Eine Stimme für die, die keine haben

Die im November frisch gewählte Berner Stadträtin Shasime Osmani kämpft mit einer Partizipationsmotion für städtische Stipendien – und geht damit einen ungewöhnlichen Weg.

Shasime Osmani
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Shasime Osmani wurde im Kunstatelier «kidswest» politisiert. (Bild: Danielle Liniger)

Massive Beton-Hochhäuser prägen das Quartier Bümpliz-Bethlehem. Im Erdgeschoss eines solchen Blocks befindet sich das Kunstatelier «kidswest», ein gratis Freizeit-Angebot für sozial benachteiligte Kinder. Die Spuren ihrer künstlerischen Betätigung sieht man an den Wänden und auf den Tischen des Ateliers. 

Zur ersten Generation von Kindern, die an diesen Wänden ihre Kleckse hinterliessen, gehört Shasime Osmani. Das Kunstatelier war für die heute 26-Jährige nicht bloss Ort des kreativen Ausdrucks – sie machte hier ihre ersten politischen Erfahrungen. 

Denn als die SVP 2009 für eine Kampagne gegen die Personenfreizügigkeit das Motiv eines Raben aufgriff, brachte sie damit nicht nur den Schweizer Vogelschutz  gegen sich auf. Auch die Kinder von «kidswest» empörten sich über die negative Darstellung ihres Vereinsmaskottchens und organisierten eine Protestaktion, in der sie das Bundesratsfoto 2009 mit migrantischen Arbeiter*innenkids nachstellten. Osmani, damals Teil der Gruppe, empfand diese Aktion als bestärkend. Heute, mehr als ein Jahrzehnt später, ist sie Präsidentin des Vereins. 

Im Westen von Bern

Osmani wuchs in Bümpliz-Bethlehem auf. «Das Leben im Westen von Bern hat mich politisiert», sagt die Jura-Studentin, die seit Januar für die SP im Berner Stadtrat sitzt. «Armut prägt. Migration prägt sowieso.» Was klingt wie Schlagworte, ist für Osmani die Grundlage ihres politischen Engagements. 

Ihre persönlichen Erfahrungen machten ihr klar, dass der Bildungsstand und die sozioökonomische Situation vererbt werden. Während in Bümpliz-Bethlehem 11 Prozent aller Kinder eine Empfehlung fürs Gymnasium erhalten, sind es in anderen Quartieren bis zu 40 Prozent. Es könne ja nicht sein, dass einfach alle, die schulisch weniger begabt sind, in Bümpliz-Bethlehem wohnen, findet die frisch gewählte Lokalpolitikerin.

Shasime Osmani
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Heute präsidiert die SP-Politikerin aus Bern West den Verein «kidswest». (Bild: Danielle Liniger)

Auch für sie selbst war ein Studium an einer Universität nicht selbstverständlich. Nach der obligatorischen Schulzeit absolvierte sie eine KV-Lehre. Später entschied sie sich für ein Rechtsstudium auf dem zweiten Bildungsweg. 

Sie habe erst an der Uni gemerkt, wie unterschiedlich die Erfahrungen ihrer Mitstudent*innen gewesen seien, erinnert sich Osmani. «Während Studieren bei den einen eine Selbstverständlichkeit ist, ist es bei den anderen eine Frage des Glücks.» Dabei dürfe man den Bildungsweg nicht dem Zufall überlassen. Sie findet deshalb, dass diese Möglichkeit mehr Menschen mit Potential offenstehen sollte. 

Aus diesem Grund setzt sich Osmani heute für Chancengleichheit ein: Nicht nur bei «kidswest», sondern auch im Bildungskontext.

Während der letzten Monate sammelte die SP-Politikerin Unterschriften für eine Partizipationsmotion, die städtische Stipendien fordert. Dass eine Stadträtin das Instrument der Partizipationsmotion nutzt, um das Thema anzugehen, wirft Fragen auf. Denn als Stadträtin könnte sie auch eine entsprechende Motion im Stadtrat einreichen. Das Thema Stipendien ist zudem kantonal geregelt. Weshalb also braucht es städtische Stipendien?

Ein ungewöhnlicher Weg: Die Partizipationsmotion

Die Partizipationsmotion ermöglicht es Personen ohne Stimmrecht, Anliegen direkt im Parlament einzubringen. Seit deren Inkrafttreten 2016 wurden in Bern erst drei Partizipationsmotionen eingereicht. Die erste Motion, die 2019 eingereicht wurde, beauftragte den Gemeinderat damit, sich dafür einzusetzen, dass Bernmobil bei Neueinstellungen die Anforderungen an Deutschkenntnisse auf das für Einbürgerungen geforderte Niveau senkt. Die Motionär*innen forderten damit die Chancengleichheit ein, die sich Bernmobil in einer Werbekampagne auf die Fahnen geschrieben hatte. 

Das Instrument der Partizipationsmotion wurde damals von Seiten SVP stark kritisiert. Erich Hess (SVP) äusserte den Vorwurf, dass hinter solchen Vorstössen Linksparteien stehen und die Einreichenden bloss Marionetten wären, wie die BZ berichtete.

Shasime Osmani
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Shasime Osmani wurde im letzten November in den Stadtrat gewählt, vor vier Jahren wurde sie eingebürgert. (Bild: Danielle Liniger)

Osmani kennt diese Einwände. Als Stadträtin und eingebürgerte Schweizerin kann sie die Motion selbst nicht miteinreichen. Dass sie sich dafür entschied, das Anliegen in dieser Form zu unterstützen, erklärt sie damit, dass sie ein Zeichen setzen wollte: «Ich bin selbst erst seit vier Jahren eingebürgert. Meine Familie hat bis heute kein Stimmrecht. Ich sehe mich als Stimme für all jene, die keine haben.» Ausserdem sei die Idee letzten Sommer entstanden, als sie noch nicht Stadträtin gewesen sei.

Die Schwächen des Berner Stipendiensystems

Osmani war bis April 2024 im Vorstand des Verbands der Schweizer Studierendenschaften (VSS) und für das hochschulpolitische Dossier zuständig. «Durch diese Arbeit wurde mir bewusst, welche Lücken unser Stipendiensystem hat», so Osmani.

Das Schweizer Stipendiensystem ist kantonal geregelt. Wer in Bern studiert und nicht selbst in der Lage ist, die Ausbildung zu finanzieren, kann beim Kanton Ausbildungsbeiträge beantragen. In Bern sind die Beiträge nicht an die Teuerung der letzten Jahre angepasst worden. Zudem gilt die Regel, dass nach drei Jahren nicht mehr der volle Beitrag als Stipendium gesprochen wird, sondern nur noch zwei Drittel. Der Rest wird als Darlehen zur Verfügung gestellt. Dieses muss zu einem späteren Zeitpunkt inklusive Zinsen wieder an den Kanton zurückgezahlt werden. Zudem dürfen Menschen, die Stipendien beziehen, nicht mehr als 6'000 Franken pro Jahr durch Lohnarbeit verdienen, sonst wird der Stipendienbeitrag gekürzt.

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Um sich ihr Studium zu finanzieren, ist Shasime Osmani auf Stipendien angewiesen. (Bild: Danielle Liniger)

Diese Punkte kritisiert Osmani. «Das Ziel von Stipendien ist, dass du dich aufs Studium konzentrieren kannst. Aber aktuell sind die Beiträge nicht existenzsichernd». Dass ein Drittel der Stipendien nach drei Jahren bloss noch als Darlehen gesprochen wird, sieht sie dabei besonders problematisch. «Menschen, die bereits aus armen Verhältnissen kommen, müssen sich dann verschulden». Dass eine Einkommens-Obergrenze besteht, verkompliziere die Sache zusätzlich. Wer eine Verschuldung verhindern wollte, müsste mehr arbeiten und mehr Geld verdienen können als die erlaubten 6’000 Franken im Jahr.

Persönliche und politische Motivation

Da ihre Eltern nicht genug verdienen, um sie bei der Finanzierung ihres Studiums zu unterstützen, bezieht Osmani selbst Stipendien. Sie kennt die Probleme daher auch als Betroffene. «Dass man Stipendien vergibt und danach wieder einen Rückzieher macht, indem man auf Darlehen wechselt , ist unverständlich», sagt Osmani. «So schränkt man die Lernenden und Studierenden extrem ein».

Beim VSS versuchte sie, das Thema auf kantonaler Ebene anzugehen und führte Gespräche mit Grossratsmitgliedern mit dem Anliegen, den Einkommens-Freibetrag zu erhöhen. Das stiess allerdings auf taube Ohren, erzählt die SP-lerin. «Und so bin ich dann mit einem guten Freund, Gazmendi Noli, auf die Idee gekommen, das auf städtischer Ebene zu regeln». Noli und Osmani kennen sich von ihrer gemeinsamen Arbeit beim VSS, dem Noli zwischen 2023 und 2024 als Co-Präsident vorstand.

Noli, der in der Schweiz nicht stimmberechtigt ist, hat die Motion, die er und Osmani im Sommer vor einem Jahr gemeinsam konzipierten, und für die sie in den letzten Monaten über 200 Unterschriften von Menschen ohne Stimmrecht gesammelt haben, am Montag, den 5. Mai eingereicht.      

Mitreden möglich machen

Nach ihrer Wahl in den Stadtrat im letzten November entschied sich Osmani bewusst dagegen, die Partizipationsmotion in eine reguläre Motion umzuwandeln. Denn, wie sie betont, ist es ihr wichtig, dieses Instrument zu nutzen und Aufmerksamkeit dafür zu schaffen.

Sie findet nicht, dass das eine Instrumentalisierung ist. Im Gegenteil: Durch ihren Einsatz für die Partizipationsmotion rege sie den politischen Diskurs an, erklärt Osmani. Da Menschen ohne Schweizer Pass oft weniger finanzielle Ressourcen hätten, betreffe sie das Thema direkt. 

Dennoch zeigt das Beispiel gut auf, dass politische Partizipation hohe Anforderungen stellt. Selbst 200 Unterschriften zu sammeln, dürfte sich für Personen ohne politische Erfahrungen und Netzwerke schwierig gestalten. 

Auch Osmani ist sich dessen bewusst. «Deshalb haben wir im Stadtrat eine Motion verabschiedet, die die Zahl der benötigten Unterschriften auf 100 reduziert», sagt sie. Die Motion, bei vier Enthaltungen mit einer 42-zu-17-Mehrheit vom Stadtrat angenommen, wurde am 27. Februar 2025 an die Direktion für Bildung, Soziales und Sport überwiesen. 

Chancengleichheit als liberales Versprechen

«Bern ist rot-grün: Was Bildungspolitik anbelangt, sollten wir deshalb eine Stadt sein, die vorangeht und nicht wartet», so Osmani. Dass ihr Vorhaben finanzielle Mittel erfordert, und angesichts des 12-Millionen Defizits des letzten Jahres ein heikles Unterfangen darstellt, weiss die Stadträtin. Doch sie argumentiert ökonomisch: Gelder, die man für Bildung ausgebe, seien keine Ausgaben, sondern lohnende Investitionen in die Zukunft der Stadt, die sich innert kurzer Zeit in Steuereinnahmen umwandeln. Die Finanzierung sei letztlich eine Frage der Prioritäten, so Osmani. Und fährt damit die bekannte Linie von RGM.

Für die SP-Politikerin geht es um mehr als soziale Gerechtigkeit – es geht um demokratische Glaubwürdigkeit. Sie erklärt: «Ausbildungsbeiträge, Chancengleichheit, das ist ein demokratischer Verfassungsauftrag, auf den wir uns geeinigt haben.» Für Osmani ist deshalb klar, dass Chancengleichheit nicht bloss eine linke Forderung, sondern im Kern ein urliberales Anliegen ist. «Es geht darum, den Bürger*innen die gleichen Chancen zu geben, Chancen, die ihnen rechtsstaatlich zustehen», so Osmani.

Das will die Partizipationsmotion

Kern der eingereichten Partizipationsmotion ist es, die oben genannte Lücke im kantonalen Stipendiensystem zu schliessen. Nach dem Vorbild von Zürich, wo so ein Modell bereits im Einsatz ist, soll die Stadt ergänzend zum Kanton Ausbildungsbeiträge zahlen. Sie soll dabei eingreifen, indem sie die vom Kanton gesprochenen Darlehen als Stipendien zur Verfügung stellt, so dass sich keine Stipendien-Bezieher*innen verschulden müssen.

Und noch einen Schritt weiter: Nicht nur Studierende, sondern auch Lernende oder Personen die Umschulungen machen möchten, sowie Menschen mit Schutzstatus S, deren Ausbildung vom Kanton nicht unterstützt wird, sollen bei Annahme der Partizipationsmotion Zugang zu städtischen Ausbildungsbeiträgen erhalten.

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