Emmentaler machen sie auch noch
Der Emmentaler steckt in der Krise. Doch der Niedergang der Berner Käse-Ikone hat bei einer neuen Generation von Käser*innen Kräfte freigesetzt, die städtische Kund*innen begeistern. Ein Ortstermin bei Jumi in Zäziwil.
Mike Glauser läuft durch grosse Hochregal-Lager der Käserei Eyweid in Zäziwil. Es riecht nach Ammoniak, kühl und feucht ist die Luft. Rund 400 Emmentaler-Laibe liegen hier in den Regalen, jeder von ihnen bis zu 120 Kilo schwer. Schweizweit seien sie der einzige Betrieb, der solch hohe Laibe ausreifen liesse, so Glauser. Manche der Laibe tragen noch ein helles, frisches Gesicht, andere sind dunkelrot wie Herbstlaub – gezeichnet vom langen Reifen. Ein Roboterarm hebt sie aus den Gestellen, dreht und schmiert sie.
Sicher ist: Die reifenden Käse werden Abnehmer*innen finden. «Wir haben zuletzt in Wien, London und Winterthur neue Geschäfte eröffnet und diese wollten mehr Emmentaler von uns haben, als wir liefern konnten», sagt Glauser.
Dabei ist der Emmentaler in einer tiefen Krise.
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: In den 1990er Jahren produzierte die Schweiz über 40’000 Tonnen Emmentaler pro Jahr. Vor zehn Jahren waren es rund 19'000 Tonnen jährlich vom Emmentaler AOP – heute sind es noch 12'000 Tonnen. Einziger Lichtblick: Zumindest in der Schweiz konnte 2024 leicht mehr Emmentaler verkauft werden als in den Jahren zuvor.
Die Absatzkrise hinterlässt Spuren. Zuletzt stellte Ende Juni 2025 die Emmentaler Schaukäserei in Affoltern ihre Produktion ein. 40 Jahre lang konnten Besucher*innen beobachten, wie aus Milch der Käse mit den Löchern wurde. Damit ist nun Schluss.
2024 gaben zudem zwei Betriebe auf dem Berner Längenberg die Produktion von Emmentaler AOP auf. Vieles nagt also am Mythos Emmentaler, doch immer weniger nagen an ihm, dem weltberühmten Käse.
Von Zäziwil nach London
Kommt es vielleicht trotzdem wieder gut? Und wie könnte dieses «Gut» aussehen?
Mike Glauser hat zusammen mit Jürg Wyss die Käsemanufaktur Jumi gegründet, welche zusammen mit Bauernfamilien und anderen Käser*innen die Käserei Eyweid mitbesitzt. Den Hauptsitz hat Jumi aber in Boll direkt am Kreisel im Ortskern. Von dort sind schon einige Camions mit Käsefracht in die ganze Welt aufgebrochen. Denn Jumi verkauft die Ware mittlerweile auf dem halben Globus: Neben den erwähnten eigenen Läden in London und Wien auch bis in die gehobene Gastronomie von Tokio. Jumi hat sich dieses Renommee durch ausgefallenes Design, mutige Namensgebungen («blaus Hirni») und viel Liebe zum Handwerk erarbeitet. Auch wenn er das aus Gründen der Bescheidenheit von sich weisen würde, ist Glauser eine Verkörperung des von Jumi eingeschlagenen Wegs.
Käse-Guru mit Weitblick
Der 42-Jährige wirkt durch seinen wilden Lockenkopf, Vollbart, runde Brille und expressive Gestik wie ein Philosophiestudent im fortgeschrittenen Semester. Wenn man es schafft, mit dem ruhelosen Glauser in den Käse-Korridoren Schritt zu halten, lernt man einen Menschen kennen, der absolut detailversessen ist bei der Verbesserung seines Lieblingsprodukts: dem Käse. Glauser steht vor einem Regal, in dem sich der Bauch eines Emmentaler-Käselaibs zu wölben beginnt. Für Käser*innen wie Glauser ein Zeichen, dass die Propionsäurebakterien am Werk sind, die beim Emmentaler für die Löcher sorgen.
Er klopft aus Gründen der Qualitätskontrolle auf den Laib. Wie ein dumpfer Bass töne das, sagt er, und scheint Freude darüber zu empfinden, wie manch einer beim Tanz zur elektronischen Musik. «Der Emmentaler ist ein sensibler Riese», sagt Glauser. «Er verzeiht nichts. Ein Emmentaler zeigt dir gnadenlos die Milchqualität auf.» Er gibt zu bedenken, dass Hartkäsesorten wie beispielsweise Greyerzer in dieser Hinsicht pflegeleichter seien – mit ein Grund, warum sich Käser*innen zuletzt vom divenhaften Emmentaler abwandten.
Wenn Glauser den Käsekeller verlässt und auf den Hof tritt, weitet sich sein Blick. Er setzt an zu einer grossen Erzählung über den identitätsstiftenden Wert der Landwirtschaft und der Nahrungsmittelproduktion. Die charakteristische Landschaft des «Wasserschlosses» Emmental kommt darin vor, mit seinen Högern, Wiesen und zerklüfteten Tälern, die wenig anderes zuliessen als die Vieh- und Milchwirtschaft und die damit verbundene Käseproduktion. Der Emmentaler Käse findet in dieser Erzählung auch seinen Platz, allerdings keinen prominenten.
Glauser und sein Team versuchen, das komplexe Wissen über die Emmentalerherstellung zu bewahren und mit rezenten, das heisst ausgereiften Varianten, ein Publikum zu finden. Während die meisten Emmentaler Käse bei Platzhirschen wie der Emmi nach vier Monaten Reifung in die Supermarktregale wandern, lässt Glauser seine Laibe über ein Jahr im Keller liegen. Ein Wagnis, denn der Käse kann leicht brechen und unbrauchbar werden. Gelingt die Reifung, sei der Gewinn aber ein unverwechselbarer Geschmack, so Glauser. Und es lockt ein höherer Preis, der im Verkauf erzielt werden kann. «Man darf nicht gierig sein», sagt er. «Ein guter Emmentaler lebt davon, dass man ihn ausreifen lässt.»
Überzeugungsarbeit auf dem Märit
Jumi ist vielen Berner*innen ein Begriff, weil der Hersteller mit einem grossen Stand am Samstagsmärit in der Münstergasse präsent ist. Barbara Neuenschwander leitet das Team, das in den frühen Morgenstunden Lieferwagen in Boll belädt und in die Berner Altstadt kutschiert. Neuenschwander ist im Oberaargau gross geworden und hat als Kind die Milch des familieneigenen Betriebs in die Käserei gebracht. Dass im Emmental so viele Käsereien zugegangen seien, stimme sie als Bauerntochter nachdenklich, so Neuenschwander. Die Milch- und Käsewirtschaft sei «existenziell» für viele Familien gewesen. Viele hätten nach und nach auf Fleischherstellung umgestellt, um über die Runden zu bekommen.
An Märittagen platziert Neuenschwander einen Emmentaler in Form eines mächtigen Keils auf dem Verkaufstisch – ein Blickfang. Tourist*innen fotografieren den «Käse mit den Löchern», ältere Kund*innen greifen mit leuchtenden Augen zu, erzählt Neuenschwander. «Der Emmentaler ist wie der Grossvater in der Familie, ein wenig eckig und kantig, aber immer präsent.»
Sie merkt aber auch, dass es für dieses Familienmitglied Überzeugungsarbeit braucht. Junge Menschen verbinden in ihren Augen mit Emmentaler oft nur das industrielle Massenprodukt, das geschnitten und verschweisst aus den Regalen der Detailhändler grüsst. «Viele kennen den guten Emmentaler gar nicht mehr», findet Neuenschwander. «Deshalb müssen wir ihn erklären, probieren lassen, Geschichten dazu erzählen.» Sie rät zu einem alten Emmentaler, der mit seinem kräftigen, kristallinen Geschmack zum Glas Wein oder aufs Apéroplättli passe.
Buntes Potpourri
Glauser steht im Verkaufsladen der Käserei Eyweid in Zäziwil. Die in alte Holzmöbel eingefassten Glasvitrinen wecken Erinnerungen an Bauernhöfe des vergangenen Jahrhunderts – als Greyerzer, Sbrinz und Emmentaler bei der Käseunion den Ton angaben. Der Inhalt der Vitrinen zeigt, dass eine neue Zeit angebrochen ist. Der Sortenreichtum ist gross, die Farben prächtig. Da ist etwa der «Bsoffnig», ein Käse, der in einem Bett aus Trester von der Petersinsel reift und der so eine spezielle Rotfärbung bekommt. Oder der Weichkäse La Bouse, wahlweise mit Trüffelfüllung und schwarzem Knoblauch. «Pixel», «blauer Schnee», «Früchterolle» – die Liste der Neuschöpfungen liesse sich noch weiter fortsetzen. Sie tönen eher wie ein Beitrag zur Konkreten Poesie, statt nach schnöden Produktnamen.
Glauser und sein Team haben mit diesem konstanten Ideenstrom ein Publikum gefunden. Es ist bereit einen Preis zu zahlen, welcher der aufwendigen Herstellung entspricht. Keine Selbstverständlichkeit. Der 42-Jährige will nicht über Unternehmenszahlen sprechen und führt lieber durch den Standort Eyweid. Dieser lässt erahnen, dass die vergangenen Jahre keine schlechten gewesen sein können. Glauser zeigt auf Baumaschinen, die gerade einen neuen Käsekeller und zusätzliche Verpackungsräume errichten. Nebenan produziert das hauseigene Blockheizkraftwerk Strom mit Holz aus der Region und die Photovoltaikanlage sorgt für zusätzliche Unabhängigkeit.
Kein Patentrezept
Jumi ist aber ein vergleichsweise kleiner Akteur auf dem Käsemarkt – sowohl schweizweit als auch in der Region Bern. Zum Vergleich: Bei Jumi sind es jährlich die erwähnten 400 Laibe Emmentaler, die in den Verkauf gehen – bei grösseren Käsehändlern können es mehr als 10'000 sein. «Grosse Betriebe müssen völlig andere Aufgaben lösen als wir», erklärt Glauser. Er denkt dabei an die Ausreifung des Käses und sein Schlussgewicht, das über seinen Verkaufspreis entscheidet. Bei Grosshändlern, die mit bedeutenden Mengen operieren, kann schon eine Veränderung im Gramm-Bereich der ausgereiften Käse schnell einen Gewinn oder Verlust von mehreren Tausend Franken bedeuten. Ausserdem müssen sie ein noch grösseres Augenmerk auf die Logistik legen. Jumi sieht sich in dieser Hinsicht flexibler.
Das liegt auch daran, dass sich das Unternehmen von Mike Glauser und Jürg Wyss verschiedene Standbeine aufgebaut hat. Heute verkäsen sie nur einen Fünftel bis einen Viertel der angelieferten Milch zu Emmentaler – und den Rest zu den erwähnten Spezialitäten.
Insofern kann ihr Weg nicht als Patentrezept auf den Rest der Branche übertragen werden. Wie es für die Produzent*innen von Emmentaler Käse hierzulande weitergeht, darüber sind die Ansichten geteilt. Manche Branchenvertreter*innen, mit denen die «Hauptstadt» gesprochen hat, gehen davon aus, dass die Bereinigung noch nicht abgeschlossen ist und weitere Käsereien schliessen müssen.
Mike Glauser jedoch – es mag an seinem Naturell liegen – blickt auf die Branche mit mehr Zuversicht als auch schon: «Einige Bäume sind gefällt worden, aber die, die übrig sind, sind stark».
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