Eine Brücke, dann die nächste
Unsere Literatur-Kolumnistin taucht in Bern in die Aare, lässt Wasser und Licht auf ihren Körper einwirken. Und erinnert sich an eine frühere Begegnung mit einem Wels.
Als ich zum ersten Mal in die Aare sprang, war ich acht Jahre alt. Mein Vater sagte, wenn du gut genug schwimmen kannst, darfst du mit. Vorher nicht, die Aare ist gefährlich. Sie nimmt dich mit, wenn du nicht schwimmst.
Ich hatte keine Angst. Wenn ich untertauchte, kam ich nach Hause. Ich schwamm am Ufer flach unter der Oberfläche, dann schnell in die Mitte, damit der Strom mich zog. Dicht über dem Grund öffnete ich die Augen einen Spalt, breitete die Arme aus und flog. Die Welt war ein Missverständnis, das sich im Wasser löste.
Unter der Kirchenfeldbrücke lebte ein Wels. Wenn meine Freundinnen und ich die Brücke erreichten, mussten wir die Beine hochziehen, damit der Wels uns nicht in die Füsse biss und runterzog. Wir genossen die Gefahr, mit der die Lüge unsere Körper täuschte, uns zusammenzucken liess und schreien, sobald wir spürten, dass sie wirkte.
Mit der Aare ist es wie mit Harry Potter, sagt eine Freundin. Jede Person, die Zeit in ihrer Welt verbringt, teilt mit ihr ein Geheimnis. Für jede*n ist das Geheimnis einzigartig. Aber alle werden gleich berührt.
Ein Freund sagt: Man springt in die Aare immer, als wäre es das erste Mal.
Ich werfe dem Fluss meinen Körper entgegen. Das Wasser tritt gegen meine Poren, die seiner Kälte widerstehen, sie dann einlassen. Die Kälte breitet sich in meinem Körper aus, nimmt ihn vollständig ein, sodass sie sich von meinem Empfinden nicht mehr unterscheidet.
Ich vollziehe diese Reibung, wieder und wieder mit dem Wasser allein. Tauche unter, wo Wasser über den Grund hinwegzieht, an dem die Steine aneinanderschlagen, ihr Schall wandert. Tauche auf, um meine Gliedmassen am selben Widerstand zu spüren, an dem mir das Gefühl für sie zuvor abhandengekommen ist.
Ich versichere mich ihrer, ziehe sie durch die kalte Geschmeidigkeit zum Beweis; dass ich im Wasser aufgegangen bin und es mich dennoch gibt.
An meinem Kopf fügen Himmel und Wasser sich zu einer Naht. Mein Blick trifft auf Wolken, die vorbeiziehen, eine Brücke, dann die nächste.
Am Ufer erreiche ich einen Steg, halte mich fest. Von der Strömung lasse ich mich ziehen, tauche ein letztes Mal unter; ich will Wasser in den Haaren tragen. Dass sie fallen, wie sie gewachsen sind, gewaschen vom Fluss.
Der Himmel klappt ins Wasser. Die Zikaden reiben ihre Beine aneinander. Der Wind singt nicht. Die Sonne giesst hellweisses Licht über Nase, Stirn, mein nass abstehendes Haar.
Selma Imhof (27) lebt und schreibt in Bern. Aktuell arbeitet sie an ihrem literarischen Debut «Wasser, Taube», das von Stadt und Kanton Bern gefördert wird. Für die «Hauptstadt» schreibt sie einmal im Monat eine literarische Kolumne zur Aare.