident Lorenz Hess über Hoffnungen und Ängste.
Eigentlich, sagt Lorenz Hess (62), sei er kein Gemeindepräsident, für den Wachstum über allem stehe. Einer Wachstumsstrategie zu folgen, ist für viele Gemeinden der Agglomeration Bern ein fast mechanischer Reflex. Er bedeutet, Bevölkerungszahl und Steuereinnahmen zu steigern, mit der Idee, den notorischen Rückstand der Region Bern auf die dynamischen Wirtschaftszentren Zürich-Basel und Lausanne-Genf zu verringern. Es irritiert Hess manchmal, wenn so argumentiert wird.
«Warum genau müssen wir alle wachsen?», fragt er. Lorenz Hess sieht im verkehrsbelasteten Worblental zwischen Bern und Worb, in dem Stettlen mit seinen 3000 Einwohner*innen liegt, wie der Druck auf Natur- und Erholungsgebiete steigt. Es könne langfristig sinnvoll sein, Wachstumsoptionen nicht wahrzunehmen. Und genau das als Qualität zu sehen.
Letzter Auftritt als Gemeindepräsident
Das betont derselbe Lorenz Hess, der als Gemeindepräsident von Stettlen mit dem Bernapark Deisswil eines der grössten wirtschaftlichen Entwicklungsprojekte im Kanton Bern seit der ersten Minute eng begleitet. Und dieses gegenüber Kritiker*innen stets «als grosse Chance» verteidigt.
Lorenz Hess ist Nationalrat der Mitte, Verwaltungsratspräsident der Krankenkassen-Gruppe Visana und Inhaber der Consultingfirma Hess Advisum. Seit 22 Jahren ist er Gemeindepräsident von Stettlen. «Jetzt, da ich endlich begriffen habe, wie es geht, höre ich auf», witzelt er beim Gespräch, das in der Co-Working-Area der Visana am Bärenplatz in Bern stattfindet. Am Mittwoch leitet Hess im Saal des Restaurants Linde in Stettlen seine letzte Gemeindeversammlung.
Der schwarze Tag 2010
Jetzt aber denkt Lorenz Hess kurz zurück an den 8. April 2010, als der österreichische Mutterkonzern Mayr-Melnhof die Schliessung der Kartonfabrik Deisswil verordnete. «Ein schwarzer Tag für Stettlen», so formulierte es Hess damals. 250 Arbeiterinnen waren ohne Job, der Gemeinde kam ein Steuerzahler abhanden, der bei gutem Geschäftsgang das Ergebnis der Gemeinderechnung spürbar beeinflusste.
Investor Hans-Ulrich Müller – der am Montag in Bern am Zibelemärit von den Stadtschützen als Oberzibelegring ausgezeichnet wurde – hörte damals im Zug von Basel nach Bern die News von der Fabrikschliessung. Er beschloss umgehend, den Industriekomplex aufzukaufen. Nicht einmal zwei Monate später war die Übernahme vollzogen.
Das definierte auch das Jobprofil des Gemeindepräsidiums von Stettlen neu.
Dienstflug nach Wien
Von einem Tag auf den anderen wandelte sich das politische Nebenamt von Lorenz Hess zu einer taskforcemässig intensiven Teilzeitbeschäftigung. Sie beinhaltet die Bearbeitung heikler Strategiefragen, die mehr mit Stadt- als mit Dorfplanung zu tun haben. «Das Pensum des Gemeindepräsidiums beanspruchte zwischenzeitlich 50 Prozent meiner Arbeitszeit», sagt Hess. Wäre er beruflich (und finanziell) nicht so flexibel gewesen, hätte er wohl kapitulieren müssen.
So aber wurde Lorenz Hess «zum wohl einzigen Gemeindepräsidentlein einer kleinen Berner Gemeinde, das auf einen Dienstflug ins Ausland geschickt wurde», wie er selbstironisch anmerkt. Hess flog von Belpmoos nach Wien an den Hauptsitz von Mayr-Melnhof. Dort erläuterte er der Konzernspitze die Umnutzungspläne und das komplexe schweizerische Bewilligungssystem, das bei einem so grossen Projekt berücksichtigt werden muss.
Stettlens Privileg
Die wirklich schwierigen Fragen trieben den Gemeindepräsidenten allerdings zu Hause um. «Natürlich wäre es für die Gemeinde das Beste gewesen, die Kartonfabrik hätte einfach weiter existiert», sagt Hess. Aber er habe sich bemüht, die lokale Katastrophe «möglichst von Beginn weg auch als Chance zu sehen».
Stettlen verfügte plötzlich über ein Gelände, auf dem Wohnungsbau möglich ist, ohne dass Kulturland geopfert werden muss: «Welche Gemeinde kann das von sich behaupten?» Zudem war Hans-Ulrich Müller laut Hess bereit, «Hunderte Millionen Franken zu investieren».
Der bachsteinerne Kamin ist unübersehbar. Er wirkt wie ein erhobener Zeigefinger, wenn man aus dem einsamen Gümligental nach Stettlen hinunterschaut. Hier passiert etwas, signalisiert der Schlot der früheren Kartonfabrik Deisswil. Der mächtige Industriekomplex wird schrittweise umgebaut zu einem urban anmutenden Quartier namens Bernapark, in dem gearbeitet, gewohnt, gelebt wird.
Bern ist nicht berühmt für seinen Unternehmergeist. Der Bernapark ist ein Wagnis draussen im Grünen. Als Inspirationsort für Start-ups will das Zentrum für Innovation und Digitalisierung (ZID), in dessen geräumigem Co-Working-Space die «Hauptstadt»-Redaktion eine Woche lang gearbeitet hat, junges Unternehmertum fördern. Wörter wie Pioniergeist stehen an der Wand, ab und zu fährt ein Servierroboter durch den Gang, irgendwo steht: «Have you found Steve Jobs in you?».
Die «Hauptstadt», selber ein junges, kämpferisches Unternehmen, hat hingeschaut im Bernapark Deisswil und in der Gemeinde Stettlen.
Ein Privileg, findet Hess. Auch wenn er ja einer ist, der Wachstum hinterfragt. Die Ex-Kartonfabrik einfach sich selber zu überlassen, wäre für ihn jedoch die allerschlechteste Variante gewesen. «Wir hätten heute eine überwucherte Ruine mit zerschlagenen Scheiben», sagt er. «Vielleicht wäre die Ex-Kartonfabrik besetzt, in Stettlen würde man wohl von einem Schandfleck reden.» Und der Gemeindepräsident würde wohl verzweifelt jemanden suchen, der dafür die Verantwortung übernimmt.
Revision der Ortsplanung
Im Vollausbau soll der Bernapark die Anmutung eines Stadtquartiers haben. Es soll nebeneinander gewohnt, gearbeitet und die Freizeit verbracht werden. Nächstes Jahr zieht die Schule für Gestaltung für mindestens 10 Jahre ein. Rund 2000 Personen, so die Vision, werden dereinst auf dem früheren Industriestandort wohnen.
Bis dahin wird es aber noch dauern. 2016 bewilligten die Stettler Stimmberechtigten vorerst eine Umzonung, so dass bis jetzt ein Drittel des Areals gemäss der letzten Ortsplanung ausgebaut wurde.
Dazu gehören etwa die 175 Wohnungen, die die Bernapark AG vermietet, oder das Zentrum für Innovation und Digitalisierung (ZID), in dem die «Hauptstadt»-Redaktion eine Woche lang gearbeitet hat. Entscheidend für die Weiterentwicklung des Bernaparks wird die Ortsplanungsrevision sein, die nach einer Verschiebung im Frühjahr 2024 zur Abstimmung kommen soll.
Ohne Hochhäuser
Lorenz Hess verschweigt nicht, dass der Bernapark ihn und die relativ kleine Gemeindeverwaltung zwischenzeitlich an die Grenzen bringt. «Wir mussten die Frage beantworten, wie viel Wachstum die Gemeinde langfristig verträgt», sagt Hess.
Es geht unter anderem darum abzuschätzen, wie viele Folgekosten – etwa für Infrastruktur oder Schulraum – entstehen. Eine Gleichung mit sehr vielen Variablen, auch unberechenbaren, wie etwa der Demografie. Das hiess: «Wir mussten den Mut haben, klare Annahmen zu treffen.»
Das wiederum bedeutet: Die Gemeinde müsse fähig sein, dem Investor, den man grundsätzlich als Partner versteht, in der Rolle als Bewilligungsbehörde die beschlossenen Grenzen zu setzen. «Wir haben auch harte Auseinandersetzungen geführt», hält Hess fest.
Ein Beispiel: die Ausnützungsziffer, die für einen Investor logischerweise möglichst hoch sein sollte. Trotzdem wird nun in Deisswil auf Hochhäuser, von denen Hans-Ulrich Müller immer wieder gesprochen hatte, verzichtet.
Die Frage der Rendite
Laut Lorenz Hess hat der Bernapark heute in Stettlen eine gute Akzeptanz – ausser bei einer kleinen Gruppe hartnäckiger Gegner*innen. Aber verträgt Stettlen wirklich ein zweites Dorfzentrum? «Zwischen dem Bernapark und dem alten Stettler Dorfzentrum liegen sechs Gehminuten», entgegnet Hess, «wer von zwei Zentren redet, kennt die wahren Dimensionen unserer kleinen Gemeinde nicht.»
Es stimme zwar, dass in den letzten Jahren zwei, drei Traditionsläden im Dorf aufgegeben haben – mit dem Bernapark habe das aber nichts zu tun. Im Gegenteil: Dieser führe zu einer Belebung. Nicht zuletzt deswegen eröffne im Dorfzentrum bald eine Migros-Filiale. «In der Gemeinde Stettlen gibt es zwei Bäckereien, zwei Restaurants, zwei Hotels und in Kürze sowohl Coop wie Migros. Ein aussergewöhnliches Angebot für eine kleine Gemeinde.»
Eine Kritik, der Hess in Stettlen häufig begegnet, lautet: Letztlich gehe es dem Investor und früheren CS-Banker Hans-Ulrich Müller nicht um Stettlen. Sondern darum, mit seiner Investition eine Rendite zu erwirtschaften.
Lorenz Hess hat sich dafür eine ökonomische Antwort zurechtgelegt, die er nur schon von der Wortwahl her für strassen- und stammtischtauglich hält. «Wenn Hans-Ulrich Müller nicht einen Plan hätte, wie sich die Investitionen im Bernapark langfristig rechnen, müsste man ihn einliefern.»
Das Gespür des Ureinwohners
Er hoffe doch sehr, wiederholt Hess, dass Müller und seine Familie Renditeabsichten hegen. Das sei die beste Garantie dafür, dass der Bernapark nicht als rauchende Ruine einer grossen Vision ende.
Er sei ein Ureinwohner von Stettlen, sagt Lorenz Hess von sich. Einmal habe er vorübergehend in Oberdiessbach gelebt, weiter weg von Stettlen sei er nie gezogen. Man könne ihm fehlende Weltläufigkeit vorwerfen, aber er habe ein Gespür dafür, was in Stettlen funktioniere und was nicht.
Der Bernapark sei eine Wette auf die Zukunft seiner Gemeinde, bei der er ein gutes Gefühl habe.