Der Koloss, der auf tönernen Füssen steht
In diesen Tagen wird das neue, hochmoderne Inselgebäude bezogen. Wo liegen eigentlich die grossen Baustellen des Berner Universitätsspitals?
Die Installation heisst «Loops». Es ist eine Kette von Ringen, die einzeln an feinen Drahtseilen hoch oben im Lichthof des neuen Inselgebäudes hängen. «Loops» ist beweglich und aus ganz verschiedenen Blickwinkeln sichtbar, denn auf drei Seiten winden sich die Gänge des Spitals. Der Lichthof und die Installation sind damit so etwas wie der Orientierungspunkt im neuen Anna-Seiler-Haus.
Vielleicht bietet die Installation den Patient*innen Ablenkung bei schlimmen Nachrichten. Eine Spirale, die symbolisiert, dass es immer weitergeht. Vielleicht sieht eine Pflegende darin eine Wirbelsäule, elastisch und zäh, wie sie selbst nach dem siebten Nachtdienst in Folge. Oder die Installation erinnert die Mitglieder der Geschäftsleitung an das Zusammenspiel der verschiedenen Abteilungen hier, das Zanken um die Verteilung der Gelder.
Die Insel ist eine eigene Stadt. Rund 11’300 Menschen arbeiten bei der Insel Gruppe, die nach der Schliessung der Spitäler in der Tiefenau und in Münsingen noch fünf Standorte (Insel, Belp, Aarberg, Riggisberg, Heiligenschwendi) umfassen wird. Die Insel pflegt pro Jahr 60’000 Patient*innen stationär und führt fast eine Million ambulante Konsultationen durch. Die Insel ist auch eine der grössten Arbeitgeberinnen im Kanton Bern. Und die wichtigste Trägerin der wirtschaftlichen Ambitionen des klammen Kantons: Vor zehn Jahren gab der Regierungsrat das Ziel aus, Bern zu einem international führenden Medizinalstandort zu machen.
Die Insel ist ein Machtfaktor im Kanton Bern, der allerdings unter grossem Druck steht. Deshalb gerät der riesige Betrieb immer wieder negativ in die Schlagzeilen. Es ist schwierig, ihn zu navigieren. Es ist genauso schwierig, ihn zu verstehen. Wie funktioniert er? Was sind seine Probleme? Sind sie selbstverschuldet oder strukturell? Und welche Herausforderungen warten in der nahen Zukunft?
Gleichzeitig ist es so, dass die Antwort unterschiedlich ausfällt, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man die Insel betrachtet.
Für Gesundheitsökonom Heinz Locher besteht das Hauptproblem darin, dass das Inselspital seine Schwerpunkte an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei legt: Die wären laut ihm vor allem Hausarztmedizin und Geriatrie, wo ebenfalls innovative Forschung möglich und nötig sei.
Für Gesundheitspolitikerin und SP-Grossrätin Meret Schindler liegt das Hauptproblem darin, dass die Insel zu wenig für ihr Personal tue – und damit in eine grosse Krise hineinlaufe.
Für Verwaltungsratspräsident Bernhard Pulver (Grüne) sind das Hauptproblem die ungedeckten Tarife, die durch den Kostendruck auf die Spitäler entstehen und laut ihm entweder zu Personalabbau oder mehr Eingriffen führen.
Und für den Kanton Bern stellt sich die Frage: Wie positioniert man die Insel, damit sie auch in Zukunft überleben kann? Damit sie kein Defizit macht und dennoch nicht an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei operiert?
Problem 1: Die Spitzenmedizin
Die Operationssäle im neuen Anna-Seiler-Haus sind hochmodern und am Tag der Vorbesichtigung noch jungfräulich. Vor dem zentralen Aufwachraum wartet Professor Dr. med. Matthias Siepe. Er ist Klinikdirektor der Universitätsklinik für Herzchirurgie. In zackigem Ton lobt er das Tageslicht in den Operationssälen, den zentralen Aufwachraum, der die Abläufe schneller machen kann. Die Nähe der Katheterräume zu den Operationssälen, die für Patient*innen lebensrettende Sekunden sparen kann.
Die Herzchirurgie ist einer der Leuchttürme des Inselspitals. Oder war es zumindest während der 25 Jahre unter der Leitung von Thierry Carrel, der Anfang 2021 an die private Hirslandengruppe wechselte, diese jedoch schon wieder verlassen hat. Herzchirurgie ist immer noch ein Bereich, in dem das Inselspital gerne Leuchtturm sein würde. Obwohl gerade Zürich und Lausanne mehr aus dem Vollen schöpfen können. Sie haben einen Standortvorteil, denn dort befinden sich die beiden technischen Hochschulen des Bundes, die ETH und die EPFL.
Innovationen, auch im Medizinalbereich, entstehen im Zusammenspiel mit der Technikforschung. Im Wettbewerb der fünf nahe beieinander liegenden Universitätsspitäler der Schweiz geht es eben auch um internationale Wettbewerbsfähigkeit. Die besten Fachkräfte zu holen, um Spitzenmedizin anbieten zu können und Forschungsergebnisse marktfähig zu machen.
Diesen Schritt versucht der Kanton Bern mit dem Sitem-Zentrum auf dem Insel-Campus. Hier gibt es eine Zusammenarbeit zwischen mechanischer Technologie, Pharmazie und Medizin. Hier sind Insel Gruppe, Industrie und Berner Fachhochschule (BFH) zusammengerückt. Es geht zum Beispiel um Blutzuckermessgeräte, die direkt unter die Haut transplantiert werden und gleichzeitig die Funktion einer Insulinpumpe haben.
Medizinaltechnik ist ein Bereich, mit dem sich sehr viel Geld verdienen lässt. An Sitem knüpft der Kanton Bern sehr viel Hoffnung, so hat der Grosse Rat dem Kredit damals mit nur einer Gegenstimme zugestimmt: Vielleicht könnte Bern bei den Grossen mitmischen? Auch Schindler (die damals als einzige gegen den Kredit gestimmt hatte) und Locher sehen Potenzial in der Sitem. «Es ist eine Chance», finden beide.
Trotzdem kritisiert Heinz Locher, der einst in der kantonalen Gesundheitsdirektion für die Spitalplanung zuständig war, den Fokus der Insel auf die Spitzenmedizin. «Was kümmert Herzchirurgie die normale Bevölkerung?», fragt er ein wenig provokativ. «Die Bedürfnisse der Bevölkerung, das wären doch Hausarztmedizin und Geriatrie, aber diese Bereiche haben halt nicht dieselbe Strahlkraft. Da wird nicht geforscht, obschon es dringend nötig wäre.» Das Augenmerk müsste auf Innovation liegen, nicht unbedingt auf Spitzenmedizin, so Locher.
Das Inselspital müsse alles unter einen Hut bringen: Universitäre, regionale und ambulante Medizin. Und da hätten heute die beiden letzteren das Nachsehen.
Tatsächlich sind Hausärzt*innen und Geriater*innen in einer älter werdenden Gesellschaft wichtig. Allerdings ist die Trennungslinie zwischen diesen eher bevölkerungsnahen Bereichen und der Spitzenmedizin nicht scharf. «Universitäre Spitzenmedizin ist auch eine Dialyse, und nicht wenige geriatrisch Behandelte brauchen eine Dialyse», sagt Gesundheitspolitikerin Meret Schindler.
Zudem liegt es nicht nur an der Insel, dass diese beiden Bereiche eher stiefmütterlich behandelt werden.
Einerseits ist die Insel, weil sie ein Universitätsspital ist, nicht autonom. Bei Personalfragen, die die Leitung von ärztlichen Fachbereichen betreffen, redet auch die Universität mit. Schliesslich müssen Chefärzt*innen eine Ausbildungsfunktion an der Uni wahrnehmen können: Sie brauchen eine Professur, sie müssen dozieren. Und sie wollen deshalb häufig auch publizieren, in der Fachwelt wahrgenommen werden, zur Spitze gehören. Andere Eigenschaften, wie etwa Führungsqualitäten, spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle.
Andererseits gibt es einen Fehlanreiz im System: Ärztliche Leistungen werden über Fallpauschalen abgerechnet. Dort lohnen sich chirurgische und orthopädische Eingriffe, ambulante Leistungen, wozu Hausarzt- und Geriatrie-Leistungen meistens gehören, aber nicht.
Auf diese Einflussfaktoren kann die Insel nur sehr beschränkt einwirken.
Problem 2: Der Kanton
Wer mehr Einfluss haben könnte, ist der Kanton. Er finanziert die Inselgruppe zu einem grossen Teil. Von jedem stationären Patienten, von jeder stationären Patientin übernimmt der Kanton gemäss Krankenversicherungsgesetz 55 Prozent der Kosten. Den Rest berappen die Krankenkassen. Im ambulanten Bereich ist das anders: Dort kommen die Krankenkassen für die Gesamtkosten auf, der Kanton zahlt nichts. Darum hat der Kanton ein Interesse daran, dass mehr Menschen ambulant behandelt werden. Eigentlich.
Denn das Problem ist, dass diese Behandlungen die Insel mehr kosten, als die Krankenkassen dafür zahlen. Verwaltungsratspräsident Bernhard Pulver, der einen Sitz im Ständerat anstrebt, spricht von einer Unterdeckung, nur 80 Prozent der Kosten werden von den Kassen übernommen. Damit eine Umlagerung stattfinden könnte, müsste man die Tarife erhöhen, sagt er.
Allerdings: Wenn die ambulanten Kosten stark steigen, steigen auch die Krankenkassenprämien.
Die Berner*innen zahlen also sowieso für die Gesundheitskosten: Entweder über die Krankenkassenprämien oder über die Kantonssteuern.
Der Kanton Bern will dabei an einem Universitätsspital festhalten, auch wenn es schweizweit gesehen nicht unbedingt so viele Universitätsspitäler geben müsste. Meret Schindler sieht aber Vorteile im Unistandort Bern: «Bern ist bilingue. Ausserdem braucht es aufgrund des Personalmangels unbedingt Universitätsspitäler, die ausbilden können.» Würde Bern nicht mehr ausbilden, meint die SP-Politikerin, müsste man diese Arbeitskräfte von woanders herlocken.
Weil der weitläufige und ländlich geprägte Kanton Bern finanziell aber weniger Spielraum hat als etwa der Wirtschaftsballungsraum Zürich oder das urbane Genf, ist das Inselspital noch mehr als die anderen finanziell ständig unter Druck. Es muss sparen. Es sollte Gewinn abwerfen, um in die Erneuerung investieren zu können, schafft das aber nicht.
Gesundheitsökonom Locher fordert deshalb, dass auch darüber nachgedacht wird, ob man nur noch Kantonsspital sein könnte.
Gesundheitspolitikerin Schindler findet, der Kanton könnte einfach mehr Geld fürs Inselspital ausgeben. «Es ist ein bürgerliches Narrativ, dass man sparen muss», sagt sie.
Problem 3: Fachkräftemangel
Die Personalräume im neuen Anna-Seiler-Haus sind in anderen Farben gestaltet als die Patient*innen-Zimmer. Die Böden sind blau, die Räume liegen an den Ecken der Gebäude, so dass es auf zwei Seiten Fenster gibt. Es soll hell sein, die Mitarbeiter*innen sollen sich wohlfühlen. «Wir haben viel ans Personal gedacht», sagt Bau-Gesamtprojektleiter Bruno Jung.
Das ist ein wichtiger Vorteil und ein wichtiges Argument in Zeiten des Personalmangels. Nicht zuletzt wegen des Fachkräftemangels, so die offizielle Argumentation des Inselspitals, schliessen in diesem Jahr die zur Inselgruppe gehörenden Spitäler Münsingen und Tiefenau. «Wir haben zu wenig Fachkräfte und damit zu wenig Mitarbeitende. Daher müssen wir die Kräfte konzentriert und effizient einsetzen», sagt Bernhard Pulver.
Es ist ein strukturelles Problem, aber nicht nur, findet Meret Schindler: «Die Insel muss bezüglich des Personals innovativer sein», sagt die SP-Frau. Die Insel könne sich mit besseren Arbeitsbedingungen im Wettbewerb um Personal besser stellen.
Dazu muss man wissen: Schindler arbeitet für die Gewerkschaft VPOD und ist dort zuständig für den Gesundheitsbereich. Im Moment laufen Verhandlungen für einen neuen Gesamtarbeitsvertrag (GAV), Schindler pocht darauf, dass die Insel dabei vorangehe und höhere Löhne und weniger Wochenarbeitsstunden bei gleichem Lohn einführe.
Rund 70 Prozent der Kosten der Inselgruppe sind Personalkosten. Eine nur kleine Lohnerhöhung macht also sehr viel aus. Wie sollte das Inselspital das stemmen können?
Das Argument mit dem Kostendruck lässt Schindler jedoch nicht gelten. «Wenn sie es nicht machen, können sie die Leute nicht finden, dann müssen sie Betten zutun, dann machen sie erst recht ein Defizit», rechnet sie vor.
Und auch wenn das Personal einst mehr Lohn bekommen wird, ist nicht einfach alles gut. So betont Gesundheitsökonom Locher, dass auch die Arbeitsbedingungen im weiteren Sinne wichtig seien, zu denen namentlich eine Wertschätzungskultur gehöre.
Problem 4: Altlasten
Am Inselspital gibt es über 40 Kliniken, gemeint sind damit die spezialmedizinischen Abteilungen. Die Liste geht von Allergologie bis viszerale Chirurgie. Die Kliniken sind Machtzentren der Spital-Ökonomie, deren Chefs (seltener: Chefinnen) sind oft einflussreich und von der Spitalleitung schwer zu bändigen.
Lange hatten die Kliniken grossen finanziellen Spielraum: Höherrangige Spitalärzt*innen liessen Einnahmen aus sogenannt privatärztlicher Tätigkeit, die sie bei der Behandlung zusatzversicherter Patient*innen erzielen, in einen gemeinsamen Pool fliessen. Dieses Geld wurde auch zu Gehaltsaufbesserungen eingesetzt. 2022 führte die Insel-Leitung unter Verwaltungsratspräsident Bernhard Pulver und CEO Uwe E. Jocham ein neues Lohnsystem ein, mit dem die Poolgelder abgeschafft wurden, was bei vielen Klinikdirektoren zu Unmut führte.
Poolgelder spielen eine zentrale Rolle im Fall Urwyler. Die Ärztin Natalie Urwyler klagte 2014 gegen das Inselspital unter Berufung auf das Gleichstellungsgesetz, weil sie nach der Rückkehr aus dem Mutterschaftsurlaub entlassen wurde. Gleichzeitig ging sie auch gegen die ihrer Ansicht nach diskriminierende Verteilung der Poolgelder an der Klinik für Anästhesiologie vor.
Obschon Urwyler 2018 vor dem Berner Obergericht Recht erhielt, ist der Fall neun Jahre nach der ersten Klage immer noch in zwei Verfahren hängig. Schlichtungsverhandlungen verliefen ergebnislos. Insel-Sprecher Daniel Saameli bestätigt auf Anfrage, dass die Insel-Gruppe der freigestellten Urwyler nach wie vor den Lohnunterschied zahlt zwischen der Insel-Anstellung als Oberärztin und ihrer aktuellen Stelle im Wallis. Er rechnet damit, dass das Regionalgericht im Herbst 2023 einen nächsten Entscheid fällt. Die Insel-Gruppe bleibe «offen für eine aussergerichtliche Lösung», sofern diese «den Mitarbeitenden, dem Unternehmen und der Öffentlichkeit gegenüber vertretbar sei».
Probleme, Probleme, Probleme… und jetzt?
Ab kommenden Montag ist das neue Anna-Seiler-Haus in Betrieb. Es bietet Platz für 532 Patient*innen. Es gibt 11 Operationssäle. «Es ist ein Schritt in die Zukunft nach zehn Jahren harter Arbeit», sagt Insel-Direktionspräsident Uwe E. Jocham am Tag der Vorbesichtigung, «wir wollen modernste Medizin verbinden mit menschlicher Wärme.»
50 Jahre beträgt der Lebenszyklus eines Spitals. Gerade besitzt Bern das modernste der Schweiz. Die Wege fürs Personal sind kurz, es ist alles darauf ausgerichtet, dass weniger Personal mehr Patient*innen betreuen kann und diese trotzdem in besten Händen sind.
Die Umstände aber werden schwierig bleiben. Hinter den Kulissen wird weiter über Tarife gestritten, was zahlen die Krankenkassen, was der Kanton? Weiter darüber, auf welche Medizin sich die Inselgruppe ausrichten sollte. Es ist schwer vorstellbar, dass der bürgerliche Kanton Bern, der ab 2024 die Unternehmenssteuern senken will, mehr Geld ins Inselspital investieren wird. Und vielleicht werden nicht immer alle 532 Betten verfügbar sein, aus dem einfachen Grund, dass es zu wenig Personal gibt.
In der Bevölkerung, sagt Gesundheitsökonom Locher, sei das Inselspital nach wie vor sehr gut verankert. Für den Kanton Bern scheint es manchmal jedoch fast zu gross, weil es zu vieles gleichzeitig sein muss: Kompetitiver Wirtschaftsstandort, Topshot der Spitzenmedizin, rentables Spital für die allgemeine Gesundheitsversorgung.
Vielleicht hilft, ab und zu, ein Blick zur Installation «Loops». Eine Spirale, die auch das Skelett eines Wals sein könnte: Und Wale gehören schliesslich zu den widerstandsfähigsten Säugetieren dieser Welt.