Regieren – «Hauptstadt»-Brief #133

Donnerstag, 9. Februar 2023 – die Themen: Twitterer Philippe Müller; Umfahrung Oberburg; Tanja Bauer; Alkoholtestverkäufe; Vogelmiere; Riccardo Troia; Erdbeben in Türkei und Syrien.

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(Bild: Marc Brunner, Buro Destruct)

Hast du dir auch schon überlegt, was es braucht, um gut zu regieren? Ich stellte mir diese Frage, als ich diese Woche die Eskapaden des Berner FDP-Regierungsrats Philippe Müller auf dem Kurznachrichtendienst Twitter verfolgte. Seit Tagen wirft der Sicherheitsdirektor mit Vorwürfen an die Adresse der Lokalredaktion von Bund und BZ um sich. Ihn ärgert die Berichterstattung über die geplante, vom Grossen Rat verlangte Teilrevision des Polizeigesetzes. Dort ist ein Passus vorgesehen, gemäss dem der Kanton an sogenannten Brennpunkten eine Videoüberwachung anordnen könnte – auch gegen den Willen der betroffenen Gemeinde. Zum Beispiel vor der Reitschule in der Stadt Bern.

Natürlich ist das ein Aufreger, der vor allem Linke in die Sätze bringt. In der Vernehmlassung sprachen sich aber nicht nur rot-grüne Städte wie Bern und Biel, sondern auch das bürgerlich regierte Thun oder der sehr eingemittete Verband Bernischer Gemeinden (VBG) kritisch zur geplanten Reform aus. Bund/BZ berichtete darüber, erwog auch Pro-Argumente und kam in einem Meinungstext zu einem ablehnenden Schluss, was Videokameras vor der Reitschule angeht. Man kann anderer Meinung sein, aber so geht seriöser Journalismus.

Für Regierungsrat Philippe Müller ist das inakzeptabel. Diese «einseitige», «unausgewogene», «linksideologische» Berichterstattung sei «stossend», schäumte er auf Twitter. Auf einen scheuen Beschwichtigungsversuch von BZ-Chefredaktor Simon Bärtschi reagierte der Sicherheitsdirektor barsch: Es sei «Ideologie», was Bärtschis Redaktion produziere.

Kaum ein gewähltes Regierungsmitglied twittert (nicht nur in diesem Fall) so ungehobelt und verbissen wie Müller. Ist das wirklich Teil des Regierungsjobs? Ich fragte beim Amt für Kommunikation, ob der Kanton Leitplanken hat für Auftritte auf Social Media. Im Intranet ist für Kantonsmitarbeitende ein internes Merkblatt für den Umgang mit Social Media aufgeschaltet, das laut dem Info-Chef des Kantons, Reto Wüthrich, auch für Regierungsmitglieder gilt. Zudem, so Wüthrich, würden Regierungsrät*innen immer als Behördenmitglieder wahrgenommen, auch wenn sie sich auf ihren privaten Kanälen äussern.

Wird der wilde Twitterer Müller mit seinen 659 Followern diesem Rollenverständnis gerecht? Als ich mir dazu Gedanken machte, erinnerte ich mich an die Zeit vor bald 40 Jahren, als ich in den Journalismus einstieg. Damals war es in Bern noch gang und gäbe, dass Journalist*innen in enger Absprache mit Regierungsrät*innen Artikel schrieben. Oder eben nicht schrieben. Dieser autoritätsgläubige eingebettete Journalismus nach Berner Art löste sich nach dem Finanzskandal von 1985 langsam auf.

Zum Glück. Wenn ich daran zurückdenke, neige ich dazu, die Twitter-Ausbrüche von Philippe Müller als gutes Zeichen zu sehen.

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Coolness (Bild: Riccardo Troia)

Und das möchte ich dir sonst noch in den Tag mitgeben:

Strassenausbau: Am 12. März entscheiden die Berner Stimmberechtigten über geplante Umfahrungsstrassen in Aarwangen und in Oberburg im Emmental. Es sind Abstimmungen mit Symbolcharakter, auch für allfällige Autobahnerweiterungen in der Agglomeration Bern: Läuft die Zeit der Strassenausbauten ab? Meine Kollegin Marina Bolzli ist in Oberburg aufgewachsen. Nun ist sie für einen Tag zurückgekehrt an die Emmentalstrasse, auf der sich die Autos schon stauten, als sie ein Kind war. In ihrer Reportage bringt Bolzli differenziert auf den Punkt, in was Strassenprojekte die Menschen immer stürzen – in ein grosses Dilemma.

Könizer Optimismus: Die Könizer Gemeindepräsidentin Tanja Bauer (SP), die wie im Wahlkampf versprochen emsig an Anlässen in der Gemeinde unterwegs ist, wendet sich nach 100 Tagen im Amt in einem kurzen Youtube-Video an die Bevölkerung. Die Hauptbotschaft in dem für die lokale Ebene eher ungewöhnlichen Format: Die Coronakrise, der budgetlose Zustand und die Energiemangellage hätten in der Gemeinde Spuren hinterlassen. Deshalb brauche die Gemeinde nun einen entschlossenen Vorwärtskurs. Sie selber kündigt an, die Wirtschaftsförderung zu forcieren und für das Schloss, an dessen teurem Minimalunterhalt die Gemeinde schon lange nagt, eine Stiftung zu gründen, die zusätzliche Finanzquellen für die Weiterentwicklung des Areals erschliessen soll.

Alkohol: Das Blaue Kreuz Bern-Solothurn-Freiburg, das auf Suchtfragen spezialisiert ist, hat wie jedes Jahr an den Weltcup-Skirennen von Adelboden und Wengen Alkoholtestkäufe durchgeführt, um zu prüfen, ob der Jugendschutz eingehalten wird. Die Ergebnisse seien «ernüchternd», wie das Blaue Kreuz mitteilt. Bei rund einem Drittel der Testkäufe wurden Jugendlichen widerrechtlich Alkohol abgegeben. Der kantonsweite Schnitt liegt sonst deutlich tiefer, bei rund einem von vier Testkäufen erhalten Jugendliche Alkohol.

Grün im Winter: Die Vogelmiere wird gerne als Unkraut abgetan, das allenfalls Vögeln und Hühnern schmeckt. Die Wildkraut-Expertinnen von Urkraut sehen das anders. Sie sind in der Stadt Bern sogar im steifgefrorenen Februar auf frostgeschützte Flächen gestossen, auf denen die Vogelmiere auch jetzt gedeiht. Und sie ist eben kein Unkraut, sondern kann als Pesto-Basis sehr viel Freude machen.

Bern in Bildern: Der 23-jährige Fotograf Riccardo Troia hat den «Hauptstadt»-Brief durch die ersten Wochen des Jahrs begleitet. Mit seinem letzten Bild heute publizieren wir seine ganze Serie auf der «Hauptstadt»-Website. Ihm selber gefällt das Bild mit dem roten Stuhl am besten – weil es spürbar mache, dass der Schnee schmilzt und es wieder wärmer werde. Welches Bild gefällt dir am besten?

Ich wünsche dir einen friedlichen Tag!

PS: Der Gemeinderat der Stadt Bern spendet 25’000 Franken an das Schweizerische Rote Kreuz für die Nothilfe an die Betroffenen des Erdbebens in der Türkei und Syrien. Das ist gut. Ich bin sprachlos angesichts des Elends nach der Naturkatastrophe in einer Region, für die das nicht die erste Katastrophe ist. Der Völkermord an den Armenier*innen 1915 geschah auch hier. Eine Spende an die Glückskette zum Beispiel ist etwas Sinnvolles, was man in der verschonten Schweiz für die leidenden Menschen tun kann. 

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