«Und jetzt muss das Zeug wieder weg?»
Bis im Herbst 2024 müssen 41 Gärten im Familiengartenareal Ladenwandgut aufgelöst werden. Was macht das mit den Pächter*innen dort? Ein Besuch in Ausserholligen.
Aus dem Baustellenradio dröhnt «Think» von Aretha Franklin. Markus Megert sitzt am Tisch vor seinem Häuschen, eine Dose Bier vor sich, eine Zigarette in der Hand. «Ich bin immer hier, wenn ich Zeit habe», sagt der 61-jährige Kranführer und macht eine kurze Pause, zieht an der Zigarette und blickt auf seine Bohnenstangen oder vielleicht auch auf den Fenchel, der gleich daneben wächst. Dann brummt er: «Es ist einfach scheisse.»
Markus Megert ist einer von rund 130 Pächter*innen im Familiengartenareal Ladenwandgut. In den letzten elf Jahren hat er sein Häuschen «mutterseelenallein» ausgebaut, sogar einen Schwedenofen hat er installiert. Es ist sein zweites Zuhause. Doch spätestens im Herbst 2024 muss er es verlassen: Dann wird ein Teil des Gartenareals gleich neben dem Bahnhof aufgelöst. Das Gebiet wird zur Installationsfläche für den Neubau der S-Bahn-Haltestelle Europaplatz Nord. Danach wird ein Teil davon als öffentlich zugänglicher Spiel- und Erholungsraum allen Quartierbewohner*innen zur Verfügung stehen.
Das Ladenwandgut liegt im Entwicklungsschwerpunkt (ESP) Ausserholligen. Hier will die Stadt Bern wachsen und Wohnraum schaffen. Es werden Hochhäuser entstehen, die Volksschule Stöckacker wird erweitert werden, es sind neue Fuss- und Veloverbindungen geplant. Das Problem: Dadurch geraten auch die Familiengärten unter Druck.
Es ist ein Dilemma der rotgrünen Stadt, oder wie sie es in Behördensprache formuliert: «Innenentwicklung und Verdichtung schonen grundsätzlich die Landschaft, erhöhen aber im bereits bebauten Gebiet den Nutzungsdruck.» Mit anderen Worten: Durch die politisch gewollte Verdichtung müssen Familiengärten über die Klippe springen. Sie sei bemüht, dass so wenige wie möglich aufgehoben werden müssten. Aber: Es würden auch in Zukunft «Flächenkonkurrenzen» entstehen und darum «ist es absehbar, dass dies Auswirkungen auf den aktuellen Bestand haben wird.»
Sehr bald passiert diese Entwicklung im Ladenwandgut. Es ist der Stadt nicht gelungen, Ersatz für die Gärten zu finden. Dabei hat sich hier nicht nur Markus Megert ein zweites Zuhause geschaffen.
Und abends zusammensitzen
Am Vorabend ist es spät geworden, lange sei man noch zusammengesessen, sagt Megert. Irgendwann seien die Portugies*innen, die ihre Gärten ein paar Parzellen weiter vorne haben, bei ihm um den Schwedenofen gesessen. Darum würden sie heute wohl ausschlafen. Auch sie, die mehrere adrette Häuschen nebeneinander haben, mit Fahne, Grill und Rattan-Möbeln, müssen weg. Alle Familiengärten unterhalb des Hauptwegs sind betroffen.
Andrea Aebersold und ihre Tante Rosmarie Wolf bewirtschaften seit drei Jahren die beiden Parzellen gleich neben Megert. Während bei Megert jedes Unkraut gezupft ist, wuchert es bei den beiden Frauen. Da wachsen Jungfern im Grünen, Borretsch, Akeleien und Veilchen. «Ich liebe Blumen», sagt Aebersold. Obwohl die Parzellen wilder wirken, werden sie eingehend betreut. Aebersold und Wolf haben sie von zwei alten Ehepaaren übernommen, die vorher während 40 Jahren liebevoll ein kleines Biodiversitäts-Paradies aufgebaut haben.
Damit wird spätestens nächstes Jahr im Herbst Schluss sein. «Ich verstehe nicht, warum wir so spät informiert worden sind», sagt Aebersold. Sie reut nicht das Häuschen, sondern sie fürchtet um die Pflanzen. Im hinteren Teil wachse das seltene Kerbelkraut, aus dem im Emmental immer noch alkoholfreies Chörbliwasser hergestellt werde, es gebe einen grossen Lorbeer, Jostabeeren. «Ich will sie zügeln, aber dazu brauche ich erst einen neuen Garten», sagt Aebersold, die als Designerin arbeitet.
An einer Informationsveranstaltung am 15. März wurden die Pächter*innen über die Auflösung eines Teils der Gärten informiert. Es habe Aufstände gegeben, erinnert sich Aebersold, einige Pächter*innen seien wutentbrannt rausgelaufen. Am 3. Mai folgte eine weitere Versammlung, diesmal war sie etwas gesitteter. Es wird eine «Arbeitsgruppe PächterInnen» geben, die an der «Entwicklung der Familiengärten» arbeiten wird. Denkbar sind Verkleinerungen von Parzellen, damit es insgesamt wieder mehr gibt. Oder dass sich mehrere Pächter*innen zusammentun, um gemeinsam einen Garten zu bewirtschaften. «Die Stadt bemüht sich», meint Aebersold, «aber so wie ich das wahrnehme, sind die Pächter*innen misstrauisch.»
Vielleicht auch, weil die Entwicklung absehbar war, aber so spät kommuniziert wurde. Bereits im April letzten Jahres gab es eine Bedürfnisumfrage, die die Stadt Bern bei den Pächter*innen und den Quartierbewohner*innen durchführte. 71 von 127 Pächter*innen nahmen daran teil. Im Dezember schrieb die Stadt die «Weiterentwicklung Familiengartenareal Ladenwandgut» aus – auch da wussten die betroffenen Gärteler*innen noch gar nicht, dass sie ihren Garten verlieren würden.
Erfolglose Suche
Auf Nachfrage, warum die Informationen so spät geteilt worden sind, heisst es bei der Stadt: Seit Herbst 2022 und bis zuletzt habe man nach Lösungen gesucht, «um für jene Familiengärten, die der öffentlichen Nutzung weichen müssen, einen vergleichbaren Ersatz zu finden.» Doch die Suche sei letztlich erfolglos verlaufen. Als Möglichkeit bleiben jetzt noch die «Umstrukturierungen weiterbestehender Parzellen». Eben zum Beispiel die Zusammenlegung für «gemeinschaftlichere Nutzung mit Pflanzplätzen».
Es ist etwas, was sich sowohl Andrea Aebersold wie auch Markus Megert nur schwer vorstellen können. Mit irgendjemandem den Garten zu teilen. «Ich kann das nicht», sagt Megert. «Gemeinschaftlich zu zweit oder zu dritt einen Garten zu teilen, wäre kein Problem», sagt Aebersold. Kritisch sehe sie aber Gemeinschaftsgartenprojekte. «Wenn viele sich um einen Garten kümmern, muss das ganz gut moderiert sein, damit es nicht verwildert oder Frust und Streit gibt.»
Am 3. Mai wurden die bald gartenlosen Pächter*innen über die Bedingungen informiert: So müssen die Betroffenen ab sofort keinen Pachtzins mehr zahlen, sie sollen bevorzugt behandelt werden bei der Suche nach einem neuen Familiengarten und für den materiellen Wert der Häuschen und Installationen auf den Parzellen finanziell entschädigt werden. «Wenn wir selber rückbauen, erhalten wir 50 Prozent des Bauwerts, ansonsten 25 Prozent», sagt Aebersold.
Ihr geht es nicht um die Entschädigung. Ihr geht es um die Pflanzen. Und auch Markus Megert setzt nicht viel auf das Geld. «Das nützt ja nichts», sagt er und bittet hinein in sein Häuschen. Es gibt eine Herdplatte, einen Tisch, Gestelle. «Ich habe alles selber isoliert und getäfert, es gibt sogar Strom», sagt er. Tagelang, nächtelang, monatelang habe er gearbeitet. «Und jetzt muss das Zeug wieder weg?»
Wäre seine Parzelle nur oberhalb des Weges gelegen, so müsste er sich nicht um die Zukunft sorgen. So wie der Garten von Resad Cokovic in Sichtdistanz. Cokovic führt eben sein Hündchen Buddy spazieren. «Es ist alles ungewiss», sagt er. Der pensionierte Bauarbeiter, der ursprünglich aus Montenegro stammt, hat seit 2011 einen Garten im Ladenwandgut. «Ich kann zwar bleiben, aber ich habe auch keine Freude», sagt er. Er vermute, dass nach der Aufhebung der unteren Parzellen die neue Strasse gleich an seinem Garten vorbeiführen werde. «Ich habe an der Versammlung die Frage gestellt, erhielt aber keine Antwort.» Er komme in den Garten «wegen der Ruhe, der Natur». Er wolle geniessen. «Das wird ganz anders werden mit donnernden Maschinen nebenan.»
Nun bellt Buddy, er will Andrea Aebersolds Sohn begrüssen, der ein paar Schritte nebenan auf einem Baum herumklettert. «Ich habe Bedauern mit den Leuten, die hier so viel aufgebaut haben», sagt Cokovic und zuckt mit den Schultern. «Helfen können wir ihnen leider nicht.»
Andrea Aebersold setzt ein paar Salate, die Erde ist locker und fast schwarz, über Jahre gepflegt. «Ich habe keine Energie, um sie in einen Kampf um meine Parzelle hier zu stecken», sagt sie, «ich suche mir so schnell wie möglich einen neuen Garten.» Dann werde sie versuchen, so viele Pflanzen wie möglich zu retten, sie umzusiedeln an den neuen Ort. Ihr sei die Gartenarbeit wichtig. Dennoch kann sie sich vorstellen, dass im Ladenwandgut in Zukunft etwas Tolles entsteht. «Doch für viele ist die Auflösung ihrer Parzelle eine Tragödie.»
So wie für Markus Megert. Mittlerweile haben sich zwei Freunde zu ihm gesellt, das Bauradio spielt «Mrs. Robinson» von Simon & Garfunkel. Megert schüttelt den Kopf. «Nein, ich glaube, ich will gar keinen Garten mehr», sagt er dann, «warum auch? Nur damit sie ihn mir in zehn Jahren wieder wegnehmen?» Er trinkt einen Schluck Bier, fixiert einen Punkt zwischen Bohnenstangen und Fenchel – und schweigt.