Sucht und Willensschwäche

In seiner Kolumne schreibt Philosoph Christian Budnik, was Sucht von Willensschwäche unterscheidet. Und warum süchtige und nicht süchtige Menschen einander nicht aus dem Blick verlieren sollten.

Illustration für die Philo Kolumne
Illustration (Bild: Silja Elsener)

Die erste Person, die ich in Bern getroffen habe, war ein Drogensüchtiger. Ich war gerade aus dem Nachtzug aus Berlin gestiegen und lief mit meinem Gepäck am menschenleeren Bollwerk entlang. Am Rande des Reitschulareals gab es damals eine Telefonzelle, in der ein etwas mitgenommen aussehender junger Mann dabei war, auf einem Stück Alufolie etwas mit einem Feuerzeug zu erhitzen. Unsere Blicke begegneten sich, und wir lächelten uns müde an.

Ich lächelte, und doch hatte mich der Anblick erschrocken. Und obwohl ich erschrocken war, war ich auch froh um diese kleine Begegnung, die es in Städten mit einer restriktiveren Drogenpolitik so nicht gegeben hätte.

Die Ambivalenz bleibt

Diese Ambivalenz spüre ich bis heute, etwa immer dann, wenn ich an der Contact-Anlaufstelle für Suchtmittelabhängige vorbeilaufe: Trotz der ernsten Lage, in der sich viele der Abhängigen befinden, bin ich auch froh, dass wir einander sehen, einander grüssend zunicken oder ein paar Worte miteinander wechseln können.

Daran, dass die Situation nicht immer so entspannt war, wurde zuletzt aus Anlass der vor 30 Jahren erfolgten Schliessung der Drogenszene im Kocherpark erinnert. Die Berichte aus dieser Zeit machen auf eindrucksvolle Weise deutlich, wie gross die sozialpolitische Herausforderung ist, vor die wir von dem Phänomen der Suchtmittelabhängigkeit gestellt werden. Dieses Phänomen hat aber auch eine genuin philosophische Dimension, die uns dabei helfen kann, die Lage von suchtmittelabhängigen Personen besser zu verstehen.

Das zentrale Merkmal von Willensschwäche besteht darin, dass die handelnde Person etwas tut, obwohl sie der festen Überzeugung ist, dass sie es nicht tun sollte.

Dass Sucht für die Philosophie interessant ist, liegt daran, dass sie ein Problem des Willens darstellt. Die süchtige Person – und hier mache ich die problematische Annahme, dass es überhaupt «die» süchtige Person gibt – tut etwas, obwohl sie es nicht tun will: Sie konsumiert das Suchtmittel. Auch Personen, die nicht suchtmittelabhängig sind, kennen solche Willensprobleme. Für manche lauern sie in der Gelateria, die man eigentlich nur einmal in der Woche aufsuchen wollte. Andere werden ihrem Vorsatz untreu, jeden zweiten Tag an der Aare laufen zu gehen. Wiederum andere Fälle ergeben sich aus der Neigung, Aufgaben so lange aufzuschieben, bis es zu spät ist, sie zu erledigen.

Die Philosophie interessiert sich seit über zweitausend Jahren für solche Formen der Irrationalität und hat für sie einen Namen, den wir auch im Alltag selbstverständlich verwenden: Wer in der Gelateria der Versuchung nicht widerstehen kann, verhält sich willensschwach.

Fehlt die Willensstärke?

Das zentrale Merkmal von Willensschwäche besteht darin, dass die handelnde Person etwas tut, obwohl sie der festen Überzeugung ist, dass sie es nicht tun sollte – sie handelt gegen ihr bestes Urteil. Ich weiss etwa, dass es im Hinblick auf meine Gesundheit zwingend nötig wäre, dass ich jede Woche an der Aare laufen gehe. Und doch bleibe ich tagelang zuhause und schaue mir neue Folgen meiner Lieblingsserie an. Zumindest bei einigen Süchtigen verhält es sich ganz ähnlich: Sie wissen oft ganz genau, dass es alles in allem besser wäre, das Suchtmittel nicht zu konsumieren, und dennoch verhalten sie sich entgegen diesem Urteil. Auf den ersten Blick scheint ihr Problem darin zu bestehen, dass sie nicht genügend Willensstärke an den Tag legen.

Es sprechen allerdings zwei Überlegungen gegen eine Gleichsetzung von Sucht und Willensschwäche. Zum einen lässt sich Willensschwäche punktuell an den Tag legen, während dies bei der Sucht begrifflich ausgeschlossen ist: Es kann etwa sein, dass eine Person sehr gut darin ist, ihren Süssigkeitenkonsum zu regulieren, aber an einem einzigen Tag ihres Lebens über die Stränge schlägt und drei grosse Portionen Glace auf einmal isst. Sie war an diesem einen Tag eben willensschwach. Umgekehrt fällt es schwer, sich eine süchtige Person vorzustellen, die nur einmal im Leben ein Suchtmittel konsumiert.

Sind die Entscheidungen frei?

Selbst wenn wir Sucht als eine Art wiederholte oder hartnäckige Willensschwäche verstehen würden, ergibt sich aber zweitens das Problem, dass eine willensschwache Person immer aus freien Stücken handelt, während das bei süchtigen Personen nicht der Fall ist. Es ist keinesfalls so, dass mich unwiderstehliche Kräfte von dem geplanten Aarelauf abgehalten haben. Ich hätte mich sehr wohl dazu entscheiden können, meine Laufschuhe zu schnüren, habe es aber nicht getan. Und das geht dann auf meine Kappe. Die Annahme von Freiheit erklärt, warum wir Personen, die willensschwach gehandelt haben, für ihre Handlungen für verantwortlich halten: Sie hätten anders handeln können, wird dann argumentiert, also sind sie für die Folgen ihrer willensschwachen Handlungen auch selbst verantwortlich.

Was bedeutet es, dass der Wunsch, ein Suchtmittel zu konsumieren, «unwiderstehlich» für Süchtige ist?

Es stellt nun eine genuine Errungenschaft unserer Gesellschaft dar, Suchtverhalten nicht mehr als etwas zu verstehen, wofür süchtige Personen in einem relevanten Sinne verantwortlich zu machen sind. Sucht und Abhängigkeit werden heutzutage in der Regel als Erkrankungen verstanden, die in unterschiedlichem Ausmass die Zurechenbarkeit von süchtigen Personen mindern. Die Einsicht in den Zwangscharakter von Suchterkrankungen hat zudem unmittelbaren Einfluss auf den gesellschaftlichen Umgang mit süchtigen Personen: Sie sollen nicht bestraft werden, sondern brauchen unsere Hilfe.

Sucht ist komplex

Die direkt miteinander verwandten Begriffe der Freiheit und des Zwangs können an dieser Stelle allerdings die Komplexität der Situation von suchtmittelabhängigen Personen verdecken. Was heisst es denn genau, dass sie «unfrei» sind? In welchem Sinne unterliegt ihr Verhalten einem Zwang? Was bedeutet es, dass der Wunsch, ein Suchtmittel zu konsumieren, «unwiderstehlich» für sie ist?

Weil Sucht ein komplexes psychologisches Phänomen darstellt, sind hier keine eindeutigen Antworten zu erwarten. So gilt nur für einige süchtige Personen, dass sie im wörtlichen Sinne unfrei sind, wenn es um den Konsum des Suchtmittels geht. Sie sind es insofern, als sie völlig unfähig sind, auf die Gründe zu reagieren, die dagegen sprechen, das Suchtmittel zu konsumieren. In diesem Sinne handeln sie an sich selbst vorbei und erfahren ihre Sucht – nicht selten sehr schmerzhaft – als einen externen Einfluss.

Süchtige erkennen immer noch, dass ihr Suchtverhalten die Beziehungen zu ihren Freund*innen untergräbt, aber diese Freundschaften erscheinen ihnen zunehmend weniger wertvoll.

Empirische Untersuchungen zeigen allerdings, dass Suchtverhalten variieren kann, wenn man die Randbedingungen des Suchtmittelkonsums verändert – so etwa in Abhängigkeit vom Umfeld der suchtmittelabhängigen Person. Viele süchtige Personen schaffen es zudem, sich ohne fremde Hilfe aus ihrer Sucht zu befreien, und die Hilfsmassnahmen, die in anderen Fällen Erfolg versprechend sind, unterscheiden sich zum Teil sehr deutlich voneinander.

Das alles spricht zum einen wiederum dafür, dass Sucht ein komplexes psychologischen Phänomen ist, das individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Zum anderen scheinen viele süchtige Personen nicht in dem Sinne unfrei zu sein, dass sie die Gründe, die gegen den Suchtmittelkonsum sprechen, gar nicht mehr sehen können. Einem Modell von Sucht zufolge geraten diese Gründe für süchtige Personen lediglich aus dem Fokus, weil ihre Aufmerksamkeit immer mehr auf den Konsum des Suchtmittels gerichtet ist. Sie erkennen immer noch, dass ihr Suchtverhalten etwa die Beziehungen zu ihren Freund*innen untergräbt, aber diese Freundschaften erscheinen ihnen zunehmend weniger wertvoll.

In dieser Hinsicht lässt sich von süchtigen Personen sagen, dass sie zwar immer noch frei sind, aber eben nicht ganz. Dieses Urteil mag befremdlich klingen – kann man denn nur halb frei sein? –, aber ich kann auf diese Weise zumindest etwas besser meine eingangs angesprochene Ambivalenz gegenüber süchtigen Personen verstehen: Sie sind mir fern, weil sie die Kontrolle über ihr Handeln verloren haben und ihr Leben auf leidvolle Weise in einen Zustand steuern, in dem sie mit dem Suchtmittel allein sind. Umgekehrt sind sie mir aber auch nah, weil ich Willensprobleme aller Art aus eigener Erfahrung gut kenne und weiss, dass sie untrennbar verbunden sind mit Wesen, für die Freiheit überhaupt wichtig ist. Politisch mag sich aus dieser Freiheitsambivalenz ein doppelter Imperativ zwischen Laissez-faire und Restriktion ergeben: Wir sollten Süchtige nicht wie kleine Kinder behandeln, denen man Dinge einfach verbieten kann; gleichzeitig muss es uns aber auch darum gehen, sie daran zu erinnern, dass es gute Gründe für ein Leben ohne Suchtmittel gibt. Und das geht eben am besten, wenn wir einander nicht aus dem Blick verlieren.

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

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