Stadtgefühle – «Hauptstadt»-Brief #248
Donnerstag, 23. November 2023 – die Themen: Bernapark & Wankdorfcity 3; Calypso; Gastrokritik; Muri bei Bern; Obdachlosigkeit; Cannabis; Züri West; Rehe; Seltenes Orchester.
Wie baut man so, dass ein urbanes, cooles Lebensgefühl entsteht? Hier im Bernapark in Stettlen, wo die «Hauptstadt» eine Woche lang arbeitet, blickt man rundum an grüne, bewaldete Hügel, an denen Einfamilienhaus-Plantagen kleben mit viel Parkplatz.
Das, was die Familie von Investor Hans-Ulrich Müller in der früheren Kartonfabrik Deisswil versucht, ist genau das Gegenteil: Verdichtung wie in einem Stadtquartier. Auf dem Ex-Industrieareal gibt es Arbeitsplätze, Wohnungen, Läden, Restaurants, ein Fitnesscenter – samt Atem-Workshop mit Jürg.
Das ganze Leben soll hier stattfinden können.
Szenenwechsel ins Berner Wankdorfquartier. Hier wurde gestern über eines der spektakulärsten Siedlungsbauprojekte in der Stadt Bern informiert. Gleich neben dem SBB-Hauptsitz mit der freistehenden Uhr beim S-Bahnhof-Wankdorf befindet sich ein Industrieareal, es ist eingepfercht von Auto- und Eisenbahn.
Hier wohnen? Niemals.
Doch genau hier will die Bauherrin, die grosse, profitorientierte Zürcher Immobilienunternehmung Immofonds, bis 2029 neben 3000 Arbeitsplätzen rund 500 Wohnungen schaffen. Und zwar auf Boden, den ihr die Burgergemeinde Bern im Baurecht gegen Zins überlässt. Wankdorfcity 3 heisst die Siedlung. Sie sprengt bisherige Vorstellungen des Städtebaus, weil die bis zu 75 Meter hohen Gebäude unkonventionell angeordnet werden. Als gestapelte Stadt, die der Berner Architekt Rolf Mühlethaler entworfen hat.
In luftigen 30 Metern Höhe wird eine grosse begrünte Stadtterrasse schweben. Die Wasserzirkulation ist nach dem ökologischen Prinzip der Schwammstadt konzipiert. Es wird Einkaufsläden, Sportmöglichkeiten, Kitas geben. Das ganze Leben. Ich gebe zu, dass es mich euphorisierte, als ich auf das Modell der künftigen Siedlung blickte und mich in einer italienischen Traumstadt wähnte. Als ich mir das Video der Bauherrin ansah und in mir die Leichtigkeit des Seins aufstieg.
Das urbane, coole Lebensgefühl: Ja, vielleicht kann man es herstellen. Im Bernapark wie im Wankdorf. Aber kann man es in Übereinstimmung bringen mit den Renditevorstellungen der Investoren?
Und das möchte ich dir in den Tag mitgeben:
Wehmut: 24 Jahre lang hat Ruedi Hubacher (71) das Restaurant Calypso beim Eigerplatz geführt. Mitte Dezember hört er auf. Zum Zibelemärit nächsten Montag bäckt er letztmals eine Maxi-Ration seiner legendären Zwiebel- und Käsekuchen. Meine Kollegin Marina Bolzli hat mit Hubacher Zeit in seiner Beiz verbracht und ein feines Porträt geschrieben, das sich wie ein Kommentar zur modernen Stadtentwicklung liest. Für Spunten wie das Calypso ist im urbanen Hochglanz kein Platz mehr.
Zmittag: Wenn die «Hauptstadt» ihre Redaktion für eine Woche in eine Aussengemeinde verlegt, testet sie vor Ort das Gastro-Angebot. So auch in Deisswil. Erstes Fazit: Der Bernapark hat urbane Kulinarik nach Stettlen gebracht. Beim Thai-Take-away, aber auch bei der italienischen La Famiglia fühlten wir uns wie am Eigerplatz, wo wir normalerweise arbeiten. Gestern speisten wir hingegen in der Stettler Dorfbeiz Linde. Sehr, sehr währschaft. Das Bedürfnis nach Verdauungsruhe war so stark, dass diese Gastrokritik erst am Donnerstag im Laufe des Tages erscheint.
Cannabis: Die Städte Biel und Bern haben am Mittwoch das Pilotprojekt zur Cannabis-Abgabe gestartet. Ab sofort können sich Interessierte anmelden. Die Teilnahme ist möglich für volljährige Personen, die im Kanton Bern wohnhaft sind und regelmässig Cannabis konsumieren. Insgesamt werden 1000 Personen in den Versuch aufgenommen. Sie können laut der Nachrichtenagentur Keystone-sda voraussichtlich ab Februar 2024 in ausgewählten Apotheken Cannabis-Produkte kaufen.
Obdachlosigkeit: Die Zahl obdachloser Menschen ist in der Stadt laut dem Gemeinderat stark angestiegen. Die Notschlafstellen seien oft voll besetzt, letzten Winter hätten bis zu 44 Menschen regelmässig im Freien übernachtet. Die Stadt stellt ab sofort zusätzliche Notwohnungen zur Verfügung, zudem soll eine Notschlafstelle für Frauen geschaffen werden.
Muri bei Bern: Die Stimmberechtigten von Muri bei Bern werden an der Urne darüber befinden, ob ihre Gemeinde dereinst Muri-Gümligen heisst. Der Grosse Gemeinderat hat einem Vorstoss von Angelo Zaccaria (SP) zugestimmt, der das verlangt. Nun muss die Regierung die Gemeindeordnung ändern, was zwingend eine Abstimmung zur Folge hat.
Stadtrat: Heute Donnerstag Abend tagt der Berner Stadtrat. Die «Hauptstadt» ist dabei und wird dir am Freitag das Wichtigste im Stadtrat-Brief knapp und klar zusammenfassen – zum Beispiel, was der Rat zu den wohnpolitischen Vorstössen entscheidet. Damit wir den Stadtrat-Brief weiterführen können, suchen wir per Crowdfunding finanzielle Unterstützung. 18’000 Franken brauchen wir, um ihn für das Jahr 2024 zu sichern. Vielen Dank für deinen Support!
Züri West: Ich würde mich wirklich sehr freuen. Wenn die Band Züri West, mit der ich erwachsen wurde, neue Musik veröffentlichen würde. Ein am Mittwoch publizierter Instagram-Post suggeriert, dass es bald so weit ist. Niemand weiss Genaueres. Ausser, dass die Musik gut sein wird. Da bin ich sicher.
Wild: Rehe wären einst in der Schweiz fast ausgestorben. Das eidgenössische Jagdgesetz rettete sie, ehe es zu spät war. Heute sind die scheuen Rehe gelegentlich sogar in der Stadt unterwegs, schreibt unsere Wildtier-Kolumnistin.
Feedback: Wie findest du die «Hauptstadt»? Was sollten wir anders und besser machen? Hilf uns, die «Hauptstadt» genauer auf deine Bedürfnisse zuzuschneiden und gib uns dein Feedback in der Leser*innen-Umfrage, die Studierende der Fachhochschulen Bern und Graubünden für uns durchführen.
PS: Das Seltene Orchester tritt, wie sein Name sagt, selten auf. Freitag, Samstag und Sonntag spielt das Kollektiv von 12 Musiker*innen aus den Bereichen Jazz/Volksmusik/Improvisation im Kulturlokal Luna Negra. Ich habe vor, die seltene Gelegenheit beim Schopf zu packen.