Weit mehr als eine Familiengeschichte

Die Berner GFL-Stadträtin Tanja Miljanović hat einen Roman geschrieben, der einen persönlichen Blick auf den Bosnienkrieg wirft. «Wenn wir wieder Menschen sind» entwickelt einen Sog, dem man sich fast nicht entziehen kann.

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(Bild: Jörg Kühni)

Tanja Miljanović’ autobiografisch geprägter Roman wirkt nach. In «Wenn wir wieder Menschen sind» geht die Berner Lokalpolitikerin ihrer Familiengeschichte auf den Grund. Mit ihrer Mutter und ihrem Bruder ist sie 1992 aus dem bosnischen Tuzla in die Schweiz geflüchtet, wo der Vater bereits als Saisonnier arbeitete. Erst viele Jahre später wurde ihr klar, dass es damals eine Flucht und nicht einfach ein Umzug zum Vater gewesen war.

Miljanović war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt. Ein wissbegieriges, unbeschwertes, behütetes Kind. Vermutlich auch etwas stur und ungezähmt. So beginnt auch der Roman. Mit nostalgisch geprägten Erinnerungen an die Kindheit, an den Duft des Brotes, das die Grossmutter backte, an fröhliche Familienfeste. Die Sprache ist atemlos, ein wenig geschwätzig auch, mit vielen detailreichen Bemerkungen in Klammern, was das Lesen anfangs ein bisschen anstrengend macht.

Man kann sich die junge Tanja vorstellen, bei der es einfach drauflos sprudelt, weil es nicht nötig ist, Worte zurückzuhalten.

Serbin, Kroatin, Muslimin?

Hat man den Einstieg gefunden, rauschen die Worte aber über einen wie ein Wasserfall. Man taucht gänzlich ein und erfährt weit mehr als eine Familiengeschichte. Es ist eines der Bücher, das einen auch Tage später nicht loslässt, das Fragen aufwirft, die man im Kopf wieder und wieder wälzt.

So erzählt Tanja Miljanović etwa, wie sie als Kind herauszufinden versucht, was sie nun ist: Serbin, Kroatin oder Muslimin? Zuvor hat das keine Rolle gespielt, man war Jugoslawin, vielleicht noch, wie sie selber, stolze Pionierin, also Mitglied der Jugendorganisation des sozialistischen Landes. Und ihre Eltern möchten sich auch kurz vor dem Krieg nicht in Kategorien drängen lassen und beantworten darum ihre Frage nicht.

Wenn die Involvierten ein Gesicht bekommen

Doch nach und nach geht es nicht mehr anders: So wird etwa ihr Onkel Marko gezwungen, auf der serbischen Seite zu kämpfen, während der gute Familienfreund Avzdo als Muslim weiterhin Tanjas Heimatort Tuzla verteidigt. Zwei Freunde, die sich plötzlich auf der entgegengesetzten Seite befinden. Verbunden sind sie durch Avzdos Schwester Alima, die einst Markos Jugendliebe war und nun gefangen gehalten wird in einem serbischen Frauenlager, bei dem es systematisch zu Vergewaltigungen kommt.

So kurz zusammengefasst klingt das erst einmal reichlich dramatisiert. Gerade weil der Roman nicht nur die bekannten historischen Gegebenheiten erzählt, sondern den Menschen ein Gesicht und ein Leben davor gibt. Dabei spielt es keine Rolle, was Tanja Miljanović dazuerfunden, interpretiert, abgeändert hat. Ob Onkel Marko tatsächlich so heldenhaft gehandelt hat und ob Alima wirklich eine letzte Rache üben konnte.

Es ist ihre Freiheit als Romanautorin, Geschehnisse zu fiktionalisieren. Die Fakten bleiben. Es gab Menschen, denen es wie im Roman geschildert ergangen ist. Die gezwungen wurden, auf der einen Seite zu kämpfen, die systematisch vergewaltigt wurden und die systematisch vergewaltigten. Es gab sehr viele von ihnen.

Und es ist Tanja Miljanović’ Leistung, die Gräueltaten dieses Krieges auch aus Sicht einer Frau aufzuschreiben. Einer verschonten Frau, die Jahre danach Fragen stellt, wissen will, sich erinnert und plötzlich auch Dinge versteht, vor denen sie zuvor die Augen verschlossen hatte.

Tanja Miljanović: «Wenn wir wieder Menschen sind», Zytglogge, 335 Seiten.

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