Jüdische Einsamkeit – «Hauptstadt»-Brief #240
Samstag, 4. November 2023 – die Themen: Finanzen der Burgergemeinde; Hauptsachen-Talk; FDP-Präsidentin Hess; Druckerei Reitschule; alpine Solaranlage Adelboden; Mietinitiative. Kopf der Woche: Adrian Iten.
Diesen Donnerstag hätte in Steffisburg eine Buchbesprechung zum Thema Holocaust stattfinden sollen.
Hätte.
Stattdessen sahen sich die Veranstalter*innen genötigt, den Event abzusagen. «Aufgrund des erhöhten Anschlagrisikos für Veranstaltungen mit jüdischem Inhalt wurde uns von der Berner Kantonspolizei empfohlen, den Anlass abzusagen», so die Begründung.
Hintergrund sind die Ereignisse in Israel und Palästina seit dem verabscheuungswürdigen Angriff der Hamas auf jüdische Israelis vom 7. Oktober. Sind Veranstaltungen mit jüdischem Bezug im Kanton Bern aktuell nicht mehr möglich? «Eine generelle Empfehlung gibt es nicht», schreibt die Kantonspolizei auf Anfrage. Auch würde sie nicht proaktiv auf Veranstalter*innen zugehen. Im Falle von Steffisburg sei sie durch den Organisator kontaktiert worden. «Schlussendlich entscheiden die Veranstalter, ob sie einen Event durchführen», so die Polizei.
Trotzdem: Das Beispiel aus Steffisburg zeigt, dass sich Jüdinnen und Juden in Bern nicht mehr vollständig sicher fühlen. Und oftmals ziemlich allein. Grössere Solidaritätskundgebungen blieben in Bern bisher aus.
Derweil ist für heute Nachmittag eine Palästina-Demonstration bewilligt. Bis zu 10’000 Personen werden in Bern erwartet. In einer Demokratie sollen Solidaritätsdemos mit Palästina und differenzierte Kritik am israelischen Staat Platz haben. Doch auf der Instagram-Seite der Organisator*innen werden die Terrorakte vom 7. Oktober mit keinem Wort erwähnt, es geht einseitig nur um Palästina. Das ist bestürzend. Und dürfte das Gefühl des fehlenden Rückhalts in der Gesellschaft für Jüdinnen und Juden weiter bestärken.
Das möchte ich dir ins Wochenende mitgeben:
- Burgergemeinde: Die Burgergemeinde verteilt jährlich 50 Millionen Franken an die Berner Allgemeinheit. Doch woher stammt das Geld? Mein Kollege Joël Widmer hat sich in einer ausführlichen Recherche mit den Finanzflüssen der Burgergemeinde auseinandergesetzt. Dabei hat er unter anderem herausgefunden, wie viel Profit die Burgergemeinde mit der Wohnungsvermietung macht und wie viel Gewinn die Bewirtschaftung der enormen Waldflächen einbringt. Hier geht es zur grossen Recherche.
- Hauptsachen-Talk: Die «Hauptstadt» beleuchtet dieser Tage die Berner Burgergemeinde in einer grossen Artikelserie. Weitere Artikel folgen nächste Woche. Doch da ist noch mehr: Am Dienstag, 7. November laden wir zum «Hauptsachen»-Talk im Progr ein. Es diskutieren Burgergemeinde-Präsident Bruno Wild und SP-Stadtrat und Burgergemeinde-Kritiker Halua Pinto de Magalhães. Moderiert wird das Gespräch von «Hauptstadt»-Redaktor Joël Widmer. Der Talk startet um 19:30 Uhr. Der Eintritt ist frei.
- FDP: Sandra Hess wird voraussichtlich neue Präsidentin der FDP Kanton Bern. Wie die Parteileitung gestern mitgeteilt hat, empfiehlt sie die Stadtpräsidentin von Nidau für das Amt. Der bisherige Präsident Stephan Lack wird nach der Delegiertenversammlung am 23. November abtreten. Hess sitzt seit 2018 für die FDP im Kantonsparlament und kandidierte bei den eidgenössischen Wahlen vor zwei Wochen für beide Räte. Während sie bei den Ständeratswahlen – trotz Nichtwahl – überraschend gut abschnitt, verpasste sie aufgrund des Sitzverlustes der FDP den Sprung in den Nationalrat.
- Druckerei Reitschule: Weil die alte Druckmaschine ihre Lebensdauer eigentlich längst überschritten hat, wollte das Druckkollektiv der Reitschule eine neue anschaffen. Zehn Jahre hatte es dafür gespart, ehe es die 130 000 Euro für die neue Maschine an einen Hamburger Händler überwies. Dann der Schock: Der Händler meldete Konkurs an. Das lang angesparte Geld war futsch. Die WOZ hat die Details der Geschichte niedergeschrieben. Das Kollektiv will derweil mittels Crowdfunding doch noch an eine neue Maschine kommen.
- Solarenergie: Auf dem Schwandfäl oberhalb von Adelboden soll eine alpine Solaranlage entstehen, die künftig 40 Prozent des Winterstroms von Adelboden produziert. Das hat die Licht- und Wasserwerk Adelboden AG am Donnerstag mitgeteilt. Die Anlage soll sich über rund zehn Hektaren erstrecken. Bis 2028 soll die Anlage voll in Betrieb genommen werden. Die Gemeindeversammlung entscheidet am 24. November über das Vorhaben. Mit dem definitiven Bauentscheid ist im Frühjahr 2024 zu rechnen.
- Mietinitiative: Die kantonale Volksinitiative «Für faire und bezahlbare Mieten dank transparenter Vormiete» ist mit 17'256 gültigen Unterschriften zustande gekommen. Das hat die Kantonsregierung am Donnerstag mitgeteilt. Lanciert hat die Initiative der Mieter*innenverband gemeinsam mit Parteien aus dem Mitte-Links-Lager. Die Initiative verlangt die Einführung der sogenannten Formularpflicht. Mit dieser müssten Vermieter*innen beim Wechsel der Mieterschaft die vorherige Miete offenlegen. Damit sollen unrechtmässige Mietzinserhöhungen verhindert werden, so die Initiant*innen.
PS: Heute Abend tritt das Zürcher Duo Steiner & Madlaina im Dachstock auf. Das Bärner Nachtläbe qualifiziert das als «Pflichttermin für melancholische, romantische und verliebte Menschen.» Damit gehöre ich eindeutig nicht zur stereotypischen Zielgruppe der beiden Popmusikerinnen. Spätestens beim Refrain von «Das schöne Leben» singe aber auch ich mit. Das Konzert beginnt um 22 Uhr, aktuell hat es noch Tickets.
Berner Kopf der Woche: Adrian Iten
«Äs geit nid, Ädu.» Diesen Satz bekam Adrian Iten 1998 wiederholt zu hören. Zu ambitioniert sei das Konzept, in seinem Lokal Kaffee, Italianità und hochwertiges Fastfood zu verkaufen. Das sei nichts für die Berner*innen. Die umliegende Konkurrenz gab ihm drei, bestenfalls sechs Monate. Inzwischen steht das Adrianos seit 25 Jahren am Stadtberner Kornhausplatz.
Gegründet hat Adrian Iten das Lokal zusammen mit seinem Bruder Benno. Trotz raschem Erfolg schrieb das Unternehmen in den ersten vier Jahren rote Zahlen. Es waren intensive Zeiten: «Ich schuftete wie ein Verrückter, machte an der Bar den Clown», sagte der gelernte Koch Adrian Iten 2008 rückblickend in einem Interview in der «Berner Zeitung». Als das Lokal schliesslich rentierte, habe er sich «fett und träge» gefühlt.
Iten reagierte anders als es viele Unternehmer*innen an seiner Stelle gemacht hätten: Expansionsanfragen in andere Städte lehnte er ab. Wichtiger ist ihm Zeit für sich selbst. «Ich bin kein Arbeitstier, das auf das Leben verzichtet», so Iten im selben Interview. Trotzdem baute er sich in Bern ein kleines Imperium auf. Längst gibt es bei Adrianos nicht mehr nur gute Espressi, sondern auch den Kaffee für die Maschine zuhause oder gleich die eigens entwickelte Kaffeemaschine samt Zubehör zu kaufen.
Seit 2016 gehört die Bar Versa vis-à-vis des Adrianos zum Unternehmen. 2020 eröffnete das Unternehmen zudem «Adrianos Coffee & Playground» im Hauptbahnhof. Das Herz des kleinen Berner Wirtschaftswunders schlägt aber unverändert im Lokal mit dem 3D-Plättliboden am Kornhausplatz.
Kommende Woche feiern Iten und sein Team das Vierteljahrhundert-Jubiläum mit einem grossen Fest.