Grenzen, die schmerzen
Das Polit-Forum Bern bringt mit einer übernommenen Ausstellung zum Vertrag von Lausanne von 1923 internationale Relevanz nach Bern. Sehenswert.
Der Vertrag von Lausanne von 1923? Ist eine komplizierte Angelegenheit auf viel Papier, der man in der Schweiz normalerweise wenig Beachtung schenkt.
Deshalb ist es verdienstvoll, dass das historische Museum von Lausanne zum 100-Jahr-Jubiläum des Vertrags die Ausstellung «Frontières. Grenzen» zeigt. Sie schält heraus, was die damals neu gezogenen Grenzen bis in die Gegenwart verursachen. Vereinfacht gesagt: Was die Delegationen der Siegermächte des Ersten Weltkriegs 1923 in Lausanne aushandelten, wird einerseits als Gründungsdatum der modernen Türkei gefeiert. Andererseits schmerzen die neuen Grenzen Millionen von Menschen – Kurd*innen, Armenier*innen, Aramäer*innen, Jesid*innen – bis heute. Auch solche, die in der Schweiz und in Bern leben.
Im Polit-Forum Bern im Käfigturm ist bis zum 7. Oktober der wichtigste Teil der Lausanner Ausstellung zu sehen. Sie ist von der Ethnologin Gaby Fierz konzipiert worden. In Bern übernommen wurden 12 Video-Interviews mit Schweizer*innen, die unter anderem türkische, griechische, kurdische oder armenische Wurzeln haben. Ihnen gemeinsam ist, dassdie Familiengeschichte im Vertrag von Lausanne weiterwirkt.
Beim Berner Grossrat Hasim Sancar (Grüne) zum Beispiel, der im Osten der Türkei geboren wurde und 1982 nach dem Militärputsch in die Schweiz kam. Die Kurd*innen sind das grösste Volk der Welt, das – als Folge des Vertrags von Lausanne – ohne eigenen Staat ist. Die kurdische Sprache verschwinde bei der jüngeren Generation seiner Familie nach und nach, stellt Hasim Sancar im Video fest.
In Lausanne legten die Diplomaten – ausschliesslich Männer – die Grenzen der heutigen Türkei fest – und besiegelten das Schicksal ethnischer und religiöser Minderheiten. Leitmotiv waren ethnisch und religiös gesäuberte Staaten. Der Vertrag beschönigte die Vertreibung von 1,2 Millionen Menschen griechisch-orthodoxen Glaubens aus der Türkei und umgekehrt rund 400’000 Muslim*innen aus Griechenland als «Bevölkerungsaustausch».
Zudem: In Lausanne wurden die Interessen von Minderheiten – Kurd*innen, Armenier*innen, Aramäer*innen, Jesid*innen – komplett unter den Tisch gewischt.
Kurz nach dem Ersten Weltkrieg war die Vertreibung und Ermordung von rund zwei Millionen Armenier*innen offiziell anerkannt worden, ihnen wurde – wie auch den Kurd*innen – im Gegenzug sogar ein eigener Staat versprochen. In Lausanne war plötzlich alles Makulatur. Die Vertragsparteien ignorierten die früheren Versprechen und erwähnten die Minderheiten nicht mehr. Es war wichtiger, die moderne Türkei ins westliche Machtbündnis aufzunehmen.
Dass das historische Museum von Lausanne und nun auch das Polit-Forum diesem Vertragswerk eine Ausstellung widmen, ist ein mutiger kultureller Akt. Weil Druck von offizieller Seite ausgeübt wird: Der türkische Staat habe über seine Vertretung in der Schweiz mehrmals bei ihm interveniert und unmissverständlich sein Missfallen über die Darstellung der Folgen des Vertrags von Lausanne kundgetan, sagte Museumsdirektor Laurent Golay kürzlich bei einem Auftritt im Polit-Forum.
Wenn die Türkei verstimmt ist, fürchtet man schnell um die wirtschaftlichen Interessen des Exportlandes Schweiz. Für Golay ist es aber keine Option, deswegen den historischen Fakten nicht in die Augen zu schauen.
«Frontières. Grenzen.» Ausstellung im Polit-Forum bis zum 7. Oktober. Veranstaltungen: Mittwoch, 20.9. 18.00 - 19.30, Demokratie-Bar mit Nilüfer Koc vom kurdischen Nationalkongress; Montag, 25.9., 19.30 Uhr: Filmprojektion «Burning Days» von Emin Alper, Kino Rex. Mittwoch, 27.9., 18.30 Uhr: Podiumsdiskussion zur Frage, wie Kunst und Kultur das Erbe des Vertrags von Lausanne neu denken. Leitung: Gaby Fierz, Ausstellungsmacherin.