«Das war ein Fehler»
Nach der Entlassung eines Probenleiters bei Ballett Bern wegen sexueller Belästigung gibt Stiftungsratspräsidentin Nadine Borter zu, gegenüber der Hauptsubventionsgeberin Stadt Bern zu wenig transparent gewesen zu sein.
So schnell kann sich eine Agenda verändern: Am 29. September berichtete die Wochenzeitung «Die Zeit», bei Bühnen Bern gebe es einen Fall von sexueller Belästigung. Einem Probenleiter der Ballettcompagnie seien 2021 nach einer internen Untersuchung verbale Übergriffe nachgewiesen worden, und trotzdem sei er nach Verwarnung und nachfolgender Probezeit wieder angestellt worden.
Seit mit der Veröffentlichung dieser Fakten «eine Bombe hochgegangen» sei, widmet sich Florian Scholz, Intendant von Bühnen Bern, «16 Stunden am Tag ausschliesslich diesem Thema», sonst habe er «alles abgesagt». Das führte er am Mittwoch im Foyer des Stadttheaters aus, als die Führung von Bühnen Bern – neben Scholz Stiftungsratspräsidentin Nadine Borter, Tanzcompagnie-Leiterin Isabelle Bischof – und Monika Hirzel, Geschäftsführerin des Konfliktberatungsbüros «BeTrieb», sich vor den Medien erklärten. Endlich.
«Zerrüttetes Vertrauen»
Bereits vor einer Woche hatte die «Hauptstadt» bekannt gemacht, dass der Probenleiter, dem Bühnen Bern 2021 das Vertrauen ausgesprochen hatten, per 6. Oktober 2022 fristlos entlassen worden war. Der Grund: Er hatte sich doch wieder eine Entgleisung geleistet. Bühnen Bern schwiegen vorerst. Man wolle zuerst die Resultate aller internen Abklärungen abwarten, ehe man sich äussere.
Nun war es also soweit: Laut Scholz hat sich nach erneuter Befragung aller Tänzer*innen und einer erneuten Untersuchung von «BeTrieb» ein Mitglied der Compagnie Isabelle Bischof anvertraut und von einem Vorkommnis während einer Premierenfeier berichtet, in dem sich der Probenleiter so verhielt, dass es das Mitglied als Grenzüberschreitung empfand. Auch andere Ensemblemitglieder hätten die Szene beobachtet. «Das Vertrauen wurde durch den Mitarbeiter schwer zerrüttet», sagte Florian Scholz, deshalb habe man ihn nun umgehend entlassen. Damit sei der Fall aber nicht erledigt, beteuerte Scholz: Die Präventionsarbeit werde «auf allen Stufen» verstärkt.
Tatsächlich müssen sich Bühnen Bern in diesem Fall zahlreiche Fragen gefallen lassen. Warum war es möglich, dass ein überführter Täter trotz Verhaltenskodex, der bei sexueller Belästigung Nulltoleranz einfordert, wieder im genau gleichen Umfeld angestellt worden ist? Sowohl Nadine Borter wie Florian Scholz betrachten das auch im Nachhinein nicht als Fehler. Die verbalen Verfehlungen seien nicht so gravierend gewesen, dass man eine Entlassung juristisch hätte legitimieren können. Denkbar wäre eine Freistellung gewesen, das hätte aber bedeutet, dass man gemäss Gesamtarbeitsvertrag mehr als ein Jahr lang den Lohn hätte weiter zahlen müssen. «Das wollten wir den Steuerzahler*innen nicht zumuten», sagte Scholz.
Fehleinschätzung der Stimmung
Bühnen Bern nahmen also in Kauf, dass die Mitglieder der Tanzcompagnie nicht in einem sicheren Ambiente arbeiten konnten. Das unterstreicht auch die Fehleinschätzung, die Scholz und Ballet-Chefin Isabelle Bischof der Öffentlichkeit übermittelten. Vor drei Wochen beschrieben sie die Stimmung in der Gruppe als «sehr gut», die Tänzer*innen hätten sich unisono für eine weitere Zusammenarbeit mit dem Probenleiter ausgesprochen. Erst im Rahmen der erneuten Untersuchung sprach die betroffene Tänzerin «in einem sehr privaten Gespräch» mit Isabelle Bischof die weitere Grenzüberschreitung aus. Zudem unterstreichen die Tänzer*innen in einem Communiqué in Englisch (siehe Box) ihre uneingeschränkte Solidarität mit dem Opfer des Übergriffs.
Mit dieser «persönlichen Meinung» wendet sich das Ensemble von Ballett Bern an die Öffentlichkeit:
«The unfolding of recent events in our company has shaken us. Although the team of artists that make up the ensemble might have changed over the years, we, the current dancers of Bern Ballett stand in solidarity with our collegues who have fallen victim to sexual harassment and want to express our heartfelt support.
While we are in the midst of processing the heavy emotional load that comes with this difficult situation, we also sense the importance of this moment and its capacity to bring lasting change.
Discrimination and harassment are reoccurring problems in the international dance field. No matter how much someone may be respected and applauded for their knowledge and experience, it will never legitimize this sort of misconduct and cannot be tolerated.
Despite our continuous effort to establish a positive and safe working environment, it is now painfully clear that appropriate and transparent actions must be taken in order to foster a healthy working climate, as the events in our house unfortunately confirmed.
With this message, we want to actively encourage anyone that is facing cross-boarder behaviour to address it. By sharing your experiences, you do not need to face the emotional complexity of the situation alone. Together we can work towards a system where manifesting our art is rooted in a culture of mutual respect, security and trust.»
Etwas weit hergeholt scheint auch die Einschätzung von Bischof, dass der interne Verhaltenskodex, der unter der Ägide von Nadine Borter als Teil der Bewältigungsstrategie der Affäre um den früheren Intendanten Stephan Märki eingeführt worden war, im Falle der ersten Belästigungen zwischen August und Dezember 2020 gegriffen habe. Als Grund gibt sie an, dass die betroffene Tänzerin von sich aus zur Leitung gelangt ist. Das Argument hinkt. Eine aufmerksame Leitung hätte die Gerüchte, die monatelang kursieren, mitbekommen und proaktiv etwas unternommen, erklärte Salva Leutenegger, Geschäftsleiterin von SzeneSchweiz der «Hauptstadt».
«Traurig, enttäuscht, betroffen»
Das alles spricht nicht für ein intaktes Vertrauensverhältnis zwischen Tanzenden und Führungsetage. In der Tat zeigte sich Isabelle Bischof vor den Medien «als Leiterin und Frau» sichtbar «traurig, enttäuscht und betroffen», davon, dass ihr Draht in die Compagnie offenbar nicht wie gewünscht funktioniert. Sie versprach, daran zu arbeiten: «Für mich ist klar, dass sich etwas an den Strukturen ändern muss. Es gilt Instrumente einzuführen, die das Bewusstsein aller stärken.»
Als der Probenleiter nach der Untersuchung im August 2021 auf seinen Posten zurückkehrte, verzichteten Bühnen Bern auf eine externe Supervision. «Im Rückblick wäre das eine gute Idee gewesen», gab Florian Scholz an der Medienkonferenz im September 2022 zu. Offenbar hat die Leitung ihre Lehren daraus gezogen. Die Ballett-Compagnie wird nun von einem externen Coach und Supervisor begleitet. Und die Fachstellte für Gleichstellung von Frauen und Männern des Kantons Bern wird Bühnen Bern bei der Evaluation dieses Prozesses beraten.
Anfang November steht die Premiere des neuen Tanzstückes an. Nach der Entlassung des Probenleiters übernehmen zwei der Compagnie bereits bekannte Personen vorläufig seine Funktion. «Zu einem gegebenen Zeitpunkt», so Bischof, werde der Job ausgeschrieben. Bei den Bewerber*innen würden sie «ein besonderes Augenmerk» auf deren Vorgeschichte legen.
Geflickter Draht zur Stadt
A propos besonderes Augenmerk: In der Kommunikation gegen aussen liessen es Bühnen Bern in diesem Fall an Transparenz, die schon im Fall Märki zu kurz gekommen war, erneut fehlen. Die Stadt Bern, die mit einem Jahresbeitrag von 18 Millionen Franken wichtigste Subventionsgeberin, hätte informiert werden müssen, als man 2021 eine interne Untersuchung anstrengte. Dass das nicht geschah, hat Franziska Burkhardt, Leiterin von Kultur Stadt Bern, heftig kritisiert.
Es wäre gemäss Leistungsvertrag nicht an Intendant Florian Scholz gewesen, das zu tun, sondern am Stiftungsrat, in dem mit Nadine Borter und Sybil Matter zwei von der Stadt entsandte Mitglieder sitzen. «Es war ein Fehler, die Stadt nicht zu informieren», sagte Nadine Borter jetzt vor den Medien. Man habe die Lage 2021 so eingeschätzt, dass nach der internen Untersuchung, der Probezeit und der anschliessenden Wiederanstellung des Probenleiters der Courant normale einkehren würde. Das tat er zwar – bis der Bühnen-Bern-Chefetage im Herbst 2022 nach einer journalistischen Recherche ihre Versäumnisse um die Ohren flogen. Nadine Borter beteuerte, dass ihr eine solche Nicht-Information der Finanzierungsträger in heiklen Situationen «nicht mehr passieren wird».
Ebenso dezidiert verteidigte Nadine Borter aber den Entscheid, die Öffentlichkeit, die Bühnen Bern über Steuergelder finanziert, nicht oder nur summarisch über die konkreten Vorwürfe, die dem Probenleiter gemacht werden, ins Bild zu setzen. Sie gewichte in diesen Fällen das Persönlichkeitsrecht und damit den Schutz ihrer Angestellten höher als das Bedürfnis nach Transparenz.
Man weiss offiziell, dass ihm ausschliesslich verbale Belästigungen nachgewiesen wurden. In geleakten Passagen des Untersuchungberichts von «BeTrieb» ist aber auch die Rede davon, dass er «auf dem Schoss sitzende Tänzerinnen während der Pausen» ebenso vermeiden müsse wie «ungefragte Massagen».
Der gefeuerte Probenleiter hatte vor einer Woche gegenüber der «Hauptstadt» festgehalten, er warte noch auf eine offizielle Begründung für seine Entlassung. Auf Nachfrage wollte er sich nicht weiter äussern, seine Anwälte seien zurzeit mit diesem Fall befasst.