Grand Prix – «Hauptstadt»-Brief #172

Samstag, 13. Mai 2023 – die Themen: Grand Prix von Bern; Unbegleitete minderjährige Asylsuchende; Autobahnausbau; Innenstadt-Gastro; Stadtrat; Bern-Ostermundigen. Kopf der Woche: Mario Batkovic.

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(Bild: Marc Brunner, Buro Destruct)

25’000 Läufer*innen rennen heute Nachmittag durch die Berner Altstadt. Der Grand Prix von Bern nennt sich «Die schönsten 10 Meilen der Welt». Doch dann schaut man in die Gesichter der Laufenden, die sich über die Pflastersteine der Altstadtgassen dem unbarmherzigen Schlussstutz des Aargauerstaldens entgegenschleppen. Und man könnte viele fragen: Was ist genau schön daran? Warum machst du das?

Ich kenne diese Fragen nur zu gut. Seit über 25 Jahren habe ich keinen GP verpasst, und so werde ich heute irgendwann gegen 18 Uhr nach 13 Kilometern in die Kramgasse einbiegen. Im Zustand fortgeschrittener Selbstauflösung. Spätestens jetzt werden sich die selbstzweiflerischen Fragen wie eine Wand vor mir aufbauen.

Zum Glück habe ich dafür eine Art gedankliches Doping –  ich gehöre ja mittlerweile zur laufenden Methusalem-Fraktion: Wenn mir der Schweiss von der Stirn tropft, denke ich gerne in erdgeschichtlichen Zusammenhängen. Und zwar so: Nur weil Menschen joggten, als sie vor ungefähr vier Millionen Jahren aufrecht zu gehen begannen, haben sie sich als führende Spezies auf der Erde durchgesetzt. Sie liefen – wie ich – nie schnell, aber ausdauernd. Dank kräftiger Nackenmuskulatur konnten sie dabei den Kopf aufrecht halten und behielten die Übersicht, um kraft ihrer Kondition schnellere Beutetiere in die tödliche Erschöpfung zu treiben.

Auch wenn ich aus dem letzten Loch pfeife, weiss ich: Die Evolution ist auf meiner Seite. Was ich an der Kramgasse zu tun habe, ist klar. Ich recke den Kopf, nehme mit aufgerissenen Augen irgendwo weit vorne ein fliehendes Gnu in den Blick und federe schwerelos den Steppenhügel hoch, den sie Aargauerstalden nennen.

Und wenn ich oben am Stutz ankomme, sinkt gerade die Sonne dem Meer entgegen. Oder spare ich mir das vielleicht besser für nächstes Jahr auf?

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Wer da wohl alles mal gesessen hat? (Bild: Renato Antonietti)

Das möchte ich dir ins Wochenende mitgeben:

Flucht: Unbegleitete Minderjährige sind eine besonders vulnerable Gruppe unter den Menschen, die in die Schweiz flüchten. Ihre Zahl ist im letzten Jahr stark angestiegen. Von Oktober bis März wurden aus Bundesasylzentren 249 Jugendliche an den Kanton Bern überwiesen. Wo leben sie, wie werden sie betreut? Die Stiftung Zugang B betreibt im Auftrag des Kantons an verschiedenen Standorten Unterkünfte und Integrationsangebote. Zum Beispiel in Huttwil, wo sich die «Hauptstadt» auf dem «Campus Perspektiven» umsehen konnte. Mein Kollege Joël Widmer traf bei diesem Besuch auf eine Institution, die am Limit läuft.

Verkehr: Wenn es noch etwas gebraucht hätte, um die Debatte um die Autobahnausbauprojekte in der Region Bern zu befeuern, der Bundesrat hat es geliefert: Er empfiehlt laut der Nachrichtenagentur SDA eine Motion von SVP-Nationalrat Erich Hess kommentarlos zur Annahme. Damit spricht er sich dafür aus, die Autobahn A1 zwischen Zürich und Bern sowie Genf und Lausanne auf mindestens sechs Spuren auszubauen. Für den ausbaukritischen Verein Spurwechsel ist das gemäss einer Mitteilung ein Beleg, dass die Projekte in Bern nicht der Engpassbeseitigung dienten, sondern Grundlage für weiteres Verkehrswachstum seien. 

Pendenzenberg: Der Berner Stadtrat schiebt über 200 unerledigte Vorstösse vor sich hin und wollte sich am Donnerstag dem Abbau dieses Pendenzenbergs widmen. Allerdings schaffte er in vier Stunden Debatte nur 9 von 22 Traktanden. Das Problem, das meine Kollegin Marina Bolzli im Stadtrat-Brief beschreibt: Viele Vorstösse betreffen Themen, die gar nicht in der Kompetenz der Stadt liegen, so dass engagierte Diskussionen geführt werden, die keine konkreten Auswirkungen haben können.

Fusion: Das Fusionsprojekt zwischen Bern und Ostermundigen hat politisch eine Mini-Hürde übersprungen: Die Spezialkommission des Stadtrats empfiehlt die Vorlage gemäss einer Mitteilung zur Annahme. Im Stadtrat wird das Geschäft am 1. Juni behandelt, die Volksabstimmung findet am 22. Oktober 2023 statt. Komplizierter ist es in Ostermundigen, dessen Regierung sich weder für noch gegen die Fusion ausspricht. 

PS: Pünktlich zu den Eisheiligen startet heute Samstag in der Stadt Bern die Badi-Saison. Gerüchten zufolge sollen sich dereinst wärmere Temperaturen einstellen, so dass man eine aufregende Neuerung im Bäderangebot auskosten kann: Das Lorrainebad schliesst im Hochsommer nicht schon um 20 Uhr, sondern erst um 21 Uhr, was schon fast Nachtbaden zulässt.

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(Bild: zvg/Rob Lewis)

Berner Kopf der Woche: Mario Batkovic

Wer in die Klangwelt von Mario Batkovic (42) eintaucht, darf vor etwas keine Bange haben: Komplett von ihr (und von ihm) eingenommen zu werden. Batkovics Musik ist ein Gesamtkunstwerk, zu dem auch die Inszenierung des Musikers selber gehört. Wie er bei Liveauftritten oder in Videos samt Haarspitzen mit seinem Instrument vibriert, wie er seine tätowierten Unterarme bewegt, den Kopf in den Nacken legt. Das Wort cool könnte dafür erfunden worden sein.

Batkovic ist ein Virtuose darin, mit dem Akkordeon Dinge zu tun, die man dem Instrument nicht zutraut. Er wolle «das Akkordeon in eine neue Richtung bewegen», sagte er einmal. Akkordeon spielt er, seit er 4-jährig ist. Doch es zeigte sich, dass es alleine ihn nicht ausfüllt. Batkovic wandelte sich zum Komponisten. Wenn nötig, spielt er die Instrumente, die er für seine Klangtüfteleien braucht, gleich selber.

Am Donnerstag teilte das Bundesamt für Kultur mit, dass Mario Batkovic zu den Preisträger*innen des Grand Prix Musik 2023 gehört. Batkovic entziehe sich jeglicher Kategorisierung und entwickle «mit seinem Akkordeon eine Musik, die so unterschiedliche Genres wie Klassik, Ambient, Minimal Music und Metal streift», hält die Jury fest. Der Geehrte freut sich, wie er dem Regionaljournal Bern Freiburg Wallis sagt. Die Preisverleihung findet am 8. September in der Reitschule statt. Ein Ort, den Batkovic, der als 11-Jähriger aus Bosnien in die Schweiz kam und in Ostermundigen aufwuchs, von Plattentaufen und Konzerten bestens kennt.

«Wer bin ich als Musiker?», fragt sich Batkovic in einem Video selber: «Ich liebe klassische Musik, ich liebe elektronische Musik, ich liebe Punk. Ich liebe alles. Wie führe ich das zusammen? Hier beginnt das Problem.» Und hier beginnt seine Kunst – live zu hören am 26. und 27. Mai im allerdings ausverkauften Kulturlokal Ono

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Diskussion

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Jürg Schlatter
13. Mai 2023 um 15:14

Diese Beschreibung des Grand-Prix hat eine Goldmedaille verdient: Genial ist wie feinfühlig du das Leiden bescheibst und in den Kontext der Evolution stellst. Merci.