Muri*Gümligen
Zu Muri gehört auch Gümligen. Eine kleine Velo-Safari durch den anderen Teil des Steuerparadieses mit dem unkonventionellen SP-Co-Präsidenten Angelo Zaccaria.
Angelo Zaccaria gibt Gas auf dem E-Bike, aber nicht nur dort. Wir fahren zügig ins hintere Gümliger Melchenbühlquartier, zwischen Bahngleisen und Ostermundigenberg. Dort wuchs Zaccaria – Sohn eines italienischen Vaters und einer Schweizer Mutter – auf. In einem Block gleich neben den Mehrfamilienhäusern mit Wohnungen für Arbeiter*innen des Lebensmittel-Unternehmens Haco, das vor genau 100 Jahren in Gümligen gegründet wurde. Kommunikationsspezialist Zaccaria sitzt seit 2021 im Parlament der Gemeinde Muri bei Bern, er ist Fraktionspräsident und seit wenigen Monaten zusammen mit zwei Kolleg*innen auch Co-Präsident der lokalen SP.
Logisch, dass er in diesen Rollen Gas geben muss im bürgerlichen Muri.
Am Meisenweg mitten im Melchenbühl bremst Zaccaria scharf und zeigt über die Strasse zur Kita Kunterbunt. Vor einem Monat hat der Grosse Gemeinderat (GGR) die Privatisierung der beiden gemeindeeigenen Kitas beschlossen, gegen die Stimmen der Linken, mit denjenigen der Lokalpartei Forum. «Völlig falsch», findet Zaccaria den Entscheid, «Kitas gehören zum Service public, erst recht in einer reichen Gemeinde wie Muri.»
Der politische Trend läuft zwar in die andere Richtung, nach Muris Ausstieg gibt es im Kanton Bern noch acht Gemeinden mit eigenen Kitas (darunter die Stadt Bern). Aber Zaccaria ist nicht einer, der dem Mainstream folgen will.
Was er mit dem Fingerzeig auf die Kita-Privatisierung auch sagen will: Das Forum, für das Gabriele Siegenthaler,unterstützt von der Linken, gegen Stephan Lack (FDP) für das Gemeindepräsidium kandidiert, sei keine krass linke Partei, wie das die Bürgerlichen gerne darstellen. Im Prinzip, so Zaccaria, sei das Forum die Muriger Variante der Grünliberalen.
Ein Dorf für immer?
Er kurvt weiter durch das frühere Arbeiter*innenquartier und stoppt bei einer Baustelle nahe der Gemeindegrenze zu Ostermundigen. Zwei Wohnblöcke mit günstigen Wohnungen sind abgerissen worden. Jetzt entstehen hier neue, teurere Appartements. Gümliger Gentrifizierung? Was man optisch auf jeden Fall feststellt: Der mächtige, quaderförmige Architekturstil, der das Bild drüben in Muri prägt, breitet sich auch in Gümligen aus.
Zaccaria bedauert, dass in den letzten 10, 15 Jahren das öffentliche Leben aus dem multikulturellen Melchenbühl gewichen sei. Er steht jetzt vor den leeren Schaufenstern des früheren Coop-Quartierladens. «Es gibt kein einziges Geschäft mehr hier», sagt Zaccaria, «und damit auch keinen Ort mehr, wo man sich trifft.»
Selbst der traditionelle Blumenladen Sardi ein paar Häuser weiter hinten, in dritter Generation geführt, hat gerade aufgegeben, wie er auf seiner Website bekannt gibt. Noch kann man Gartenmaterial aus dem Lager vergünstigt kaufen, bezahlt wird in ein aufgestelltes Kässeli.
Während in der Stadt das öffentliche Leben auf Plätze und Strassen der Quartiere zurückgekehrt ist, macht sich im Melchenbühl eine Art provinzielle Leere breit. Weil die Läden verschwunden sind, werden besonders ältere Menschen durch die langen Wege herausgefordert. Viele nehmen das Auto zum Einkaufen, was die zu Stosszeiten bemerkenswerten Autoschlangen verlängert.
«Unsere Gemeinde, so weltgewandt sie sich manchmal gibt, will ein Dorf bleiben», sagt Zaccaria, als wir wieder Fahrt aufgenommen haben. Deshalb tue sie sich schwer damit, fortschrittliche, urbane Lösungen anzustreben, wie etwa die 2020 von den Stimmberechtigten abgelehnte Planung für einen 60 Meter hohen Wohnturm im Zentrum Gümligens zeige.
Muri und/oder Gümligen?
Zaccaria fährt jetzt vorbei am veralteten Schulhaus Melchenbühl Richtung Autobahn. Mit einem politischen Vorstoss hat Zaccaria eine kontroverse Diskussion angestossen über den Gemeindenamen. «Muri bei Bern» ist heute die offizielle Ortsbezeichnung. Der SP-Co-Präsident möchte, dass die Gemeinde künftig Muri-Gümligen heisst, der Vorstoss wurde im letzten Frühjahr als Postulat überwiesen.
Claudio Righetti, Mitte-Stadtrat in Bern, aber als Kultur-Veranstalter im Chalet Muri auch ziemlich einflussreich in der Vorortsgemeinde, griff kürzlich in diese Debatte ein. Eine Namensänderung wäre ein Fehler, gab er in den «Lokal-Nachrichten» zu Protokoll, «Muri b. Bern» sei ein zugkräftiger Brand und mache bereits im Namen «die Verbindung zur Hauptstadt» klar.
Righettis Argumente lösen bei Angelo Zaccaria auf dem Velo einen spontanen Heiterkeitsanfall aus. Genau so sei Muri, findet er, «wenns gerade passt, macht man auf urban, aber im Innern soll bitte niemand die Ruhe stören». Ihm, Zaccaria, gehe es ja auch nicht darum, dass man Ortsschilder auswechsle und Briefköpfe erneuere: «Im Grunde genommen ist es eine Frage der Gleichberechtigung.»
Es sei auffallend, wie stark sich Muri zum Beispiel sozial von Gümligen unterscheide. Ein Beispiel: «Die Maturitätsquote in Muri ist sehr hoch, diejenige in Gümligen sehr tief», sagt Zaccaria. Trotzdem gehörten die beiden Gemeindeteile zusammen, und der neue Name wäre ein Bekenntnis dazu.
Im eiskalten Regen biegt Angelo Zaccaria ein zu den Hochhäusern des Thorackers. Sie sehen aus wie eine Miniatur des Tscharnerguts und passen auf den ersten Blick nicht zur noblen Anmutung des Steuerparadieses. Im Thoracker gibt es ein Familienzentrum namens MüZe mit Integrationsangeboten für Zugewanderte und einen «importas»-Supermarkt mit riesigem Angebot an sehr günstigen asiatischen Lebensmitteln – inklusive frischem Meerfisch.
«Das ist das Muri-Gümligen, das mir nahe ist», sagt Zaccaria. Vielleicht, weil es nicht genau dem Bild entspricht, das man sich vorschnell gemacht hat.
LGBTQ-Hauptstadt Muri?
Genau an diesem althergebrachten Bild des bürgerlichen Steuerparadieses macht sich Zaccaria politisch mit Vorliebe zu schaffen: Er möchte Muri zur «queer-feministischen Hochburg» machen, zum regenbogenfarbigen Vorbild für die ganze Schweiz. Mit einer parteiübergreifenden Gruppe, der neben zwei SP-Kolleg*innen auch die Freisinnige Laura Bircher angehört, hält er die Lokalpolitik mit einer ganzen Serie von Vorstössen auf Trab.
Zaccaria & Co möchten genderneutrale Toiletten in öffentlichen Gebäuden einführen oder in Schulhäusern Binden und Tampons gratis abgeben. Die Diversity in der Gemeindeverwaltung soll überprüft und bei Bedarf erhöht werden. Neue Strassen sollen so lange nach Frauen benannt werden, bis diese die Männer aufgeholt haben. Und warum nicht auch in Muri eine Strasse im Regenbogen-Style einfärben, wie die Rainbow-Street in der isländischen Grossstadt Reykjavik?
Angelo Zaccaria lacht selber über die Energie, die er als Linker in die trotz rot-grüner Mehrheit in der Dorfregierung immer noch ziemlich bürgerliche Gemeinde investiert. Bewegt er etwas damit? «Auf die Schnelle geht nicht viel, wirken tut es trotzdem», sagt er. In der Exekutive sei etwa die Forderung nach genderneutralen Toiletten erstaunlich positiv aufgenommen worden.
Und was einem wie ihm ja besonders gefallen muss: Die Reaktionen zu den queer-feministischen Vorstössen verlaufen nicht parallel zu den politischen Lagern. «Es gibt Zustimmung und Widerspruch von Linken und von Bürgerlichen», sagt er.
Sollte Zaccaria in der Namensdebatte nicht Muri*Gümligen vorschlagen? Selbst das bringt ihn nicht aus der Fassung. Für seine Vision, dass sich in Muri etwas verändert, nimmt er auch spitze Bemerkungen in Kauf.