Musik nach 35 – «Hauptstadt»-Brief #180

Samstag, 3. Juni 2023 – die Themen: Platzknappheit an Gymnasien; Schulhausbesetzung; Stadtrat; Cyberangriff; Betrügerische Anrufe; Fussball-Blog, Eishockey-Frauen. Kopf der Woche: Brian Ruchti.

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(Bild: Marc Brunner, Buro Destruct)

Vor Jahren habe ich irgendwo gelesen, dass Menschen ab 35 nicht mehr offen für neue Musik sind. Sie bleiben bei der, die sie kennen. Seither habe ich Angst, so zu werden.

Darum freue ich mich umso mehr, wenn ich Neues entdecke. In den letzten Wochen war das Alwa Alibi. Es ist der Künstler*innenname der 20-jährigen Bernerin Estelle Plüss, sie hat innerhalb eines Jahres gleich zwei Alben herausgebracht. Das zweite hat sie gestern Abend im Dachstock getauft.

Es sind die poetischen Texte, die mich nicht mehr loslassen. Wütend, sinnlich, kraftvoll, präzis. Die Stimme, mehr redend als singend, aber doch nicht wirklich rappend. Und das in einer tiefen, zurückgelehnten Tonlage, als ob nichts diesen Menschen aus der Ruhe bringen könnte. Dabei müssen bei so viel Schmerzempfinden auch Traurigkeit und Nachdenklichkeit vorhanden sein. Die höre ich heraus aus dem Soundteppich von Elektro-Produzentin Simone Gfeller alias Simo Saster, sehr tanzbar, immer wieder düster.

Ich fühle mich dann ein bisschen revolutionär, weil über 35 und doch offen für Neues. Dabei, so habe ich jetzt recherchiert, stammt diese Zahl, die mich seit Jahren nicht loslässt, aus einer Studie des Streaming-Riesen Spotify von 2015. Und da ging es schlichtweg darum, Geschmacksprofile zu erstellen.

Der Algorithmus von Spotify hätte mir Alwa Alibi vermutlich nie vorgeschlagen. Aber zum Glück tat es ein Freund. Wie langweilig wäre sonst die Welt!

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Aussortiert. (Bild: Renato Antonietti)

Und das finde ich heute wichtig:

  • Schulraumplanung: An den Berner Gymnasien ist es eng. Darum müssen viele Gymeler*innen seit letztem Sommer halbtageweise in ein Provisorium im Wankdorf pendeln. Die Leitungen der Gymnasien haben seit 2015 auf das Problem hingewiesen – doch der Kanton handelte nicht. «Dem Raumproblem wurde zu wenig Beachtung geschenkt», sagt etwa Bernhard Blank, der Rektor des Gymnasiums Lerbermatt. Der Kanton hingegen stellt sich auf den Standpunkt, dass die stark steigende Schüler*innenzahlen erst ab 2021 ersichtlich wurden. Was ist da passiert? Und was heisst das für die Zukunft? Das zeigt die Recherche meiner Kollegin Lena Madonna.
  • Schulhausbesetzung: Am nächsten Dienstag soll es im Kanton Bern erstmals eine Schulhausbesetzung durch Aktivist*innen des Klimastreiks geben, teilt die Gruppe «End Fossil Bern» mit. Die Aktivist*innen fordern «einen zeitgemässen Unterricht zur Klimagerechtigkeit von den Schulen und das Ende des fossilen Zeitalters von der Politik». Es wäre die dritte Schulhausbesetzung in der Schweiz, nachdem es in Februar in kurzem Zeitabstand eine in Basel und eine weitere in Zürich gegeben hatte.
  • Fusion mit Ostermundigen: Knapp zwei Stunden debattierte der Berner Stadtrat am Donnerstagabend über die Fusion mit Ostermundigen – obwohl er nicht mehr über Details befinden konnte, sondern die Verträge nur als Ganzes annehmen oder ablehnen konnte. Trotz vieler kritischer Voten stimmte das Parlament schliesslich mit 45 zu 7 Stimmen bei 9 Enthaltungen klar für die Fusion. Das Stadtberner Stimmvolk wird voraussichtlich am 22. Oktober über den Fusionsvertrag befinden. In der zweiten Hälfte der Sitzung wurde zudem ein Postulat überwiesen, das den Gemeinderat auffordert, einen Pilotversuch zur Kokain-Abgabe zu prüfen. Dieses und weitere Geschäfte fasst mein Kollege Joël Widmer im Stadtrat-Brief zusammen.
  • Cyber-Angriff: Die Privatklinik Siloah in Gümligen hatte diese Woche einen Totalausfall der IT-Systeme, der einschneidende Folgen für das Personal hatte. Es musste die Patient*innendokumentation notfallmässig auf Papier neu aufsetzen. Siloah-Stiftungsratspräsident Martin Gafner bestätigt entsprechende Informationen der «Hauptstadt». «Unser Provider war mutmasslich einem Cyber-Angriff ausgesetzt», sagt Gafner. Der Angriff auf die Münsinger IT-Dienstleisterin Unico Data war bereits früher diese Woche bekannt geworden. Zum Schutz der Daten habe man letzten Sonntag bei Siloah den ganzen IT-Betrieb heruntergefahren. Es gebe Einschränkungen für der Personal, aber die Gesundheitsversorgung und die Sicherheit der Patient*innen seien sichergestellt. Die Website und der Mail-Verkehr waren ebenfall ausser Betrieb. So konnte die Siloah nur noch per Telefon und via eine Status-Website erreicht werden. Derzeit arbeite man an der «Wiederherstellung des Normalzustandes», sagt Gafner.
  • Telefon-Betrüger*innen: Im Mai wurden im Kanton Bern rund 170 betrügerische Telefonanrufe gemeldet, teilt die Kantonspolizei mit. Insgesamt ergaunerten Betrüger*innen dabei Bargeld und Wertsachen in der Höhe von knapp 530'000 Franken. Alleine diese Woche war es ein Gesamtbetrag von über 200'000 Franken. Es handle sich dabei meist um die bekannten Betrugsmaschen «Schockanruf» und «Falsche Polizisten», die sich seit mehreren Monaten im ganzen Kanton vermehrt hätten. Bei den Opfern komme nebst wirtschaftlichem Schaden häufig eine grosse psychische Belastung hinzu. Mehrere der betroffenen Personen sagten im Nachhinein aus, dass sie eigentlich um die Problematik wussten. Der Täterschaft gelinge es, ihre Opfer dermassen unter Druck zu setzen, dass sie dennoch Geld aushändigten.
  • Fussball-Blog: Noch vor dem Cup-Final gibt es im Fussball einen unerwarteten Transfer zu verkünden. Der sehr beliebte Fussball-Blog «Zum Runden Leder», seit 2004 zuerst beim «Bund», dann bei der Berner Tamedia-Redaktion beheimatet, macht sich selbstständig. Ab 1. Juli ist er auf der Website www.zumrundenleder.ch zu finden. Auf dem Kommunikationsportal persoenlich.com äussert sich Christian Zingg, der unter dem Pseudonym «Herr Rrr» als Chefredaktor des Blogs amtet, zu den Gründen: Tamedia wollte den Blog in das eigene Redaktionssystem integrieren. «Wir hätten unsere Identität verloren», sagt Zingg. Insbesondere sei es wichtig, dass Kommentare in Echtzeit erschienen, was bei Tamedia nicht mehr möglich gewesen wäre.
  • Eishockey-Frauen: Und gleich ein weiterer Transfer. Das Frauenteam des EV Bomo Thun gehört seit vorgestern definitiv zum SCB, wie der Berner Schlittschuhclub mitteilt. Darum heisse es ab sofort SC Bern Frauen. In der Mitteilung wird Geschäftsleiter Pascal Signer zitiert: «Mit der Integration möchten wir das Fraueneishockey in der Region gezielt fördern. Wir sind überzeugt, dass alle Beteiligten von dieser neuen Konstellation profitieren werden.» Das klingt nach einem sehr guten Deal für den SCB – denn nun muss er eine Sparte nicht jahrelang aufbauen, sondern kann ein schon funktionierendes und erfolgreiches Team (das in diesem Jahr nur knapp den Titelgewinn verpasst hat) übernehmen.
  • Uni-Rektorin: Bern bekommt mit Virginia Richter erstmals eine Frau als Rektor*in. Sie wird am 1. August 2024 die Leitung der 1834 gegründeten Universität Bern übernehmen. Dann tritt Christian Leumann aus Altersgründen aus der Universitätsleitung zurück. Das hat der Regierungsrat mitgeteilt, der sie gewählt hat. Richter ist seit 2007 ordentliche Professorin für Moderne Englische Literatur an der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern und gehört seit 2021 der Universitätsleitung an.
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Kopf der Woche - Brian Ruchti

Diesen Sonntag (14 Uhr, Wankdorf) spielen der FC Lugano und die BSC Young Boys um den Cup-Pokal. Live mit dabei ist Brian Ruchti, Moderator und Gründer des YB-Fan-Radios «Radio-Gelb-Schwarz» (kurz RGS). Seit er gemeinsam mit Simon Klopfenstein vor 14 Jahren das Radio gegründet hat, sitzen die Moderator*innen des RGS auf den gleichen zwei Plätzen im Wankdorf-Stadion und machen während den YB-Matches keinen Hehl aus ihren Emotionen. «Die Leute dürfen spüren, wie es uns geht», erzählt Brian Ruchti.

Zusammen mit dem Radio, das ausschliesslich während den YB-Matches sendet, ist der Berner älter geworden. «Ich treffe viele junge Erwachsene, die mir erzählen, dass sie mich im Radio hören, seit sie fünf Jahre alt sind. Das ist krass», sagt Ruchti, der neben seiner Leidenschaft für YB und Radio Geschäftsführer der Firma «Newsroom Communication» ist.

Zu Beginn bestand RGS aus den beiden Gründern und Ruchti kommentierte jeden Match live. Heute ist das Team auf acht Leute gewachsen, die sich jeweils beim Moderieren abwechseln. Und es scheint zu funktionieren: Alleine im Jahr 2023 hatte RGS bis jetzt über 300’000 Hörer*innen.

Sollte YB den Cupfinal gewinnen, wäre es zusammen mit dem Meistertitel ein grosses Jahr für YB. Dementsprechend haben Ruchti und sein Team am Sonntag einen Rückblick auf frühere Cup-Finalspiele geplant. Egal, ob diese gut oder schlecht für YB ausgegangen seien. Das Motto von RGS lautet schliesslich: Parteiisch, aber fair. (Text: Lena Madonna)

PS: Wir schreiben das Jahr 2023 – die Stadt Bern hat den Klimanotstand vor vier Jahren ausgerufen. Während Frankreich soeben als erstes Land der Welt inländische Kurzstreckenflüge verboten hat, wirbt das Berner Unternehmen Flybair mit Gratisflügen für Kinder unter 12 Jahren von Belp ins spanische Alicante, um «Familien eine besondere Freude zu machen».

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