Mikrokosmos – «Hauptstadt»-Brief #103

Samstag, 26. November – die Themen: Muri-Gümligen; teurer Spielplatz; Aplati; Frauenfussball; Verkehr in Bremgarten; Bundesrat; kirchliche Solaroffensive. Kopf der Woche: Marco Sieber, Astronaut in spe.

Hauptstadt_Brief_Eule_weiss
(Bild: Marc Brunner, Buro Destruct)

Guten Morgen!

Eine Woche lang fuhr ich jeden Morgen mit dem Velo an den Pop-up-Arbeitsplatz der «Hauptstadt»-Redaktion im sympathischen Bärtschihus beim Bahnhof Muri-Gümligen. Von der noblen Elfenau herkommend rollte ich ins Villettequartier von Muri, vorbei an prächtig eingewachsenen Villen, wo mir die grossen Parkplätze auffielen und eine einzige Peace-Fahne, die über sauber aufgereihten Skateboards hing. 

Ich querte hinüber ins Mettlenquartier. In meinem Bildgedächtnis brannte sich die Front mächtiger, properer Reiheneinfamilienhäuser in Quaderform ein, deren Kopien mir in abgewandelter Form in der ganzen Gemeinde begegneten. Muriger Architektur? Aus den Wolken sank ein Flugzeug, es visierte den Flugplatz Belpmoos an, dessen Anflugschneise ironischerweise über den besten Wohnlagen der Gemeinde liegt.

Ich glitt dem Tramtrassee entlang übers Feld, nahm jeden Tag den Blick auf die hier exotisch wirkende Skyline der Thoracker-Hochhäuser mit, tauchte unter der Autobahn hindurch hinüber nach Gümligen. Ich hörte: Gümligen ist lauter als Muri.

Muri-Gümligen ist nach Ostermundigen und Zollikofen die dritte Gemeinde, in die wir unsere Redaktion für eine Woche verlegten und versuchten, ein Gefühl für den Ort zu bekommen. Was mich an diesen Reisen in den lokalen Mikrokosmos am meisten beeindruckt: die Unterschiede auf kleinstem Raum. Agglo ist nicht Agglo. Ostermundigen wirkt auf mich wie jemand, der frisches Selbstvertrauen getankt hat und mit dem Bäre-Tower urbane Furchtlosigkeit nach aussen trägt. Zollikofen gibt den gelassenen Bär, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt – schon gar nicht durch die Verkehrslawine auf der Bernstrasse.

Muri-Gümligen empfand ich hingegen als Dorf im Anspannungsmodus, das auch der «Hauptstadt» teils reserviert begegnete. Die Nervosität des Duells ums Gemeindepräsidium liegt förmlich in der Luft. Meine Kolleg*innen Carole Güggi und Joël Widmer porträtierten sowohl Stephan Lack (FDP) wie Gabriele Siegenthaler Muinde (forum), und beide reagierten angespannt auf den kritischen journalistischen Aussenblick. Klar, die Gemeinde hat auch etwas zu verlieren, wie meine Kollegin Marina Bolzli in ihrem Text zeigt, der Muris Weg zum Steuerparadies nachzeichnet. 

Als die «Hauptstadt»-Redaktion vor zwei Tagen im Bärtschihus beim Feierabendbier war, brachte  Hauptstädter Marc eine Züpfe vorbei. «Toll, euch hier in Gümligen zu haben», sagte er. Und uns ging auch in Muri das Herz auf.

Wir werden in den nächsten Tagen weiter publizieren, was wir in Muri recherchierten – die soziale und regenbogenfarbige Seite der Gemeinde zum Beispiel. Und: Es wird getanzt im Bärtschihus. Und wie.

DSCF6223-2
(Bild: Stephen Nthusi)

Spielplatz: Der Stadtrat hat einem aufsehenerregenden Liegenschaftsdeal zugestimmt: Die Stadt Bern wird dem Apothekenkonzern Galenica 3,7 Millionen Franken überweisen für ein Grundstück im Untermatt-Quartier in Berns Westen, um darauf einen Spielplatz einzurichten. Das werde «der teuerste Spielplatz der Welt», kritisierte etwa Thomas Fuchs (SVP), wie die Nachrichtenagentur sda schreibt. Das Quartier wird stark wachsen, wenn die Überbauung Weyermannshaus West realisiert wird, und es gebe keine andere Parzelle, auf der ein Spielplatz realisiert werden könne, sagte Finanzdirektor Michael Aebersold (SP). Interessant ist, dass einige FDPler*innen ausnahmsweise mit der befürwortenden Linken stimmten, weil sie im Landkauf auch eine nachhaltige Wertanlage sehen.

Genuss: Die Burgdorfer Schwestern Camille und Céline Rohn ziehen mit ihrem mobilen Restaurant Aplati für ein halbes Jahr nach Zollikofen. Zu ihrer Art von Kochen gehören auch die Geschichten, die hinter den Lebensmitteln stecken, wie unsere Autorin Karin Hänzi schreibt. Aplati-Fans ziehen den Köchinnen hinterher, von heute Samstag bis Ende Mai 2023 kochen sie im Quadrat an der Zollikofer Bernstrasse.

Fussball: Findet die Frauenfussball-EM 2025 in der Schweiz statt, kann die Stadt Bern sie mit gut sechs Millionen Franken unterstützen. Der Stadtrat hat dafür einen Verpflichtungskredit genehmigt, schreibt die Nachrichtenagentur sda.

Verkehr: Gemeindepräsident Andreas Schwab (SP) will in Bremgarten ein urbanes Verkehrsregime einführen, wie er vor ein paar Monaten in der «Hauptstadt» erläuterte. Höchstgeschwindigkeit auf den Hauptverkehrsachsen wird Tempo 40, auf Quartierstrassen gilt Tempo 30 und in drei Begegnungszonen Tempo 20. Nach der Mitwirkung ist die für eine Agglomerationsgemeinde aussergewöhnlich umfassende Verkehrsberuhigung ausführungsreif. Auf eine Abstimmung über das Gesamtkonzept an der kommenden Gemeindeversammlung verzichtet der Gemeinderat aber, die Umsetzung soll schrittweise über Baubewilligungsverfahren laufen.

Bundesrat: Für die Berner Regierungsrätin Evi Allemann (SP) wird es ein eher unentspannter Samstag. Die Bundeshausfraktion der SP entscheidet heute, wem der Sprung auf das offizielle Zweiericket für die Nachfolge von Bundesrätin Simonetta Sommaruga gelingt. Eva Herzog, Elisabeth Baume-Schneider oder Evi Allemann? Bei einer Veranstaltung in Liestal konnte Andrea Fopp, Chefredaktorin unseres Partner-Portals bajour, kaum Unterschiede zwischen den drei Frauen ausmachen.

Solaroffensive: Die Katholische Kirche will in der Region Bern bis 2025 17 Immobilien mit Solaranlagen ausrüsten, wie sie schreibt. Das Kirchenparlament stellte dafür in der Investitionsplanung einen jährlichen Betrag von 200'000 Franken ein.

Ich wünsche dir ein schönes Wochenende Jürg Steiner

PS: Braucht es immer breitere Autobahnen in der Agglomeration Bern? Die «Hauptstadt» diskutiert diese Frage live im «Hauptsachen»-Talk, am kommenden Donnerstag, 1. Dezember, im Progr (19.30 Uhr). In die Debatte stürzen sich: Regierungsrat Christoph Neuhaus (SVP), der Zollikofner Gemeinderat Edi Westphale (GFL) und Franziska Grossenbacher, Präsidentin des VCS Kanton Bern. Komm vorbei, schreibs dir in die Agenda. Wir freuen uns!

hs-Marco_Alain_Sieber-22(1)
(Bild: zvg)

Berner Kopf der Woche: Marco Sieber

Das nennt man konkurrenzfähig: Der 33-jährige Marco Sieber aus Kirchberg gehört zu den 17 Personen, die diese Woche von der europäischen Raumfahrtagentur ESA aus 22’500 Bewerber*innen ausgewählt worden sind, damit sie die Ausbildung als Astronaut*in beginnen. Sieber setzte sich während einer anderthalbjährigen Selektionsphase durch. Zuvor hatte er an der Universität Bern Medizin studiert und sich in der Armee zum Fallschirmjäger ausbilden lassen. Danach spezialisierte er sich zum Notfallarzt, der sich vor allem bei Helikopterrettungen in seinem Element fühlt, wie er in einem Video der ESA erklärt. In seiner Freizeit pilotiert Sieber Privatflugzeuge und widmet sich dem Gleitschirmfliegen.

Auch wenn er ständig in der Luft ist: Sieber vermittelt den Eindruck, am Boden geblieben zu sein. Einzige kleine Extravaganz: Im Unterschied zum offiziellen ESA-Profilbild hat er sich einen Schnauz wachsen lassen. Der einjährige Ausbildungsgang am europäischen Astronautenzentrum in Köln startet im kommenden Frühling. Sieber gehört in der Klasse acht Frauen und neun Männern zu den fünf Profis, die Berufsastronaut*innen werden. 11 Lehrlinge werden dem Reservepool zugeteilt, und einer, der Brite John McFall, ist beinamputiert und der erste Mensch mit Handicap, der zum Astronauten ausgebildet wird.

Denkbar ist, dass Sieber zur internationalen Raumstation ISS fliegen wird – wie sein einziger Schweizer Vorgänger als Astronaut, Claude Nicollier (78). Möglich ist für Sieber aber auch ein Flug zum Mond. «Sehr spannend», fände Marco Sieber die 380’000 Kilometer lange Reise. 

tracking pixel