Italianità – «Hauptstadt»-Brief #105

Donnerstag, 1. Dezember 2022 – die Themen: Pecore ribelli; Autobahn; Altersarmut; Tanzleidenschaft; Schifffahrt; Ivo Adam; Polizeizentrum; Matto Kämpf; Ziegler-Treff.

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(Bild: Marc Brunner, Buro Destruct)

Staatsbesuche interessieren mich ja normalerweise nicht. Aber diese Woche war der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella in Bern, und ich schaute ein bisschen genauer hin. Der 80-Jährige brachte sein eigenes Video-Team mit, das den Staatsbesuch umgehend auf Youtube dokumentierte. Zugegeben, die Filmchen sind eher etwas für Italien-Nerds wie mich. Lustig ist es höchstens dort, wo Mattarella, vor dem Bundeshaus eben aus der beheizten Limousine gestiegen, von unseren in Reih und Glied frierenden Bundesrät*innen steifgefroren begrüsst wird.  

Mattarella ist ein eindrücklicher Sizilianer, der 1980 in Palermo seinen verblutenden Bruder aus dem Auto zerrte, nachdem ein Mafia-Killer auf ihn geschossen hatte. Logisch, wollten ihn in Bern lebende Italiener*innen live auf dem Bundesplatz sehen. Donato Ruggiero zum Beispiel. Er beeindruckt mich, weil er einer der Köpfe des kleinen italienischen Kulturvereins Pecore Ribelli in Bern ist.

Rebellische Schafe bedeutet Pecore Ribelli auf Deutsch, ein treffender Name dafür, wie unverstaubt und offen sie auf ihr Land schauen. Kürzlich war ich an einem Anlass der Pecore Ribelli in der Casa d’Italia in der Länggasse. Es ging um die sizilianische Mafia. Hochkarätige Expert*innen aus Palermo waren angereist, und ich sass zwei Stunden lang fasziniert zwischen in Bern lebenden Italiener*innen, die auf Berndeutsch und Italienisch engagiert über Italiens Unzulänglichkeiten diskutierten.

Mir gefällt diese Art Heimatliebe. Kritisch, ernsthaft, aber nicht abwertend. Wir reduzieren ja Italien gerne auf Dolce vita, Spaghetti und Ferrari. Aber wenn ich einen Seitenblick auf die anstehende Bundesratsersatzwahl werfe, in der auch sympathische Dialekte und bäuerische Gmögigkeit verhandelt werden, finde ich: Von der Italianità der Pecore Ribelli könnten wir uns ein Stück abschneiden. Forza!

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(Bild: Stephen Nthusi)

Und das finde ich heute in Bern wichtig:

Verkehr: Der geplante Ausbau der Grauholzautobahn auf 8 Spuren erregt in Bern die Gemüter, weil die Positionen unversöhnlich weit auseinanderliegen: Weniger Staus sollen erkauft werden durch zusätzliche Klimabelastung. Mein Kollege Joël Widmer hat interessante Zahlen recherchiert: Der «Hauptstadt» liegt exklusiv die Kosten-Nutzen-Analyse vor, mit der das Bundesamt für Strassen (Astra) den Autobahnausbau bewertet. Knappes Fazit: Der Reisezeitgewinn durch die Kapazitätserhöhung soll einen volkswirtschaftlichen Nutzen von 73 Millionen Franken pro Jahr bringen, die Kosten für die Luft-, Lärm- und Klimabelastung betragen laut Astra bloss rund 10 Millionen Franken. Überwiegt der Nutzen tatsächlich so stark? Sind diese Astra-Zahlen plausibel? Das dürfte eine der Steitfragen sein, die heute Donnerstag Abend ab 19.30 Uhr im Hauptsachen-Talk im Progr diskutiert werden. Die «Hauptstadt» bringt Befürworter*innen und Kritiker*innen des Autobahnausbaus an einen Tisch zu einem konstruktiven Dialog. Wir freuen uns, wenn auch du dabei bist.

Altersarmut: Die Berner Stadtregierung will ihre Sozialpolitik ausbauen und Betreuungsgutschriften für bedürftige Personen im Alter einführen, wie sie schreibt. Senior*innen in bescheidenen finanziellen Verhältnissen sollen Gutschriften für Unterstützung und Betreuung im Alltag beantragen können, damit sie länger in der eigenen Wohnung blieben können. Bern übernähme mit diesem Angebot, das der Stadtrat noch beraten wird, eine Pionierrolle. Budgetiert sind jährliche Kosten von 200’000 Franken.

Lebenselixier: Josef und Rosmarie Müller, beide 82-jährig, tanzen seit 20 Jahren jede Woche im grossen Saal unter dem Dach des Bärtschihus in Gümligen. Ganz alleine, zu Musik aus einem portablen CD-Player. Meine Kollegin Jana Leu hat Müllers beim Tanzen zugeschaut und eine kleine Ode in Text und Bild verfasst auf das, was wirklich zählt im Leben: Dinge mit Liebe und Leidenschaft zu tun.

Schifffahrt: Das Berner Kantonsparlament kämpft sich in diesen Tagen durch den Traktandenenberg. Thema einer mehrstündigen Debatte war die Schifffahrt auf den Oberländer Seen. Die Grossratsmehrheit bestätigte schliesslich, dass sie diese in den Händen der BLS lassen will und hiess laut der Nachrichtenagentur sda einen Kredit gut von 14,5 Millionen Franken für den Kauf eines neuen Thunersee-Schiffs. Zuvor hatte ein Basler Reeder ein Übernahmeangebot für die Schifffahrt der BLS gemacht, das diese aber ablehnte.

Ivo Adam: Der Starkoch verlässt nach sieben Jahren das Casino Bern, wie die Burgergemeinde mitteilt. Ihr gehört der Gastronomiebetrieb, dem Adam nach der Sanierung des Casinos als Direktor ein neues Betriebskonzept verpasste. 2021 geriet Adam in öffentliche Kritik, weil er 13 Entlassungen aussprechen musste. Nun will er sich auf eigene Projekte konzentrieren.

Polizei: Der Kanton Bern kann für 343 Millionen Franken in Niederwangen (Köniz) ein neues Polizeizentrum bauen. Der Grosse Rat bewilligte dafür einen Kredit von 343 Millionen Franken, wie die Nachrichtenagentur sda schreibt. Vorbehalte äusserten die Grünliberalen. Man habe ein «ungutes Gefühl», sagte Marianne Schild. Namentlich, weil der Kanton bei Grossprojekten zuletzt keine glückliche Hand gehabt habe.

Matto Kämpf: Der Berner Autor, Schauspieler, Satiriker und Zeichner Matto Kämpf hat einen Roman geschrieben mit dem Heilsarmee-Titel «Suppe Seife Seelenheil». Kämpf begleitet einen mittelalten Mann auf einem skurrilen Roadtrip durch die serbische Provinz, der auch eine Reise zu sich selber ist. Meine Kollegin Marina Bolzli hat das Buch gelesen und findet: amüsant.

Ich wünsche dir einen amüsanten Tag

PS: In die Schweiz kommen zurzeit so viele Asylsuchende wie noch nie. Das Bundesasylzentrum im früheren Zieglerspital ist überlastet, das von Freiwilligen betriebene Café ziegler.treff erlebt einen Besucher*innenansturm und sucht deshalb Menschen, die dienstags, freitags oder sonntags mithelfen. Infos: [email protected].

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