Wohlens Stadt-Land-Vermittler
Der Linke Bänz Müller ist mangels Konkurrenz schon vor den Wahlen vom 30. November als Gemeindepräsident von Wohlen wiedergewählt. Wie viel Macht sammelt sich in diesem Amt?
«In meinem Job», sagt Bänz Müller, seit 2014 Gemeindepräsident von Wohlen, «muss man in erster Linie Menschen mögen und mit ihnen umgehen können. Das, glaube ich, ist die wichtigste Voraussetzung.» In der Praxis komme ein wichtiger Faktor hinzu: «Man muss gerne reden», sagt Müller. «Und das tue ich definitiv, ich gebe es zu.»
Es kann sein, dass Bänz Müller einen Tag an der Sitzung der Geschäftsprüfungskommission des Kantonsparlaments verbringt. Zwischendurch absolviert er eine Stiftungsratssitzung des Altersheims in seiner Gemeinde. Später steht eine Vorstandssitzung der Volkshochschule Bern an. Und um 21 Uhr trifft er zum Apéro beim Seniorenverein Wohlen ein – und zwar «sehr gerne», wie er sagt. Reden ist immer gefragt in seinem Alltag.
Sozialdemokrat Müller, Vater von drei Kindern, erzählt auf dem Friedhof, nur ein paar Schritte hinter dem Gemeindehaus, über sein Leben als vollamtlicher Präsident der weitläufigen Gemeinde Wohlen mit ihren 9300 Einwohner*innen. Hochmotiviert, trotz langer Routine.
Die Terrassenlage des Friedhofs betört, auch wenn der Himmel grau ist. Man sieht hinunter an den Wohlensee und hinüber zur waldigen Flanke bei Frauenkappelen. Alles grün, alles ruhig – obschon das Bundeshaus nicht einmal zehn Kilometer entfernt ist. Mit dem Postauto fährt man von hier in 15 Minuten zum Hauptbahnhof in Bern.
Wohlen wird von einem siebenköpfigen Gemeinderat regiert. Die aktuelle Sitzverteilung: SPplus und SVP haben je zwei Sitze, FDP, Grünliberale und Grüne je einen. SPplus ist eine Wohlener Eigenkreation: Vor gut 40 Jahren wurde der heutige Kabarettist Bänz Friedli als jüngster Gemeinderat der Schweiz für die «Offene Liste» in den Wohlener Gemeinderat gewählt. Später fusionierte die «Offenen Liste» mit der SP, aber nicht alle Zugänge wollten auch in die SP des Kantons Bern eintreten. Bis heute gehört rund ein Viertel der SPplus-Mitglieder nicht wirklich zur SP.
Dass aus den Wahlen vom 30. November eine Veränderung der Kräfteverhältnisse in Wohlen resultiert, wäre eine Überraschung. Die Grünen hatten sich vor vier Jahren einen zweiten Sitz und eine rot-grüne Mehrheit erhofft, verpassten aber dieses Ziel. Weil sie jetzt die wegen Amtszeitbeschränkung nicht mehr antretende Maria Iannino Gerber ersetzen müssen, beschränken sie sich darauf, ihren Sitz zu verteidigen. Die zweite spannende Frage: Gelingt es den Grünliberalen, die 2021 erstmals antraten und in die Regierung einzogen, mit dem Bisherigen Christophe Kauer ihren Sitz zu verteidigen? Ein Parlament hat Wohlen nicht. Kommunale Angelegenheiten entscheiden die Stimmberechtigten an der Gemeindeversammlung. (jsz)
Der abrupte Übergang von Stadt und Land prägt Wohlen. Und er ist das natürliche Habitat des Politikers Müller (58). Er heisst zum Vornamen eigentlich Stefan, wurde aber von Kindsbeinen an Bänz gerufen und hat diesen Namen offizialisiert. Müller gehört – mit Daniel Bichsel (SVP, Zollikofen) und Thomas Iten (parteilos, Ostermundigen) – zu den erfahrensten Gemeindepräsidenten der Stadtregion Bern.
2013 gelang ihm nach einer spektakulären Kampfwahl der Coup. Er verdrängte Amtsinhaber Eduard Knecht (FDP) aus dem Amt und musste sein Berufsleben radikal umstellen. Am Wahltermin im Dezember war Müller noch Primarlehrer in Uettligen, einen knappen Monat später arbeitete er als Profi-Politiker und stand von Amtes wegen als Personalchef dem grössten Arbeitgeber Wohlens vor: der Gemeindeverwaltung.
Seither wurde der Gemeindepräsident an keiner Wahl mehr herausgefordert und stets still wiedergewählt. Auch seine vierte Amtszeit ist bereits gesichert, obschon die Gemeindewahlen erst am 30. November stattfinden. Formell muss Müller zwar noch in den Gemeinderat gewählt werden. Aber selbst, wenn er das nicht schaffen würde, ist er nicht gefährdet. Die Gemeindeordnung, die längst vor seiner Zeit entstand, schreibt vor, dass in diesem Fall eine Person seiner Partei aus der Regierung zurücktreten müsste, um ihm Platz zu machen.
Träte dieser Fall ein, «wäre das ein Misstrauensvotum der Wählerschaft», sagt Müller. «Ich würde wohl die Konsequenzen ziehen und von mir aus auf das Amt verzichten.» Aber das ist hypothetisch. Dass er nicht herausgefordert werde, stufe er aufgrund der Signale aus den anderen Parteien als Wertschätzung seiner Arbeit ein, sagt Müller.
Die Machtballung
Er selber ist es, der darauf hinweist, dass seine Position offensichtliche Risiken hat. Gemeindepräsident Müller ist zu 100 Prozent angestellt, seine sechs Kolleg*innen in der Regierung haben je ein 20-Prozent-Pensum. «Logisch, dass ich einen Informationsvorsprung habe», sagt Müller. In der Praxis bedeute das, dass er Dossiers manchmal besser kenne seine Kolleg*innen, die dafür die Verantwortung haben. «Nicht, weil sie es nicht gut machen würden. Es liegt in der Natur der Sache: Ich bin einfach immer da.» Da sei es wichtig, seinen Kolleg*innen den Vortritt zu lassen und sich zurück zu halten.
Nach ihm, dem vom Typ her eher ungeduldigen Polit-Profi, könnten Dinge manchmal schneller vorwärts gehen. Als Gemeindepräsident ordne er sich aber dem Tempo im Mischsystem von Profi- und Milizpolitiker*innen unter.
Müller findet auch, es gehöre zum Jobprofil des Gemeindepräsidenten, sich selber Sensibilität aufzuerlegen. «Wer behauptet, Machtmissbrauch sei in meiner Position nicht möglich, liegt falsch», sagt Müller: «Wenn ich wollte, könnte ich die Machtkumulation in meinem Amt ausnutzen, keine Frage.» Allerdings ginge das nicht lange gut, vermutet er, und die Regierung würde sich im Streit blockieren.
Dass sich die Regierungsmitglieder in Wohlen trotz parteipolitischer Differenzen als Team verstehen, bezeichnet Müller als das wichtigste Ziel seiner Karriere als Gemeindepräsident. Zerreissproben bietet das komplexe Gebilde Wohlen am sonnigen Südhang des Frienisbergs ohnehin genug. Die Gemeinde umfasst zwei Dutzend Dörfer und Dörfchen und deckt fast das ganze Spektrum vom urbanen Quartier bis zum bäuerlichen Weiler ab – prädestiniert für den Stadt-Land-Graben. «In Wohlen müsste er eigentlich stark spürbar sein», sagt Müller.
Stadtquartier und Weiler
Richtig an die Stadt angeschlossen wurde das weder von einer Auto- noch einer Eisenbahn berührte Wohlen erst ab 1920, als die Bernischen Kraftwerke (BKW) den Wohlensee aufstauten und im Gegenzug die Kappelenbrücke mitfinanzierten. Unten am See wuchs ab den 1960er-Jahren das vorstädtische Zentrum Hinterkappelen mit den Hochhäusern des Kappelenrings und den verdichteten Siedlungen Schlossmatt und Aumatt rasant. Weiter oben, in den Dörfern Wohlen, Uettligen oder Innerberg lief es gemächlicher. Der obere Mittelstand, der in der Bundesstadt arbeitet, fand grosszügigen Wohnraum, während Weiler wie Säriswil, Illiswil, Salvisberg, Wickacker oder Murzelen weitgehend bäuerlich blieben.
Im Unterschied zu Agglo-Gemeinden wie Zollikofen, Köniz oder Ostermundigen drückt Müller mit seiner Regierung in Wohlen untypischerweise nicht aufs Wachstumstempo. «Wir wollen unsere Identität als Wohngemeinde bewahren», sagt Müller. Die Einwohner*innenzahl nimmt nur moderat zu. Deshalb wachsen die Steuereinnahmen nicht spektakulär. Wohlen steht jedoch auch nicht vor einem Investitionsstau, der andere Gemeinden – die Stadt Bern zum Beispiel oder Köniz – finanziell in die Enge treibt.
Wer einmal in Wohlen wohnt, zieht kaum je wieder weg. Die Folge: «Die Zahl der über-80-Jährigen in Wohlen ist überdurchschnittlich hoch», sagt Müller. Die Überalterung und die Bereitstellung von Wohn- und Pflegemöglichkeiten für betagte Menschen gehört zu den prioritären Themen, die ihn beschäftigen. Auf der anderen Seite sind es die kleinsten Kinder, die ihn umtreiben: «Wir haben gemerkt, dass schon sprachliche oder verhaltensmässige Defizite da sind, wenn sie in die Spielgruppe kommen.» Also schuf Wohlen eine Fachstelle für Frühförderung. Gleichzeitig sorgt sich Müller um die Qualität der Schule. Die Lehrkräfte zu halten und die Ressourcen bereitzustellen, damit die integrative Schule umgesetzt werden kann, «fordert uns extrem heraus».
Aussenminister von Wohlen
Trotzdem die Frage: Ist Müller mit seinem 100-Prozent-Pensum eigentlich ausgelastet? «Wir haben das sehr sorgfältig analysiert», sagt er, «rein für die Wohlener Angelegenheiten würde eine 70- oder 80-Prozent-Stelle wohl auch reichen.»
Aber aus Sicht der Gemeinde sei es wichtig, dass das Portefeuille des Gemeindepräsidenten auch die regionale und kantonale Vernetzung umfasse. So wendet Bänz Müller rund ein Viertel seiner Arbeitszeit für Aktivitäten quasi als Aussenminister von Wohlen auf. Er sitzt etwa in der Geschäftsleitung der Regionalkonferenz Bern-Mittelland, die namentlich in Verkehrs- und Raumplanungsfragen in der Agglomeration Bern grosses Gewicht hat. Im einflussreichen Verband Bernischer Gemeinden (VBG) ist Bänz Müller der Vize von Präsident Daniel Bichsel, der für einen Sitz in der Kantonsregierung kandidiert. Zudem ist Müller seit 2020 Mitglied des Kantonsparlaments.
Der Reibung zwischen Stadt und Land begegnet der Wohlener Gemeindepräsident in all seinen Ämtern. «Es ist eine Tatsache», sagt er, «der Kanton Bern ist sehr divers. Aber es ist schlecht für den Kanton, die Unterschiede zwischen Stadt und Land politisch als Graben zu bewirtschaften, um Partikularinteressen zu bedienen.» Der Kanton Bern, der wirtschaftlich nicht so gut aufgestellt ist, könne es sich eigentlich nicht leisten, dass die ländlichen Regionen gegen die Städte arbeiten. Sie sind auf deren finanzielle Transferleistungen angewiesen.
Wie soll man Abhilfe schaffen? «Es braucht nicht Instrumente, es braucht Menschen, die bereit sind, aufeinander zuzugehen», sagt Müller. In seiner Gemeinde seien die benachbarten Dörfer Wohlen und Uettligen vor 100 Jahren so verkracht gewesen, dass es ortseigene Schimpfwörter gab dafür. «Was, wenn es immer noch so wäre», fragt er. Heute sei er dankbar dafür, dass er dank seinem Grossratsmandat im Kanton herumkomme. Und so auch den Draht finde etwa zu SVP-Politiker*innen aus dem Oberland, die für die Sichtweise aus dem städtischen Raum durchaus offen seien.
Der Boccia-Club
Exemplarisch für Müllers hartnäckige Arbeit am Stadt-Land-Graben steht der «Boccia-Club». So heisst das inoffizielle halbjährliche Meeting aller Gemeindepräsident*innen der zwölf engsten Agglomerationsgemeinden plus der Stadt Bern. Vor 12 Jahren gehörte Bänz Müller zu den Initiant*innen dieser regelmässigen Treffen inklusive Nachtessen. Die Bezeichnung «Boccia-Club» soll symbolisieren, dass alle Beteiligten die Kugel in die gleiche Richtung spielen wollen. «Es gibt für diese Treffen kein Protokoll, es geht darum, den persönlichen Austausch zu fördern und gemeinsame Themen zu besprechen», sagt Müller. Und so dem latenten politischen Graben zwischen Stadt und Agglomeration entgegenzuwirken.
Der «Boccia-Club» sei stets gut besucht, sagt Müller. Schon Alexander Tschäppät (SP), danach Alec von Graffenried (GFL) und jetzt Stadtpräsidentin Marieke Kruit (SP) schätzten diesen Austausch auf Augenhöhe. «Ich glaube», sagt Müller, «der Boccia-Club hat dazu beigetragen, dass das Bewusstsein, dass wir aufeinander angewiesen sind und gemeinsam eine Agglomeration bilden, stärker geworden ist.»
Hotspot Wohlensee
Bänz Müller blickt jetzt vom Friedhof hinunter auf den Wohlensee, der friedlich in der herbstlichen Verlassenheit ruht. Im Sommer ist er als Naherholungsgebiet ein Hotspot. Immer mehr Menschen aus der Stadt und den nahen Agglomerationen nutzen ihn an schönen Tagen als gut erreichbaren Naturort, zum Spazieren, Abhängen, Stand-up-Paddeln. Das kollidiert mit den Ufer- und Vogelschutzbestimmungen. Die coole Bar «Bogen 17» bei der Wohleibrücke sorgt an den 100 bewilligten Betriebstagen für eine gewisse Besucher*innenlenkung.
Aber zu viele Autos und zu wenig Rücksicht auf die Natur bleiben ein Problem, die Wohlener Politik, aber auch die Seepolizei, die in Hinterkappelen einen Posten hat, sind gefordert. «Wir werden weitere Parkplätze aufheben», kündigt Bänz Müller an, «und ab nächstem Jahr wird es in Hinterkappelen Publi-Bikes geben, was hoffentlich mehr Menschen motiviert, mit dem Postauto anzureisen.» Zudem werde ab und zu darüber diskutiert, Ranger einzusetzen, um die Sensibilisierung für den geschützten Naturraum zu fördern.
Eine der Kernkompetenzen des Gemeindepräsidenten wird auch in der nächsten Legislatur gefordert sein: Dass er gerne redet.
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