Nothilfe als Druckmittel
Auch abgewiesene Asylsuchende haben Rechte. Aber wie viele? Das Berner Verwaltungsgericht verhandelt am Donnerstag über zwei Grundsatzentscheide zum behördlichen Druck auf Sans-Papiers.
Die Geschichte von Mojtoba Pishehvar ist so schwer, dass sie einen erdrücken könnte. Dennoch kreiert der 47-Jährige im Migros-Restaurant in der Berner Altstadt Leichtigkeit, wie er sitzt und erzählt. Er lächelt warm, dämpft seine ohnehin sanfte Stimme, um die Leute an den anderen Tischen nicht zu stören. Er erfreut sich am Capuccino, den man ihm bringt und kommt, als er vom Gespräch eine kurze Pause braucht, mit süssen Waffeln zum Teilen wieder zurück: «Ein Zvieri», sagt er.
Mojtoba Pishehvar lebt seit zehn Jahren in der Schweiz. Er spricht fliessend Deutsch. Im Iran, aus dem er floh, war er Lastwagenfahrer gewesen. In den fünf Jahren, in denen die Schweizer Migrationsbehörden sein Asylgesuch prüften, arbeitete er als Velomech. Er machte eine Vorlehre und begann danach eine Berufslehre.
Im November 2020 wurde sein Asylgesuch definitiv abgelehnt. Er hatte nach Ansicht der Behörden zu wenig glaubhafte Beweise vorgebracht, im Iran politisch verfolgt zu sein.
Pishehvar musste seine Lehre abbrechen. Er wurde, wie alle abgewiesenen Asylsuchenden, mit einem Arbeitsverbot belegt und aus der Sozialhilfe ausgeschlossen. Nur die Nothilfe steht ihm seither noch zu. Sie ist das grundrechtlich garantierte Minimum, das die Schweiz allen Menschen gewähren muss, die hier leben. Im Kanton Bern umfasst die Nothilfe neben Krankenkasse und Unterkunft einen Geldbetrag von zehn Franken pro Tag. Der muss ausreichen für Essen, Hygiene, Kleider, Mobilität und alles andere.
Ausschaffen können die Behörden Mojtoba Pishehvar nicht. In den Iran sind zwangsweise Ausschaffungen nicht möglich. Freiwillig wird er, wie auch andere seiner Landsleute, nicht zurückreisen.
Mit dem negativen Asylentscheid beginnt Mojtoba Pishehvars Geschichte als Sans-Papier, der zwar keinen Aufenthaltstitel mehr in der Schweiz hat, aber trotzdem hier lebt, den Behörden bekannt und auch Träger von Grundrechten ist. Die Geschichte ist lang und bewegt.
Ein Teil davon führt zur Krebsbehandlung ins Inselspital. Und ein anderer, für Pishehvar viel kleinerer Teil, ans Berner Verwaltungsgericht. Dieses wird sich am Donnerstag mit seinem Fall beschäftigen.
Private Unterbringung nur bei Gang auf Botschaft
Als Pishehvar 2020 in die Nothilfe-Strukturen überführt wurde, fand er über Kontakte aus der Kirche eine Familie, die ihn in ihrem Haus in Allmendingen bei Bern wohnen lassen wollte.
Dafür musste Pishevar ein Gesuch beim Berner Migrationsdienst stellen. Denn normalerweise werden abgewiesene Asylsuchende in Rückkehrzentren untergebracht – wenig komfortable Kollektivunterkünfte, die Personen dazu bewegen sollen, das Land zu verlassen.
Dank dem Engagement von Zivilpersonen erlaubt der Kanton Bern seit einigen Jahren jedoch auch eine private Unterbringung. Seit Ende 2022 ist diese Möglichkeit auch im Gesetz verankert. Für die Miete der bei ihnen untergebrachten Personen müssen die Gastgeber*innen aufkommen. Seit der Gesetzesänderung wird den Untergebrachten aber die Nothilfe von 10 Franken pro Tag weiterhin ausbezahlt.
Der Migrationsdienst hiess Mojtaba Pishehvars Gesuch gut. Er lebte im Erdgeschoss eines Einfamilienhauses, mit ihm auf dem Stock der älteste Sohn von drei Kindern, ein Teenager. Das habe für alle gut funktioniert, sagt Pishehvar.
Die Bewilligung für die Privatunterbringung musste alle sechs Monate verlängert werden. Einmal gelang das ohne Probleme. Beim zweiten Mal, im Sommer 2022, lud der Migrationsdienst Pishehvar zu einem «Ausreisegespräch» ein. Dort wurde ihm mitgeteilt: Wenn er sich weiterhin nicht bei der iranischen Botschaft melde, um einen Pass zu beschaffen (damit er schlussendlich das Land verlassen würde), würden die Behörden die private Unterbringung nicht weiter erlauben.
Pishehvar erklärte den Behörden, er würde nicht auf die Botschaft gehen, weil er sich dadurch dem iranischen Regime aussetzen würde.
Als Konsequenz wurde seine Erlaubnis für eine Privatunterbringung nicht verlängert. Pishehvar verletze seine Mitwirkungspflicht bei der Pass-Beschaffung, so die Begründung.
Mojtaba Pishehvar musste gegen den Willen seiner Gastfamilie ins Rückkehrzentrum Gampelen umziehen. Auch ein neues Gesuch um Privatunterbringung wurde verweigert.
Kein Einzelfall
Gegen diesen Entscheid reichte der Berner Rechtsanwalt David Krummen für Pishehvar eine Beschwerde bei der kantonalen Sicherheitsdirektion ein.
Denn Pishehvars Situation ist kein Einzelfall. Seit der Gesetzesänderung im Jahr 2022 wurden immer wieder ähnliche Fälle bekannt. Die «Hauptstadt» hat vor zwei Jahren darüber berichtet. Der zuständige Regierungsrat Philippe Müller (FDP) nannte den Vorwurf einer Praxisverschärfung, die die Migrationsbehörden gegen den Willen des Gesetzgebers veranlasst hätten, damals «ein Märchen».
Mit der Beschwerde von Mojtaba Pishehvar muss juristisch geklärt werden, ob diese Praxis der Migrationsbehörden rechtmässig ist.
Wenig überraschend lehnte die kantonale Sicherheitsdirektion unter Philippe Müller die Beschwerde ab. In einem schriftlichen Entscheid von April 2024 begründete die Behörde das so: Die private Unterbringung sei eine privilegierte Form der Nothilfe. Das in der Bundesverfassung garantierte Minimum sei aber weiterhin gewährleistet, wenn man der Person eine Unterkunft in einem Rückkehrzentrum biete. Deshalb dürften die Behörden die private Unterbringung verweigern, wenn Personen die Mitwirkungspflicht verletzen.
Wurden Grundrechte verletzt?
Pishehvar zog den Entscheid ans Berner Verwaltungsgericht weiter. In der Beschwerde, die der «Hauptstadt» vorliegt, beruft sich sein Rechtsanwalt auf die Grundrechte von Mojtaba Pishehvar. Sein Recht auf Hilfe in Notlagen, auf das die Nothilfe gestützt ist, sei verletzt worden. Behörden dürften dieses Recht nicht an die Beschaffung eines Reisepasses knüpfen.
Mit dem Entscheid, dass Pishehvar im Rückkehrzentrum wohnen muss, obwohl ihm eine Privatperson eine Unterkunft anbietet, werde er gezwungen, eine staatliche Leistung in Anspruch zu nehmen. Die Privatunterbringung sei keine privilegierte Form der Nothilfe, sondern einfach eine freiwillige Zuwendung unter Privatpersonen. Den Anspruch auf Nothilfe davon abhängig zu machen, dass eine Person im Rückkehrzentrum lebt, sei rechtswidrig. Die Anwesenheitspflicht in einem Rückkehrzentrum verletzte ausserdem die Grundrechte auf Bewegungsfreiheit und Privatleben des Betroffenen.
Nun muss das Berner Verwaltungsgericht diese Fragen beurteilen.
Es verhandelt darüber an einer öffentlichen Sitzung, die am Donnerstag stattfindet. Das ist selten – normalerweise fällt das Verwaltungsgericht seine Entscheide schriftlich. Eine öffentliche Sitzung wird nur dann einberufen, wenn sich die Richter*innen in einer entscheidenden Frage nicht einig sind. Dann führen sie eine öffentliche Urteilsberatung durch.
Das Gericht wird gleich zwei Grundsatzentscheide zur Nothilfe fällen. Es behandelt die Beschwerde von Mojtoba Pishehvar zusammen mit einer weiteren Beschwerde, die ebenfalls Rechtsanwalt David Krummen für einen anderen Mandanten führt.
Anwesenheitspflicht im Rückkehrzentrum
Auch in der zweiten Beschwerde geht es um die Nothilfe. Beschwerdeführer ist ein abgewiesener Asylsuchender aus Eritrea. Auch er war im Rückkehrzentrum Gampelen untergebracht.
Dort müssen Bewohner*innen täglich mit einer Unterschrift ihre Anwesenheit bestätigen. Nur dann erhalten sie die Nothilfe. Das ist in den Rückkehrzentren des Kantons Bern üblich.
Der Bewohner meldete sich mehrmals nicht und übernachtete ausserhalb des Zentrums. Also schloss ihn die private Sicherheitsfirma ORS AG, die das Zentrum betreibt, von der Nothilfe aus.
Gegen diesen Entscheid richtet sich die Beschwerde aus dem Jahr 2021. Auch hier argumentiert Krummen, die Grundrechte des Mannes seien verletzt worden. Ausserdem sei die ORS AG als private Firma gar nicht berechtigt, so einen Entscheid zu fällen.
Auch diese Beschwerde wies die Berner Sicherheitsdirektion ab, worauf der Beschwerdeführer sie ans Verwaltungsrecht weiterzog.
«Recht auf Nothilfe darf kein Druckmittel sein»
Damit hat das Verwaltungsgericht zwei Grundsatzentscheide zu den Lebensbedingungen von abgewiesenen Asylsuchenden zu fällen.
Dass die Grundrechte auch für Menschen ohne Aufenthaltspapiere gelten, ist unbestritten. Aber wie stark dürfen diese Rechte eingeschränkt werden? Darf man Nothilfebeziehende zwingen, in Rückkehrzentren zu wohnen? Darf man den Entzug der privaten Unterbringung als Druckmittel benutzen?
Darüber müssen die Verwaltungsrichter*innen am Donnerstag per Mehrheitsentscheid urteilen. Kämen sie zum Schluss, dass die beiden Entscheide der Sicherheitsdirektion die Grundrechte der Beschwerdeführer verletzt haben, würde sich das erheblich auf die Lebensumstände von nothilfebeziehenden Personen im Kanton Bern auswirken.
Denn die Bedingungen in Rückkehrzentren sind wenig lebenswert. Letztes Jahr kam eine Studie zum Schluss, dass sie besonders für Kinder gesundheitsschädigend sind. Die Unterkünfte sind eng und oft abgelegen, Personen werden in Mehrbettzimmern untergebracht, Beschäftigung gibt es kaum und regelmässig kommt die Polizei, um Menschen abzuholen und auszuschaffen. Auch Gewaltvorfälle, Suizidversuche oder Suizide gibt es immer wieder. Vielen Bewohnenden geht es psychisch nicht gut.
Rechtsanwalt David Krummen sagt: «Es geht in diesen Fällen um die Wahrung der Grundrechte von Personen ohne Aufenthaltsrecht. Der Entscheid wirkt sich direkt auf das Leben dieser Menschen aus.» Deshalb sei es wichtig, dass diese Grundsatzfragen gerichtlich geklärt werden. Krummen ist überzeugt: «Das Recht auf Nothilfe darf nicht zu einem Druckmittel verkehrt werden.»
Eine Gutheissung der Beschwerden wäre auch eine Schlappe für Regierungsrat Philippe Müller, der die Praxis der Behörden im Zusammenhang mit der Privatunterbringung bisher vehement verteidigt hat.
Vor allem gesund werden
Mojtoba Pishehvar wird an der Verhandlung teilnehmen, wenn es seine Gesundheit erlaubt. «Die Zeit, nachdem ich nach Gampelen umziehen musste, war sehr schwierig für mich», erzählt er im Migros-Restaurant. Er hielt sich psychisch über Wasser mit dem Austausch mit Freunden, seiner Kirchgemeinde, mit Deutsch lernen. Bis dieses Jahr eine unerwartete Krebsdiagnose alles änderte.
Pishevahr verbrachte mehrere Monate im Spital. Als er entlassen wurde, wollte ihn der Kanton Bern wieder in ein Rückkehrzentrum stecken. Aber sein Anwalt stellte ein Gesuch für eine befristete Privatunterbringung, denn Pishevahr ist wegen der Krankheit momentan auf Hilfe im Alltag angewiesen. Er geht an Krücken und hat ein extrem geschwächtes Immunsystem.
Wegen seinem Gesundheitszustand wurde das Gesuch diesmal gutgeheissen – für sechs Monate. Jetzt lebt er in einer WG im Emmental, seine Mitbewohner*innen helfen ihm beim Einkaufen und Kochen. «Ich wohne sehr, sehr gerne dort», sagt Pishehvar. Mehrmals pro Woche muss er nach Bern ins Inselspital für eine Therapie. Die ÖV-Tickets dorthin muss er selbst bezahlen – von den zehn Franken Nothilfe pro Tag. Wenn es ihm wieder besser geht, muss er zurück in ein Rückkehrzentrum.
«Ich hoffe, dass meine Beschwerde positiv ausgeht», sagt Pishehvar. Aber am meisten wünsche er sich momentan, wieder gesund zu werden.
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