Nur das Rindfleisch kommt fast nicht weg
Die Landwirtschaftsinitiative Radiesli in Worb startete mit einem Pflanzblätz. Nun bewirtschaftet das Kollektiv einen ganzen Hof – und zeigt, dass eine Utopie auch wirtschaftlich sein kann.
Die Kaffeepause ist gerade vorbei. Viviane und Rahel machen sich wieder an die Arbeit. Sie portionieren Nüsslersalat, stecken Zuckerhut in die aufgereihten Taschen. Es ist Freitag, Verteiltag auf dem Radiesli-Hof in Worbboden. An diesem Tag erhalten die Mitglieder ihren Gemüsekorb, den sie für mindestens ein Jahr lang bestellt und vorbezahlt haben. 135 Gemüseabos hat der liebevoll nur «Radiesli» genannte Hof zu bieten. Bisher gab es dafür oft lange Wartelisten. Nun ist die Situation erstmals anders: Für 2025 sind noch zwölf Gemüseabos frei.
Auch Viviane und Rahel sind langjährige Mitglieder dieser solidarischen Landwirtschaft. Das heisst für sie: Mindestens acht Halbtage im Jahr helfen sie auf dem Hof mit. Sei es beim Jäten, beim sommerlichen Giessen oder eben beim Füllen der Taschen. Die Mitarbeit ist Bedingung für ein Gemüseabo. Der Radiesli-Hof ist ein gutes Beispiel dafür, wie man Landwirtschaft erfolgreich am Stadt-Land-Graben vorbei betreiben kann – einfach, indem man die Städter*innen mit ins Boot holt.
Tatsächlich funktioniert das Radiesli etwas anders als ein konventioneller Hof. Oder, wie es Mitarbeiterin Ursina Töndury formuliert: «Wenn ich auf die Welt blicke, verstehe ich, dass unsere Art der Umsetzung von Landwirtschaft, Wirtschaft oder Arbeit utopisch erscheinen mag. Sie ist es aber nicht. Unsere Umsetzungen sind eine Realität – machbar und möglich.»
Töndury ist eine von sechs Mitarbeiter*innen, die sich die Hofarbeit teilen. Darunter sind zwei Landwirt*innen und drei Gemüsegärtnerinnen. Töndury ist die einzige mit einem anderen professionellen Hintergrund. Sie ist Lehrerin für bildnerisches Gestalten und arbeitet Teilzeit an einem Gymnasium. Auf dem Hof ist sie zuständig für die 50 Hühner und die Hostet mit den Obstbäumen. Gemeinsam mit ihrem Mann Niculin – einem der beiden Landwirte – und den zwei Kindern lebt sie auch auf dem Hof.
Weitere Betriebszweige sind der Gemüse-, Getreide- und Kartoffelanbau, die Mutterkuhherde, die nur hofeigenes Raufutter frisst und vor allem angeschafft wurde, um auch eigenen Dünger zu haben. Ausserdem wurde 2023 ein Agroforst gepflanzt. Das ist quasi die Weiterführung der traditionellen Hostet, indem man mehrjährige Bäume mit landwirtschaftlichen Unterkulturen kombiniert. Das Ziel dabei: Mehr Vielfalt. Biodiversität und Nachhaltigkeit sind den Hofbetreiber*innen wichtig.
Der Wiesenstriegel wird geteilt
Mit der Übernahme des gesamten 13-Hektaren-Hofs gab es auch eine Annäherung an die bäuerlichen Nachbarn. So haben einige Landwirt*innen zusammen einen Wiesenstriegel – ein überdimensionierter Kamm für das Grasland – angeschafft, der zentral beim Radiesli-Hof seinen Standplatz hat, wie Ursina Töndury im Vorbeigehen erzählt. Bauern leisten auf dem Hof auch Lohnarbeit oder leihen sich Maschinen aus. «Langsam haben sie im Dorf verstanden, dass wir hier arbeiten und nicht nur gfäterlen», sagt sie.
Denn am Anfang war die Nachbarschaftssituation nicht leicht. 2011 übernahm eine Gruppe um Gemüsegärtnerin Marion Salzmann einen Pflanzblätz in Worbboden, um die erste solidarische Landwirtschaft in der Region Bern aufzubauen. Viele in Worb beäugten das Projekt skeptisch.
Solidarische Landwirtschaft, das heisst kurz gesagt: Konsument*innen und Produzent*innen gehen gemeinsam einen Vertrag ein. Man wird als Konsument*in Mitglied, zahlt einen jährlichen Betrag und sichert auch Mitarbeit zu. So wird der Betrieb finanziert. Dafür erhalten die Mitglieder die Lebensmittel, die angebaut werden können. Zum Beispiel als wöchentliche Gemüsetasche, als Getreidekiste oder als Fleisch-Mischpaket. Es ist ein System, bei dem Löhne und Saatgut im Voraus bezahlt werden und die Produkte deshalb nicht einen fixen Preis haben. «Dadurch haben wir viel mehr Planungssicherheit als andere Höfe», sagt Ursina Töndury.
Es braucht mehr Kommunikation von den Produzent*innen und mehr Verständnis und Interesse von den Konsument*innen. Das fanden die Gästinnen des «Hauptsachen»-Talks zum Thema Landwirtschaft.
Hier will die «Hauptstadt» ansetzen. Mit der Serie: «Durch das Berner Bauernjahr» sollen Konsument*innen erfahren, vor welchen Herausforderungen Berner Landwirt*innen stehen, und wie sich ihr Konsum und die Herausforderungen der Landwirt*innen gegenseitig beeinflussen.
Gemeinsam mit Berner Landwirt*innen wollen wir Fragen beantworten wie: Welche Auswirkungen hatte der ausgeprägte Mai- und Juniregen auf die Ernte? Wird es dieses Jahr mehr importierte Biokartoffeln geben als inländische? Wie bereiten sich die Produzent*innen auf das verändernde Klima vor? Welchen Einfluss hat das wandelnde Konsumverhalten?
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Seit dem Start von Radiesli sind weitere ähnliche Initiativen entstanden, so etwa Setzhouz in Münsingen, TaPatate in Wallenbuch, Solamix in Grossaffoltern oder Feldmoos in Niederwangen. Doch Radiesli geht immer wieder einen Schritt voraus. 2016 konnten die Initiant*innen den ganzen Hof übernehmen – obwohl es auch andere Interessent*innen aus dem Dorf für das zentrale, um den Hof arrondierte und flach gelegene Land gegeben hatte. Aus dem Pflanzblätz wurde eine Hofpacht. Und neben dem Gemüseabo gibt es mittlerweile mehrere andere Abos, etwa für Eier, Mehl, Obst oder Rindfleisch.
Wohlwollende Mitglieder, aber…
Der Hof hat heute einen Gesamtumsatz von rund 420’000 Franken pro Jahr, Direktzahlungen – 39’000 Franken – tragen weniger als zehn Prozent dazu bei. Diese werden vor allem für Massnahmen im Biodiversitätsbereich geleistet. Der Hof verfügt über insgesamt 3,6 Vollzeitstellen. Nicht alle Mitarbeitenden erhalten dasselbe Entgelt, denn Radiesli arbeitet nach Bedarfslohn. Das bedeutet: Zum Jahreswechsel wird unter den Mitarbeitenden ausgehandelt, wer wie viel braucht. Die Gesamtlohnsumme wird entsprechend budgetiert. Das funktioniere, sagt Ursina Töndury: «Wichtig ist, dass man auch wirklich sagt, wenn man mehr braucht.» Tatsache sei, dass sie und ihr Mann dank Töndurys gut bezahltem Teilzeitjob weniger als andere auf einen hohen Lohn angewiesen seien. Dieser aktuelle Spielraum sei jedoch keine Bedingung für ein stimmiges Lohnbudget des Betriebes.
Einen grossen Anteil daran, dass der Hof visionär und gleichzeitig wirtschaftlich funktionieren könne, hätten die Mitglieder. «Die Leute sind wohlwollend», sagt Töndury. Sie nehmen Änderungen nach vielen Diskussionen meist eindeutig an. In jüngster Vergangenheit akzeptierten sie beispielsweise eine spürbare Preiserhöhung. Um 20 Prozent haben die Gemüsekörbe vor einem Jahr aufgeschlagen. Eine Tasche für zwei Personen kostet nun 1550 Franken im Jahr.
«Die Mitglieder unterstützten das, weil wir sie an Versammlungen in die Entscheidung involvierten und darüber informieren, weshalb diese Teuerung für unseren Hof aktuell folgerichtig und gut ist. Und trotzdem frage ich mich in Momenten der Unsicherheit, ob die Preiserhöhung einen Einfluss darauf gehabt hat, dass momentan nicht mehr alle Abos vergeben sind», sagt Töndury. Sie könne sich aber auch vorstellen, dass die allgemeine Teuerung und die Nach-Corona-Zeit Einfluss auf die Nachfrage gehabt haben. «Gesamtgesellschaftlich gesehen wollen sich die Menschen seit Corona weniger verpflichten», hat sie festgestellt. Und so gelte es halt auszuhalten, dass momentan noch nicht alle Ernteanteile vergeben seien.
Denn trotz der erwähnten Planungssicherheit muss der Hof mit Unsicherheiten leben: Vordergründig werden Innovationen von den Mitgliedern gutgeheissen, aber möglicherweise verhalten sie sich dann doch anders. Ursina Töndury muss nicht lange nach einem Beispiel suchen. «Gehen wir bei den Rindern vorbei», sagt sie. Der grosszügige Laufstall liegt etwas versteckt hinter dem Bauernhof. Neugierig kommen die grauen, braunen und hell gefleckten Tiere mit den beeindruckenden Hörnern näher.
Mit der Hofübernahme war klar, dass es im neuen Betriebskonzept auch Tiere geben sollte. Die Mitglieder und die Betriebsgruppe, die aus Mitarbeitenden und Konsumierenden besteht, begrüssten das. Das Radiesli entschied sich für Rinder, um die Felder gleichzeitig auch mit tierischen Nährstoffen versorgen zu können.
Und wer isst jetzt das Fleisch?
Seither lebt die kleine Mutterkuhherde auf dem Hof. Die Tiere werden nicht gemolken, allerdings wird die Herde regelmässig verjüngt. Was gleichzeitig heisst: Regelmässig wird ein Tier nach einer Hoftötung gemetzget. Doch die meisten Mitglieder von Radiesli möchten kein oder wenig Fleisch konsumieren. Und so bleibt der Hof oft auf Fleisch sitzen, das er dann aufwändig und teils ausserhalb der solidarischen Landwirtschaft vermarkten muss.
Es ist ein Widerspruch, der noch ungelöst ist: Um möglichst konsequent Kreislaufwirtschaft zu betreiben und Dünger nicht einkaufen zu müssen, sind Rinder nötig. Und um diese Rinderherde kostendeckend zu halten, muss ab und zu ein Tier geschlachtet werden.
Auch bei den Legehennen passiert das nach rund drei Jahren. Suppenhühner kommen eher weg als Rindfleisch, sagt Ursina Töndury. Denn bei einem Eierabo gehören auch ein halbes Suppenhuhn pro Jahr und gelegentlich Fleisch der Bruderhähne mit dazu.
Töndury führt nun zum mobilen Bauwagen, der als Hühnerstall dient. In den letzten Wochen hat sie schweren Herzens ein paar Hühner dazukaufen müssen. Denn kürzlich wurde die Schar von einem Fuchs angegriffen. Am Samichlausetag habe er sich unbemerkt zum Bauwagen geschlichen und sechs Hennen geholt. «Er hat ausgenutzt, dass wir unseren Kontrollgang versäumt und die Hennen, die dummerweise nach Einbruch der Dunkelheit noch draussen sassen, nicht persönlich zu Bett gebracht hatten», sagt Töndury.
Zurück im windgeschützten Abpackraum. Viviane und Rahel sind fast fertig mit dem Füllen der Taschen. Was schätzen sie denn am meisten an ihrem Abo? Viviane mag die Frische des Gemüses und die Nähe zum Hof: «Man kennt sich.» Und Rahel findet: «Ich muss mir nie überlegen, was ich kochen soll, ich verwende einfach das Gemüse, das im Korb ist.» Dabei gibt es für sie nur eine einzige Einschränkung. «Zu viele Pastinaken mag ich gar nicht.»