«Niemand sieht sich gerne als Erbe»

Erben als Privileg: Damit beschäftigt sich Regisseur Simon Baumann in seinem neuen Film «Wir Erben». Wie immer nimmt der Berner dabei sich selbst – und diesmal auch seine Familie – als Ausgangspunkt.

Simon Baumann
Film, Wir Erben
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© Danielle Liniger
Simon Baumann im Wohnzimmer seines Hauses in Suberg. Er hat es geerbt. (Bild: Danielle Liniger)

Wir treffen uns in Ihrem Haus in Suberg. In diesem Dorf spielt Ihr letzter Film («Zum Beispiel Suberg», 2013). Sie wollten sich hier integrieren. Wie gut ist das gelungen?

Simon Baumann: Ich fühle mich nicht integrierter als vor dem Film. Das war auch nicht meine Hoffnung. Ich habe das Vorhaben im Film überhöht dargestellt, um zu zeigen, dass es sehr schwierig ist, sich in etwas zu integrieren, das gar nicht mehr zusammenhält. Die Dorfgemeinschaft gibt es nicht mehr, man ist vereinzelt, individualisiert.

Dabei traten Sie sogar dem Männerchor bei.

Für diese zwei Szenen im Film bin ich sogar jahrelang im Chor geblieben. Das war der Deal mit der Chorleiterin. Ich musste Mitglied werden, damit ich filmen durfte. Sechs Jahre lang habe ich jeden Donnerstag gesungen. Und dann, 2017, wurde der Chor mangels Nachwuchs aufgelöst.

Und seither?

Jetzt sind unsere Kinder in der Schule und dadurch haben wir Kontakt zu anderen Eltern. Aber als Kulturschaffende ist fast alles, was uns interessiert, in der Stadt. Es fehlen manchmal die Gemeinsamkeiten mit den Leuten hier, wobei es schwierig ist, das zu sagen, ohne dass man jemanden verletzt.

In Suberg sind Sie ja wegen eines Erbes gelandet.

Wir konnten dieses Haus von meinen Eltern erben. Das war für uns eine grosse Entscheidung, denn vorher haben wir in der Stadt gelebt. Aber auch verlockend. Man kommt nicht so einfach zu einem Haus.

Es war ein Erbe, das Sie nicht ausgeschlagen haben.

Nein, aber es hat bei meiner Partnerin und mir natürlich zu Diskussionen geführt. Ein Haus verkauft man nicht einfach und geht weiter, wenn es einem nicht so passt. Und gleichzeitig sind wir sehr privilegiert.

Und darüber wollten Sie einen Film machen?

Der Ausgangspunkt war eigentlich ein anderer. 2015 war meine Partnerin mit unserer ersten Tochter schwanger. Wir wollten nochmals richtig in die Ferien. In Vourvourou, Griechenland, fanden wir ein schönes Hotel. Dort fingen wir an zu überlegen, welche Werte wir unserem Kind weitergeben. Und uns wurden die krassen Widersprüche in unserem Leben bewusst. Wir waren nach Griechenland geflogen, weil es hier ein cooles Hotel mit regionalem Essen gab. Wir realisierten, dass wir einer Generation angehören, die alles will und kann. In diesem Hotel waren die Kultureliten aus ganz Europa. Die Grafiker, Fotografinnen, Architekten. Später würden alle irgendwo ein Haus erben.

So wie Sie.

Genau, da haben wir die ersten Notizen gemacht für «Wir Erben». Fünf Jahre später, 2020, haben meine Eltern gesagt: Sie wollen über die Zukunft ihres Bauernhofs in Südwestfrankreich reden. Da habe ich sofort gewusst: Ich mache einen Film. Der Hof verkörpert die Ideale meiner Eltern. Darüber kann man reden und verhandeln. Er ist der Natur nah, in schönen landwirtschaftlichen Strukturen eingebettet, aber mehr als 1000 Kilometer von unserem Wohnort entfernt.

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Zum Film «Wir Erben»

Über 80 Tage hat Regisseur Simon Baumann auf dem Bauernhof seiner Eltern in Traversères in Südwestfrankreich verbracht, um den Prozess aufzuzeigen, wie seine Familie mit dem Erben umgeht. Ausgangspunkt ist der über 1000 Kilometer entfernte Hof, den die Eltern mit zunehmendem Alter nicht mehr werden bewirtschaften können.

Der 45-jährige Baumann stammt aus keiner unbekannten Familie: Seine Eltern waren in den 1990er Jahren beide im Nationalrat: Stephanie Baumann für die SP, Ruedi Baumann für die Grünen. 2001 kauften sie den Hof in Frankreich und wanderten aus. Heute sitzt auch Baumanns Bruder Kilian im Nationalrat, wie sein Vater für die Grünen. Beide Brüder leben im Seeländer Dorf Suberg.  

«Wir Erben» ist nahe am bekannten Politikerpaar dran, auch wenn Simon Baumann betont, dass der Film kein Porträt seiner Eltern sein soll. Gleichzeitig verhandelt er Erwartungen, Bürden und Privilegien, die hierzulande mit dem Erben verbunden sind. Das alles in einer liebevoll humorvollen Art, die schon Baumanns Vorgängerfilm «Zum Beispiel Suberg» auszeichnete. 

«Wir Erben» wird an den Solothurner Filmtagen gezeigt, die am 22. Januar begonnen haben. Der Dokumentarfilm ist dort für den Prix du Public nominiert. Ab 30. Januar läuft er regulär in den Kinos.

Wie reagierte die Familie auf Ihre Idee?

Die Eltern haben spontan gesagt, mach nur, aber das interessiert niemanden. Denn ich wollte nicht den traditionellen Erbkonflikt darstellen.

Was dann?

Das Hauptproblem ist: Niemand sieht sich gerne als Erbe. Ich sage «niemand», weil das alle haben, nicht nur ich. Wir haben ein anderes Bild von uns. Eines, das besagt, wenn man viel leistet, dann hat man etwas, und wenn man nicht so viel leistet, dann hat man weniger. Dieses Denken ist stark verbreitet, es wird auch ständig wiederholt. Es ist aber ein Mythos. Denn wer richtig viel hat, der hat geerbt. Und auch wer wirklich viel leistet, kommt meist nicht zu so viel.

Sehen auch Sie sich nicht gerne als Erbe?

Natürlich nicht. Man erzählt lieber, was man geleistet hat. Man hat 20 Jahre gearbeitet und kann sich ein Haus leisten. Das klingt besser als: «Ich habe das geschenkt bekommen.» Man hat Angst, dass ein Erbe im Gegenüber Neid auslöst. Man hat auch Angst, dass die andere Person einen als jemanden sieht, der alles geschenkt bekommt und es viel leichter hat im Leben. Dabei ist Erben nicht nur ein Privileg. Das sage ich aus eigener Erfahrung. Oft sind Erbsachen auch mit Lasten verbunden.

Zum Beispiel?

Ich spüre, dass ich mit dem Haus eine gewisse Verantwortung übernommen habe, dass es erhalten bleibt. Wir mussten Zimmer einbauen, das Haus renovieren. Das war eine starke Last, finanziell und zeitlich. Ich habe in dieser Zeit jene beneidet, die monatlich Miete zahlen und im Kopf frei sind von all diesen Gedanken.

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Erben sei manchmal auch eine Last, sagt Baumann. (Bild: Danielle Liniger)

Erben als Last.

Ja. Aber darüber Jammern ist auch schwierig. Weil ich ja ein tolles Haus habe. Das war sowieso etwas vom Schwierigsten an diesem Film: Wie zeige ich meinen Besitz? Wie benenne ich das? Mit welchen Worten? Das macht man normalerweise ja nicht. Es gibt auch wenig Beispiele dafür, wie man über Besitz und Eigentum spricht.

Haben Sie Beispiele gesucht?

Ja, aber da kommt man nur auf neureiches Geblöffe. Und von dem gibt es in der Schweiz wenig.

Hier ist man diskret mit dem, was man hat.

Und man sollte auch nicht blöffig wirken, wenn man darüber spricht. Nun zeige ich im Film, dass ich nicht durch Leistung, sondern durch Glück all das habe. Ich habe es geerbt. Ich musste dazu stehen. Noch im Suberg-Film habe ich lustigerweise das gemacht, was alle Erben machen: Ich habe gesagt, das ist ein altes Haus. Ich habe gezeigt, wie ich etwas daran zu reparieren versuche. Ich habe es runtergespielt.

Und jetzt wollten Sie den Besitz nicht runterspielen?

Zuerst habe ich auch so angefangen. Ich habe Möglichkeiten gesucht, dass das Haus nicht gut aussieht, dass es kleiner aussieht. Man schämt sich, wenn man Besitz hat, den man in diesem Sinne nicht selbst verdient hat.

Aber man würde ihn gleichzeitig auch nicht weggeben.

Ich auf jeden Fall nicht. Ich bin da auch widersprüchlich. Ich bin Kulturschaffender. Meine Frau ist auch in der Kultur unterwegs. Wir verdienen wenig. Wir sagen manchmal, wir haben die Tendenz, House-Poor zu werden. Wir stecken immer noch viel ins Haus, von aussen sieht alles gut aus, aber unser Bankkonto sieht manchmal schlecht aus. Ich bin nicht in der Position, in der ich einen Erbausschlag machen könnte, auch weil ich an meine zwei Töchter denke.

Möchten Sie, dass Ihre Kinder etwas von Ihnen erben können?

So wie sich der Wohnungsmarkt weiterentwickelt, kann ich mir denken, dass in 20 oder 30 Jahren jedes Haus, das irgendwo steht, x Millionen wert ist. Und wenn ein eigenes Haus ein grosser Traum wäre für beide Töchter, dann hätten wir schon ein Problem. Das sind schon Gedanken, die ich von meinem Vater übernommen habe.

Das ist auch ein Erbe.

Ja. Ich finde es auch nicht widersprüchlich. So wie die Gesellschaft momentan funktioniert, sollte man den Leuten erlauben, dass sie ein Haus direkt den Nachfahren weitergeben dürfen. Aber in der Schweiz geht es ganz schnell um sehr viel mehr als ein Häuschen. Ganz viele Leute erben Millionen, so dass sie von Geburt an eigentlich nie im Leben arbeiten müssten. Das Kapital wirft mehr ab als Arbeit. Deshalb sollten wir unbedingt mehr über Verteilgerechtigkeit reden.

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Baumann wohnt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Hof, den sein Bruder Kilian bewirtschaftet. (Bild: Danielle Liniger)

Es gibt ja die Juso-Initiative zur Besteuerung von grossen Erbschaften.

Das ist eine sehr vernünftige Initiative. Ich will zwar nicht die Polemik befeuern, aber wenn man es historisch anschaut, ist es nicht eine wahnsinnig krasse Idee, dass der Staat ab 50 Millionen Erbschaft 50 Prozent nimmt. Der Diskurs darüber wird auf einem lächerlichen Niveau geführt. Da wird nur mit der Angst operiert, dass alle KMUs kaputt gehen und die Reichen und Superreichen das Land verlassen. Aber niemand weiss, ob das wirklich so wäre. Bei Erbschaftssteuern gibt es ja immer auch gewisse Ausnahmen. Sie werden so ausgestaltet, dass sie keine Strukturen zerstören. Aber wir müssen darüber reden, wie wir den Reichtum, der da ist, wieder besser verteilen. Seit der Französischen Revolution gab es immer eine Erbschaftsteuer. Sie wurde in den letzten Jahrzehnten massiv gekürzt. Das ist ein Rückfall.

Sie klingen wie ein Politiker.

Meine Filme haben schon eine Botschaft, aber ich bin kein Politiker. Das ist auch gut so.

Wobei Ihre Eltern und Ihr Bruder alle in der Politik sind. Wie hat Sie das beeinflusst?

Es hat mich auf jeden Fall geprägt. Ich bin damit aufgewachsen, dass wir bei jedem Essen über Politik reden. Und ich habe auch gemerkt, dass es ein Weg zur Anerkennung der Eltern ist, wenn man über diese Sachen reden kann und eine Haltung hat.

Wie ist jetzt eigentlich der Stand mit dem Hof in Südwestfrankreich, den Ihre Eltern Ihnen und Ihrem Bruder vererben wollten?

Rechtlich ist es gelöst, indem meine Eltern, mein Bruder und ich nun eine Gesellschaft bilden. Wenn jemand stirbt, fällt dessen Anteil an die anderen zurück. So gibt es auch keine Erbschaftssteuer.

Und menschlich?

Mein Vater bleibt stur und möchte so lange wie möglich dort bleiben. Bis jetzt bewirtschaften sie den Hof noch. Aber es kann plötzlich schnell gehen. Meine Mutter fährt schon nicht mehr Auto. Und sie fühlt sich auch nicht mehr ganz sicher, wenn er Auto fährt. Aber ohne Auto kannst du auf diesem Hof nicht leben.

Dann werden Sie oder Ihr Bruder auf dem Hof zum Rechten schauen müssen.

Ja, das könnte zur Belastung werden für uns, habe ich das Gefühl.

Aber es ist ein Kompromiss.

Ich wollte einen Schritt auf meine Eltern zu machen. Es ist eine Zwischenlösung, mit der vor allem mein Vater glücklich ist. Für sein Leben ist es gelöst. Aber es ist immer noch sehr offen, was später mit dem Hof wird. Ob eines der fünf Enkelkinder ihn in 20 Jahren übernehmen will? Oder mein Bruder Kilian in ein paar Jahren?

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