Kita-Grosseltern – «Hauptstadt»-Brief #204

Samstag, 12. August 2023 - die Themen: Grosseltern, Rückkehrzentren, Klima-Initiative, Konkurs, Raser, Listen; Kopf der Woche: Marlen Reusser

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(Bild: Marc Brunner, Buro Destruct)

Für meine und viele andere Berner Kinder beginnt am Montag wieder die Schule. Zuhause kehrt damit der gewohnte Alltag ein – zumindest an unserem Mittagstisch. Das hat damit zu tun, dass die Kinder auch von den Grosseltern betreut werden. 

Der Opa kocht bei uns mindestens zweimal pro Woche Zmittag. Seine Menus sind berechenbar: Dienstags gibts Spaghetti mit Pesto, donnerstags Speckrösti. Diese Verlässlichkeit schätzen meine Kinder. 

Und wir Eltern schätzen den unermüdlichen und generösen Betreuungseinsatz der Grosseltern. Ohne sie könnten meine Ex-Frau und ich nicht 70 Prozent und mehr arbeiten. Zumindest nicht ohne eine andere Fremdbetreuung.

Laut einer Auswertung des Bundesamtes für Statistik aus dem Jahr 2020 werden 33 Prozent aller 0- bis 12-jährigen Kinder zum Teil von den Grosseltern betreut. In Familien ohne Migrationshintergrund sind es gar 49 Prozent. Damit sind Grossmütter und Grossväter die häufigste Fremdbetreuung, noch vor Kindertagesstätten und schulergänzenden Betreuungseinrichtungen (32 Prozent). Diese Leistung der Grosseltern ist meist unbezahlt und wurde im Jahr 2016 auf 160 Millionen Stunden und einen Wert von 8 Milliarden Franken geschätzt. 

Das sind beeindruckende Zahlen. Darum hier mal ein dickes Dankeschön eines Vaters an all die Grossmütter und Opas, die ihre Enkel*innen betreuen, sei es in den Ferien oder im Schulalltag.

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Begrünt. (Bild: Daniel Buergin)

Und jetzt noch zu anderen Themen des Tages:

  • Rückkehrzentren: Der Kanton Bern zieht die Schraube für abgewiesene Asylsuchende weiter an: Seit dem 3. August müssen sich gewisse Bewohner*innen der kantonalen Rückkehrzentren dreimal täglich (statt wie bisher einmal) bei der Zentrumsleitung registrieren. Das bestätigt das zuständige Amt im Artikel meiner Kollegin Jana Schmid. Die Massnahme trifft Asylsuchende, die mutmasslich Unterstützung von Dritten erhalten.  
  • Klima-Initiative: Das Grüne Bündnis stört sich am finanzpolitischen Sparkurs und an der schleppenden Klimapolitik der linken Stadtregierung, der es selber angehört. Nun kündigt Partei-Co-Chefin Ursina Anderegg im Interview mit der «Hauptstadt» eine Initiative für die Finanzierung von Klimamassnahmen an. Zudem spricht Anderegg über ihre Ambitionen für die Nachfolge von Franziska Teuscher und die Verdrängung von Gewerbebetrieben aus der Stadt.
  • Konkurs: Muris Gemeindepräsident Stephan Lack (FDP) musste sich in den Sommerferien mit einer ungemütlichen und fast unglaublichen Geschichte herumschlagen, die er sich selbst eingebrockt hatte. Via Lacks Einzelfirma wurde der Konkurs über ihn eröffnet. Grund dafür war eine private, nicht bezahlte Prämienrechnung der Krankenkasse. Leider habe er mehrere Fristen verpasst, sagt Lack zur «Hauptstadt». Das sei ein Fehler, für den er Verantwortung übernehme. Der Konkurs ist mittlerweile aufgehoben. Dennoch reagieren die politischen Gegner*innen in Muri mit Unverständnis.
  • Asylunterkünfte: In den kommenden Monaten wird der Kanton vier neue Notunterkünfte für Asylsuchende in Betrieb nehmen. So im September die Notunterkunft Effinger in der Stadt Bern und im Oktober die unterirdische Zivilschutzanlage Bodengässli in Niederscherli. In den Notunterkünften sollen laut Mitteilung des Kantons möglichst Einzelpersonen untergebracht werden, um in oberirdischen Anlagen Platz für Familien zu schaffen. Die neuen Notunterkünfte reichen aber nicht, um den Anstieg der Zahl der Asylsuchenden zu bewältigen. Darum hat der Kanton gestern die Regierungsstatthalter*innen beauftragt, bis Ende September in den Gemeinden insgesamt 1200 Unterbringungsplätze zu bestimmen. Dieses Vorgehen wählt er, weil in den Gemeinden die Bereitschaft, die Schaffung von Asylunterkünften zu unterstützen, kaum noch vorhanden sei.
  • Raser: Ein 22-jähriger Autolenker ist nach einem Tempo-Exzess auf der Laubeggstrasse in Bern ermittelt und angehalten worden. Der Lenker raste auf einer Tempo-50-Strasse mit 110 km/h und geriet in eine Geschwindigkeitskontrolle der Polizei, wie die Kantonspolizei Bern mitteilte.
  • Listenverbindung: Im Kanton Bern bündeln die Kritiker*innen der Corona-Massnahmen, die EDU und weitere kleine Parteien ihre Kräfte. Sie gehen bei den Nationalratswahlen eine Listenverbindung ein, wie sie am Freitag mitteilten. Zum «grossen Bündnis der Kleinen» gehören die EDU, die Bewegungen Aufrecht Bern und Mass-Voll, die Schweizer Demokraten, die Bürgerliche Stadt- und Landliste sowie die Listen Los Normalos und Philipp Jutzi.
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Kopf der Woche: Marlen Reusser

Sie hat diese Saison so viele Siege errungen wie noch nie, die Berner Profi-Radrennfahrerin Marlen Reusser (31): Sie gewann unter anderem die Tour de Suisse, die Baskenlandrundfahrt und das Eintagesrennen Gent-Wevelgem. Mindestens so wichtig im sozialen Gefüge des Radrennsports: Marlen Reusser tat sich auch als selbstlose Dienstleisterin hervor. Dank ihrer Fähigkeit, zuvorderst ausdauernd schnell zu fahren, spendete sie viel Windschatten und hatte entscheidenden Anteil daran, dass ihre Teamkollegin Demi Vollering vor zwei Wochen die Tour de France gewann.

Reusser, die auch ausgebildete Ärztin ist, ambitioniert Geige spielte und mehrfach für den Nationalrat kandidierte, reiste als Favoritin an die Weltmeisterschaften in Glasgow. Doch am Donnerstag beim Einzelzeitfahren, bei dem die Goldmedaille für sie bereitzuliegen schien, stieg Marlen Reusser unterwegs plötzlich vom Rad und setzte sich mit gekreuzten Beinen ins Gras. Einen Augenblick lang wirkte sie wie eine Klimakleberin. Ein paar Stunden blieb rätselhaft, was mit ihr los war. Dann aber gab Reusser auf TV SRF ein denkwürdiges neunminütiges Interview.

Reusser erklärte, trotz ihren Erfolgen und obschon ihr Körper performt wie selten, sei ihr die Freude abhandengekommen. Sie habe «keinen Bock gehabt», das Letzte aus sich herauszuholen Darum sei sie, zu ihrer eigenen Überraschung, vom Velo gestiegen. Es habe in den letzten Monaten nie einen Moment gegeben, Abstand zu nehmen, sich über das Erreichte zu freuen. Sondern: Immer mehr. Immer besser. Ihr sei bewusst, dass sie nun als «verwöhnte Jammertante» wirken könne. Und für die vielen Helfer*innen in ihrem Umfeld dürfte der abrupte Stopp schwer verdaulich sein.

Aber: Reussers öffentliches Nachdenken ist eine Spitzenleistung. Ein niederschwelliges Philosophieseminar über die Widersprüche der Leistungs- und Optimierungsgesellschaft, die im Spitzensport extrem sind, wir alle in unseren normalen Leben aber genauso spüren. Deshalb müsste man dieses TV-Interview zum Pflichtkonsum erklären. (jsz)

PS: Freund*innen des Openair-Kinos kommen dieser Tage im Berner Kocherpark auf ihre Kosten. Dort betreibt ein nicht kommerzieller Verein das «Kino im Kocher». Gespielt werden Filme aus vergangenen Jahren. So heute Abend «Bohemian Rhapsody», der Film über Queen-Sänger Freddie Mercury. Der Eintritt ist dank Sponsoren und Kollekte kostenlos, denn das Kino soll laut den Macher*innen für alle zugänglich sein. Nächste Woche läuft das Kino im Kocher von Dienstag bis Samstag.

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