Wie geht es eigentlich Papagei Yerosha aus Charkiw?
Seit letztem März lebt Papagei Yerosha in der Schweiz, Yana und Darya Kaysina sind mit ihm hierher geflüchtet. Wie geht es ihnen ein Jahr nach Kriegsstart? Ein Besuch in ihrem neuen Zuhause in Muri-Gümligen.
Yerosha ist immer noch schüchtern. Der graue Papagei sitzt ganz zuhinterst in seiner Volière und steckt den Kopf in sein Gefieder. «Wenn Gäste kommen, bleibt Yerosha meistens im Käfig», sagt Darya Kaysina entschuldigend. Die Sonne taucht den runden Tisch, der an der Fensterfront steht, in grelles Frühlingslicht. Darya Kaysina kocht grünen Tee, ihre Mutter ist noch im Deutschunterricht, den sie mehrmals in der Woche besucht. Und wenn sie nicht gerade im Unterricht sitzt, lernt sie Deutsch im Selbststudium.
Darya Kaysina (28) und ihre Mutter Yana (52) sind im letzten März aus ihrer Heimatstadt Charkiw im Osten der Ukraine in die Schweiz geflüchtet. Sie kamen mit ihrem Papagei und der Katze zuerst im Asylzentrum Oberzollikofen unter, wo sie die «Hauptstadt» mit ihren tierischen Flüchtlingen Anfang April letzten Jahres besucht hat. Jetzt – fast ein Jahr später – hat die «Hauptstadt» erneut bei ihnen vorbeigeschaut.
Bereits seit letztem Mai wohnen die beiden Frauen mit ihren Tieren in einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in Muri-Gümligen. «Wir fühlen uns sehr wohl hier, die Nachbar*innen machen es uns leicht», sagt Darya Kaysina. Und Yerosha, der Papagei, wirkt als Eisbrecher. Im Sommer sass er im kleinen Käfig auf dem Balkon – regelmässig hätten sich unten auf dem Rasen ganze Kinderbanden versammelt, die ihn bestaunten. Sogar das kleine Nachbarskind von oben hätte durch die Balkonspalten nach unten zum Papagei geschaut.
Im Sommer gab es dann einen Rückschlag: Die graue Katze Gaby, die Yana und Darya Kaysina auch als Charkiw mitgebracht hatten, starb ganz plötzlich, dabei war sie weder alt noch krank gewesen. «Der Tierarzt sagt, es sei wohl ein Herzinfarkt gewesen», erzählt Darya Kaysina. Yerosha, der sprechende Papagei, sei einige Wochen ganz traurig gewesen und habe immer wieder nach Gaby gerufen. Eine andere Katze zu sich nehmen, sei kein Thema. «Hier in der Gegend gibt es schon so viele Katzen und Hunde», sagt Darya Kaysina. Ausserdem wisse sie nicht, wie es weitergehe in ihrem Leben.
«Das Wichtigste ist, dass wir in Sicherheit sind», sagt Darya Kaysina, «mein Leben durchplanen kann ich jetzt nicht.» Die 28-Jährige klingt noch fast gleich wie vor knapp einem Jahr. Während ihre Mutter am liebsten morgen zurück in die Ukraine, zurück zu ihrem Mann, der nahe an der Frontlinie in Kramatorsk lebt, fahren würde, weiss Darya Kaysina nicht, wo ihre Zukunft liegt. «Mir gefällt es in der Schweiz, aber meine Heimat ist in der Ukraine», sagt sie und meint dann nachdenklich: «Ich war noch nie so lange von Zuhause weg.» Den Job als Linguistik-Dozentin an der Universität in Charkiw hat sie im Sommer aufgegeben. «Ich konnte das nicht von der Schweiz aus weitermachen, das war zu schwierig für mich», sagt sie.
Sie, die auch fliessend Englisch spricht, hat in Bern Sprachkurse besucht und mittlerweile den Test für das Niveau B2 bestanden. B2 bedeutet ein solides Sprachniveau, damit kann man in der Schweiz einen Job finden. Den sucht Darya Kaysina jetzt auch, nachdem sie vor einigen Tagen ihren dritten Master – in technischer Kommunikation – im Fernstudium an der Universität Strassburg abgeschlossen hat. «Ich möchte unbedingt Vollzeit arbeiten», sagt sie. «Ich mache das nicht zum Spass. Ich muss davon leben können, und auch meine Mutter und meinen Vater unterstützen können.» Sie würde gerne als Technikredaktorin für eine Firma das Informationsmanagement verantworten.
Darya Kaysina geht jetzt zur Volière, öffnet sie – und lockt Papagei Yerosha in die Wohnung. Zögerlich streckt er seinen Kopf heraus und fliegt dann auf die Vorhangschiene über dem Fenster, bevor er Anlauf nimmt und auf dem ausgestreckten Arm von Darya Kaysina landet. Zärtlich und auf Russisch spricht sie mit ihm.
Er fühle sich wohl in der Wohnung, in der er sich, wenn nicht gerade Gäste da sind, frei bewegen kann. Und Gäste gibt es nicht allzu viele. Immerhin, der Vater hat sie in diesen Monaten zweimal besucht und nahm dafür eine 45-stündige Busfahrt in Kauf. «Nach seiner Ankunft hat er zwei Tage nur geschlafen.» Wenn der Vater da ist, spielen die drei so oft wie möglich Gesellschaftsspiele, es ist ein Hobby, das sie verbindet. Hierbleiben kann der Vater nicht. Zum einen ist er noch nicht 60-jährig und darf seit der Generalmobilmachung gar nicht dauerhaft ausreisen, zum anderen will er im Haus in Kramatorsk zum Rechten schauen.
Darya Kaysina hat in der Schweiz zwar schon einige Leute kennengelernt, «aber manchmal fühle ich mich schon etwas einsam», sagt sie. «Wir versuchen, uns beschäftigt zu halten, das hilft, dann denkt man weniger an den Krieg.» Und mit den Nachbar*innen hier habe sie einen guten Austausch. «Im Herbst haben wir die Katze einer Nachbarin gehütet.» Darya Kaysina sagt es fast ein bisschen erstaunt, in der Ukraine sei das unter Nachbar*innen nicht unbedingt üblich. «Die Nachbarin gab uns den Wohnungsschlüssel, sie vertraute uns. Das macht uns stolz», sagt Darya Kaysina.
Yerosha flattert wieder auf und landet auf dem Dampfabzug aus Chromstahl, wo er sich bewegt wie auf einem Laufband im Fitnessstudio. Auch Yerosha hält sich beschäftigt.