Wahlen 2024

Politik mit Listen und Menschen

Die Wahlen in die Berner Stadtregierung haben viel mit Mathematik zu tun. Aber keine Angst: Die «Hauptstadt» erklärt das System für Laien.

Erlacherhof fotografiert am Samstag, 18. November 2023 in Bern. (haupstadt.be / Simon Boschi)
Hier tagt die Berner Stadtregierung: Im Erlacherhof, dem Sitz des Stadtpräsidenten. (Bild: Simon Boschi)

Am 24. November 2024 fällen die Stimmberechtigen der Stadt Bern drei Entscheide: Sie wählen Parlament (Stadtrat) und Regierung (Gemeinderat). Und zusätzlich bestimmen sie, wer das Stadtpräsidium einnimmt. Letztere ist eine Art Wahl in der Wahl: Stadtpräsident*in werden kann nur, wer auch in den Gemeinderat gewählt wird. Wird eine Person als Stadtpräsident*in gewählt, die aber gleichzeitig den Einzug in den Gemeinderat verpasst, gibt es einen zweiten Wahlgang um das Amt des oder der Stadtpräsident*in.

Jetzt, in den Monaten vor der Wahl, findet der Wahlkampf statt. Die Art und Weise, wie sich Kandidat*innen aufstellen und präsentieren, hängt stark davon ab, welche Regeln bei der Wahl gelten. Grundsätzlich gibt es zwei Systeme, wie der politische Wille bei einer Wahl ermittelt wird: das Majorzsystem (Mehrheitswahlrecht) und das Proporzsystem (Verhältniswahlrecht). Beim Majorz geht ein Sitz an diejenige Person, welche die Mehrheit der Stimmen auf ihre Seite holt. Beim Proporz wird ein Sitz gemäss dem Anteil der erreichten Stimmen verteilt.

Üblicherweise werden Regierungen nach Majorz gewählt, Parlamente nach Proporz. In der Stadt Bern ist das nicht so: Auch die Regierungssitze werden im Proporzsystem ermittelt. Das bedeutet in der Praxis: Eine Partei gewinnt dann auf sicher einen Sitz, wenn sie 16,7 Prozent der Stimmen macht (100 geteilt durch Anzahl Sitze plus 1, also: 100 geteilt durch 6).

In der Stadt Bern ist die SP die einzige Partei, die mit einem Wähler*innenanteil von gut 25 Prozent einen Sitz in der Stadtregierung auf sicher hat. Alle anderen Parteien liegen bei plus minus 10 Prozent. Das heisst: Sie müssen sich verbünden. Eine gemeinsame Wahlliste mehrerer Parteien erhöht die Chance auf einen oder mehrere Regierungssitze.

Das ist der Grund, warum im Stadtberner Wahlkampf mindestens so sehr von Listen wie von Menschen die Rede ist.

Die Rot-Grün-Mitte-Liste (RGM), bestehend aus SP, Grünem Bündnis und GFL, hält nach diesem Prinzip seit 32 Jahren die Mehrheit. Seit 2016 ist es sogar so, dass RGM mit einem Wähler*innenanteil von gut 60 Prozent 80 Prozent der Sitze in der Regierung besetzt. Für die Wahlen von 2024 haben sich auch die Parteien im Spektrum von Mitte bis Rechts zu einer gemeinsamen Wahlliste zusammengerauft: EVP, Mitte, GLP, FDP und SVP treten als «Meh Farb für Bärn!» an. Hier haben wir für dich zusammengestellt, wer auf welcher Liste kandidiert.

Wer es in der Stadt Bern als Einzelperson versucht, ist praktisch chancenlos. Prominentestes Beispiel in der jüngeren Geschichte: Die populäre SVP-Gemeinderätin Ursula Begert. 2004 ging sie zum rechtspopulistischen Kurs von Thomas Fuchs auf Distanz und kandidierte wild, auf einer eigenen Liste. Sie machte mehr Stimmen als alle anderen bürgerlichen Kandidat*innen, abgewählt wurde sie trotzdem. In die fünfköpfige Regierung kamen Kurt Wasserfallen und Barbara Hayoz (beide FDP), weil die gemeinsame FDP-SVP-CVP-Liste mehr Stimmen holte als die Einzelmaske Begert.

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Darum geht es am 24. November: Um das taktische Ausfüllen der Wahllisten. (Bild: Silja Elsener)

Warum hat die Stadt Bern dieses spezielle Wahlsystem, das nur der Tessiner Regierungsrat sowie kleinere Städte (Freiburg, Köniz) kennen? Welche Tücken hat es? Das «Hauptstadt»-Briefing in fünf Punkten:

Grundprinzip

Nach Proporz zu wählen bedeutet, dass die fünf Regierungssitze nicht einfach den fünf Personen mit den meisten Stimmen vergeben werden. Sondern: Die Mandate werden in einem ersten Schritt gemäss den Stimmenanteilen der Listen verteilt. Bei den Wahlen am 24. November 2024 werden das voraussichtlich RGM (Mitte-Links) und «Meh Farb für Bärn!» (Mitte-Rechts) sein. Das Amt übernehmen diejenigen Personen, die auf den Listen, die eines oder mehrere Mandate erreichen, am meisten Stimmen gemacht haben.

Wählen

Als Wählende*r der fünfköpfigen Stadtregierung muss man grob in zwei Schritten überlegen. A: Welcher Liste gebe ich den Vorzug? B: Welche Personen favorisiere ich? Dann hat man verschiedene Handlungsoptionen.

Erstens: Man kann den vorgedruckten Wahlzettel unverändert abgeben. Dann bekommt die Liste fünf Stimmen, und jede*r Kandidat*in erhält eine oder zwei Stimmen, je nachdem, ob er*sie ein- oder zweimal auf der Wahlliste aufgeführt ist. 

Zweitens: Man kann den Wahlzettel handschriftlich verändern und zum Beispiel eine Person streichen. Sie erhält keine Stimme. Bleibt die Zeile leer, geht die Stimme an die Liste. Man kann diese Zeile aber auch füllen, indem man eine Person der Liste kumuliert (ein zweites Mal aufschreibt). So stärkt man diese Person im listeninternen Konkurrenzkampf. Oder man panaschiert – also man schreibt Personen einer anderen Liste auf die leeren Zeilen. Die panaschierten Personen erhalten eine Kandidatenstimme und deren Liste eine Listenstimme. Als Wählende*r schwächt man so die eigene Liste und stärkt jemanden im internen Wettbewerb der Konkurrenzliste.

Rechnen

Beim Verteilen der fünf Mandate nach Abgabe der Stimmen gilt folgendes Prinzip: Pro Sechstel (16,7 Prozent) aller abgegebenen Stimmen erhält eine Liste einen Sitz, ein sogenanntes Vollmandat.

Trickreich wird es bei der Verteilung der Restmandate, also der übriggebliebenen Mandate, für die keine Liste die vollen 16,7 Prozent Stimmen erreicht hat. Hier kommt das Verteilverfahren des Schweizer Physikers Eduard Hagenbach-Bischoff zum Zug. Es bevorzugt bei den restlichen Verteilrunden diejenigen Listen, die sich bereits eines oder mehrere Mandate gesichert haben, wie der Politologe Werner Seitz gegenüber der «Hauptstadt» ausführt.

Dieses Berechnungssystem kommt auch bei den Nationalratswahlen zur Anwendung. Anders als bei diesen sind bei den Berner Gemeinderatswahlen keine Listenverbindungen zulässig. Dies verstärkt den Druck, auf der Wahlliste möglichst viele Parteien einzubinden.

Verteilen

Sind die Mandate an die Listen vergeben, werden die Sitze an die bestklassierten Kandidierenden verteilt. Das bedeutet, dass der Wahlkampf für die Kandidierenden eine doppelbödige Freund*in-Feind*in-Komponente hat. Man kämpft gemeinsam für ein möglichst gutes Abschneiden der Liste, aber auch gegeneinander, um überhaupt gewählt (oder nicht abgewählt) zu werden. Im listeninternen Konkurrenzkampf einen Vorteil verschafft sich, wer vom eigenen Lager möglichst viel kumuliert oder möglichst wenig gestrichen und/oder möglichst oft von Wähler*innen der Konkurrenzliste aufgeschrieben (panaschiert) wird.

Vor vier Jahren gelangen laut der Analyse von Werner Seitz Marieke Kruit (SP) und Franziska Teuscher (GB) Glanzresultate, weil sie auf der eigenen RGM-Liste besonders punkteten. Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) wurde bei RGM häufiger gestrichen, allerdings holte er damals Stimmen aus der Mitte und von Bürgerlich-Rechts. Die Auswirkungen auf das Panaschier- und Streichverhalten ist der wohl unvorhersehbarste Aspekt der Wahl.

Debattieren

Die Wahl- und Berechnungssysteme sind eine Konstante der politischen Debatte in der Stadt Bern. Auf Bundesebene (Nationalrat), aber auch lokal in der Stadt Bern wurde das Proporzsystem einst auf Forderung der Linken eingeführt. Begründung: Die linke Minderheit wollte gegen die bürgerliche Übermacht eine Chance haben. Seit 1920 wird die Berner Stadtregierung im Proporz gewählt. Ironischerweise stärkt das Proporzwahlsystem heute die linke Dominanz eher zusätzlich – vor allem wegen der Hagenbach-Bischoff-Methode.

Auf Initiative der damaligen GLP-Stadträtin Melanie Mettler, die jetzt Gemeinderatskandidatin ist, diskutierte der Stadtrat 2018 die Einführung des Berechnungsmodells Saint-Laguë, das der Minderheit besser Rechnung tragen solle. RGM lehnte einen Systemwechsel ab, ihre Exponent*innen verwiesen in der Debatte darauf, dass sich die GLP ja einem breiteren Bündnis anschliessen könne. Das hat die GLP jetzt vor – und wird von der Linken etwas scheinheilig scharf kritisiert dafür.

Umgekehrt argumentieren die Bürgerlichen, die Weigerung von RGM, einem Systemwechsel zuzustimmen, zwinge sie zu einem extrem breiten Mitte-Rechts-Bündnis. Auch diese Argumentation ist nur halb gar: Das Stadtberner Wahlsystem verzerrt auch deshalb so stark, weil die Regierung nur fünf Personen umfasst. Bis 2004 war der Gemeinderat siebenköpfig, die Verkleinerung kam auf eine Volksinitiative der FDP zustande.

Jetzt, im Wahljahr, lanciert Mitte-Links mit einer Motion im Stadtrat den Versuch, die Stadtregierung wieder auf sieben Mitglieder zu erweitern.

Mit anderen Worten: Dass Taktik und Mathematik bei den städtischen Wahlen so dominant sind, dafür sind Links und Rechts gemeinsam verantwortlich.

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Diskussion

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Ruedi Muggli
02. Juli 2024 um 06:54

Wurde selten so knapp und gut erklärt!

Till Burckhardt
28. Januar 2024 um 20:27

In dieser ganzen Diskussion wird gerne verschwiegen, dass die RGM-Gemeinderatsliste auf eigenem Anhieb 63,7% der Wählerstimmen erreicht hat, während SP, GB, GFL, AL, PdA und GaP zusammen bei den Stadtratswahlen lediglich 56,0% erreicht haben.

Die «Übervertretung» von RGM im Gemeinderat lässt sich in erster Linie auf den persönlichen Erfolg der RGM-Kandidierenden zurückführen und nur bedingt auf die Wahlarithmetik.