Vier Coiffeure und ein saurer Espresso
Der Breitschplatz ist das Zentrum des Nordquartiers. Ein Zentrum, das sich in den letzten Jahren gewandelt hat. Aber in welche Richtung? Ein Nachmittag am Breitschplatz mit verschiedenen Menschen.
Was am Breitschplatz auffällt, ist die hohe Coiffeur-Dichte. Und, als wäre das nicht genug, ist zwischen vier Coiffure-Geschäften an der Moserstrasse auch noch Coiffure Suisse einquartiert, der Verband der Schweizer Coiffeurgeschäfte. Notabene in einem Haus mit dem historischen Schriftzug «Coiffeurhaus».
Remigio Funiciello sagt ein bisschen überspitzt: «Früher konntest du hier in der Metzgerei, der Bäckerei, vielleicht in fünf verschiedenen kleinen Läden einkaufen. Jetzt ist überall ein Coiffeur drin.»
Funiciello ist als Migrant erstmals in den 1970er Jahren in den Breitenrain gezogen und hat, wie viele andere Einwanderer, in der Maschinenfabrik Wifag im Wyler gearbeitet. Heute betätigt sich der 72-Jährige für ein symbolisches Entgelt im Quartierlokal Breitsch-Träff und wohnt – auf Vermittlung von Bekannten – immer noch preiswert im Breitenrain. Denn eine Wohnungsmiete zum Marktpreis könnte er sich hier nicht mehr leisten.
In den letzten Jahren wurden im Breitenrain viele Häuser saniert, die Mietpreise angehoben. Für eine Eigentumswohnung im Quartier zahlt man heute gut und gerne das Doppelte wie vor 25 Jahren. Mittlerweile gehört der Breitenrain neben der Länggasse und dem Kirchenfeld für Wohneigentum zu den drei teuersten Quartieren der Stadt. Als Sinnbild dieser Veränderung zu einem Trendquartier gilt der Breitschplatz. Der Platz wurde in den letzten Jahren von der Stadt umgestaltet, neue Lokale gingen auf, andere schlossen.
Wer lebt da, wer geschäftet da? Was ist dieser Breitschplatz überhaupt? Wir haben uns einen Nachmittag lang hingesetzt, beobachtet und nachgefragt. Bei Monia Francone, Maya Núñez, Remigio Funiciello und Albert Rüedi.
Beim Coiffeur
Eines der erwähnten Coiffeur-Geschäfte ist «Coiffure Moda». Seit 30 Jahren wird es betrieben von Monia Francone. Als sie 1995 ihr Lokal eröffnete, war sie gerade mal 21 Jahre alt. Ein Breitschkind, Kind von italienischen Einwanderern. «Damals wohnten hier sehr viele Italiener», sagt sie. Die Wohnungen seien billig gewesen.
Berufsbedingt beobachtet Monia Francone die Leute genau. Sie sieht, wie sie sich geben, wie sie sich kleiden. «Das Niveau des Lebensstils ist in den letzten Jahren höher geworden», sagt sie. Sie merke das auch daran, dass sie den Kund*innen viel mehr Pflegeprodukte als früher verkaufe. Dann hält sie kurz inne, so als suche sie das passende Wort. «Leicht alternativ» sei das Quartier, sagt sie dann. «Das war früher nicht so, da wars eher konservativ.»
Die 51-Jährige erinnert sich gut an die Zeit, als sie ihr Geschäft eröffnet hat. In jener Zeit habe es am Breitschplatz viele alte Leute gegeben. Dafür fast keine Familien. Heute sehe sie sehr viele Leute mit Kindern. Das Quartier sei lebenswert für sie geworden. Sie seien wohl meist Doppelverdiener, viele hätten einen akademischen Hintergrund, schätzt Francone, die selbst mit ihrer Familie seit vielen Jahren in Bolligen wohnt. Etwas aber habe sich im Breitsch in dieser Zeit nie verändert, sagt sie. «Die Leute sind friedlich.»
Als Kind sass Monia Francone oft auf den Bänkli vor der Migros, «mit Orangensäftli und Gipfeli». Ihr Lieblingsplatz war unter drei grossen Kastanienbäumen. Die gibt es heute nicht mehr. Dafür einen Brunnen, in dem die Kleinen choslen, einen Kiesplatz, einige Sitzgelegenheiten und ein paar junge Bäume, die vielleicht später auch einmal gross und mächtig werden.
Hier ist auch an diesem eher kühlen Donnerstagnachmittag etwas los. Die Tramhaltestelle gegenüber hingegen wirkt verlassen. Das liegt daran, dass die Trams momentan nicht bis in die Stadt fahren, da die Kornhausbrücke saniert wird.
Besetzt wird der Warteraum von jenen Leuten, die Gesellschaft suchen, sich aber einen Beizenbesuch nicht leisten können. Der Stammtisch hat sich ins Wartehäuschen verlegt. Mit Büchsengetränken in der einen Hand und Zigarette in der anderen führen drei Männer intensive Diskussionen mit der Kioskverkäuferin.
Am Platz gibt es neben Coop und Migros eine Bäckerei, zwei Apotheken, eine Bio-Metzgerei, ein Spielwarengeschäft, einen Innengestaltungsladen und mehrere Restaurants, davon zwei auf Kaffeespezialitäten ausgerichtete Cafés. Das Gastronomieangebot hat sich gewandelt. Von den früheren Beizen mit Stammtisch und «Blick» sind in den letzten Jahren Spitz, Specht und Tramway aus dem Quartier verschwunden. Einzig das Restaurant Jardin, etwas näher bei der Allmend, hat sich gehalten.
Ein bisschen Berlin
Die Spunten wurden abgelöst von den Cafés. So zum Beispiel der Bar/Caffè Noy. An diesem Nachmittag ist an den kleinen Tischen wohl niemand über 40 Jahre alt. Es ist jene Art von Café, die es früher in der Innenstadt gab, nicht aber in den Quartieren. Wo Gäst*innen an Laptops arbeiten und die Bedienung Englisch spricht. Der bestellte Espresso kommt. Er schmeckt sauer, besitzt aber sicher einen perfekten Kaffeeröstgrad, den Banausen nur nicht zu schätzen wissen.
Vis-à-vis befindet sich der neueste Zuwachs am Breitschplatz: Der laut Eigenwerbung grösste Secondhand-Laden in Bern. Smilla nennt sich das Geschäft. Chefin ist die 32-jährige Maya Núñez. Sie hat den zweigeschossigen Laden vor anderthalb Jahren eröffnet und sich dabei an Berlin orientiert. Viele der gut sortierten Secondhand-Kleider kann man zum Kilopreis kaufen. «Pick’n’weight» nennt sich das in der deutschen Grossstadt beliebte Konzept.
«An Kleidern fehlt es nicht», sagt Núñez, die mittlerweile fünf Teilzeit-Angestellte hat. Es gebe fast zu viele Leute, die Sachen bringen möchten. Kund*innen allerdings könnte sie noch mehr gebrauchen, auch wenn mittlerweile über 800 in ihrer Datei sind. Viele davon sind Teenies, die keine Fast Fashion kaufen möchten.
Núñez ist wie Monia Francone Coiffeuse. Der Secondhand ist eigentlich bloss ihr zweites Standbein, denn in einer Ecke des Geschäfts schneidet sie immer noch Haare. Als sie den Zuschlag für das riesige Lokal bekam, erarbeitete sie ein Konzept, um das ganze Geschäft mit Leben zu füllen. So wie sie es auch schon an ihrem früheren Standort in der Feuerwehr Viktoria gemacht hatte.
Núñez hat zwei kleine Kinder und lebt im Quartier. Mit dem Secondhand-Laden, der sich an einem Ort befindet, wo früher jahrelang ein Thai-Lebensmittelladen eingemietet war, bringt sie ein bisschen mehr Grossstadt an den hippen Dorfplatz.
Autos und Lastenräder
Draussen vor der Wäscherei «Alles rein!», die sich bis heute gehalten hat, inspizieren fünf Jungs ein weisses Mercedes-Cabrio. Einer von ihnen hat es am Vortag gekauft. «Es ist wie neu, hat bloss 20’000 Kilometer», sagt der eine, während er fachmännisch darum herum spaziert. Und ein anderer ergänzt: «Manche haben Freude an einem schönen Velo, wir an einem schönen Auto.»
Die Männer leben nicht im Breitenrain, sie haben nur zufällig hier gehalten und brausen nun über den Breitschplatz davon. Kurz darauf dominieren wieder Lastenräder und Rennvelos. Autos und Parkplätze sind seit langem ein Thema im Quartier. Am schlimmsten, sagen die Anwohner*innen, sei es bei YB-Matches im Wankdorf – oder bei Messen wie der BEA. Dann gibt es viel Suchverkehr im Quartier. Und doch, auf den blauen Parkfeldern stehen viele Fahrzeuge mit einer Dauermietkarte: Sie gehören Bewohner*innen des Quartiers.
Breitsch-Träff-Betreiber Remigio Funiciello erinnert sich noch, wie es in den 1970er Jahren einen Extra-Bus Bahnhof-Wyleregg gab. Für all die Arbeiter*innen in der Wifag und der Leinenweberei, die pünktlich um 7 Uhr Arbeitsbeginn hatten. Abends sei man im «Krug» oder im «Okus» eingekehrt. Keine dieser Beizen gibt es noch. «Jetzt gibt es hier an jeder Ecke Kebab und Pizza.»
Für Funiciello, Vater der SP-Nationalrätin Tamara Funiciello, ist der Breitenrain seine Heimat. 16-jährig kam er als Tellerwäscher in die Schweiz, bevor er ein paar Jahre später als Polymech in der Wifag arbeiten konnte. In den 1990ern wollte er mit seiner Familie zurückkehren nach Italien und merkte: Sein Zuhause ist in der Schweiz, nur dort können die Kinder eine gute Ausbildung haben. Und noch etwas: «Ich hatte Probleme, mich in Sardinien zu integrieren. Hier fällt mir das leicht.»
Der Breitenrain sei wie ein Dorf für ihn, überall kenne er Leute. Und auch wenn sich der Breitenrain und der Breitschplatz in den letzten Jahrzehnten verändert haben: «Für mich blieb es hier immer gleich. Es bewegt sich, es lebt.»
Ein Bier im Barbière
Und als hätte es noch einen Beweis dafür gebraucht, winkt nun ein alter Mann zur Tür hinein. Es ist Albert Rüedi, er wohnt seit 40 Jahren am Breitenrainplatz. «Hast du offen?», fragt er Funiciello. «Heute nicht», meint dieser. Albert Rüedi ist Stammgast im Breitsch-Träff, er hat ihn einst mitbegründet, der erste Standort war noch im «Coiffeurhaus» ein paar Gebäude weiter.
«Man muss etwas machen, damit das Quartier lebendig bleibt», sagt Rüedi. Eigentlich aber sei er ganz zufrieden mit dem Breitschplatz. «Es hat sich nicht unbedingt viel verändert», findet auch er.
Während sich die ersten im Barbière ein Feierabendbier gönnen, macht sich Rüedi wieder auf den Weg nach Hause. Auch Funiciello ist ab und zu in diesem Trendlokal anzutreffen. Wobei es dort für ihn mit seiner kleinen Rente «echli tüür» sei, wie er lachend sagt.
Vom 22. bis zum 25. April hatte die «Hauptstadt» ihre Redaktion in die Markuskirche im Breitenrainquartier verlegt. Die Kirche wird im Moment experimentell zwischengenutzt, bis das Umbauprojekt startet. Wir haben jeden Morgen um 9 Uhr im Kirchenschiff unsere tägliche Redaktionssitzung abgehalten und durch den Tag dort gearbeitet und diskutiert.
Es war eine intensive Woche – für uns und für das Berner Nordquartier: Am Freitag, 25. April, begann die diesjährige BEA, und gleichzeitig wurde die neue Festhalle eröffnet. Wir haben die Aussenwoche in der Markuskirche genutzt, um tiefer in Themen einzutauchen, die den Breitsch beschäftigen. Und um das Gastroangebot im Breitsch auszutesten. Unsere Beiträge zum Breitsch publizieren wir in den nächsten Tagen fortlaufend. Du findest sie in diesem Dossier.
Was uns besonders freute, waren die Besuche und engagierten Gespräche bei Grill&Bier am Donnerstagabend, das wir zusammen mit Pfarrer Tobias Rentsch veranstaltet haben. (jsz)