«Der Spaghetti-Teller ist wirklich nicht gut geplant»
Das Wahlkampfgespräch mit den Gemeinderatskandidatinnen Ursina Anderegg (Grünes Bündnis) und Melanie Mettler (GLP) – sie kandidiert auch für das Stadtpräsidium – über Finanzen, Wirtschaft und Verkehr.
Frau Anderegg, was würde besser, wenn die Bürgerlichen einen zweiten Sitz in der Regierung bekämen?
Ursina Anderegg: Ich kann mir nicht vorstellen, was besser werden könnte. Ich befürchte einen sozialpolitischen Rückschritt. Klimapolitisch würde die Bremse sicher nicht gelöst. Darum wollen wir die vier Sitze unbedingt verteidigen. Die Bürger*innen – zumindest diejenigen, die stimmen können – stehen hinter der Politik dieser Mehrheit. Wir haben in dieser Legislatur keine einzige Abstimmung verloren.
Melanie Mettler, was hat die politische Konkurrenz, die seit Jahrzehnten die Mehrheit hat, in den letzten Jahren so richtig gut gemacht?
Melanie Mettler: Ursina, du hast die Frage nicht beantwortet. Mindestens demokratiepolitische Fortschritte wären durch einen zweiten Sitz der Meh-Farb-für-Bärn-Liste garantiert. Denn fast 40 Prozent der Stimmberechtigten sind untervertreten in der Regierung. Aber jetzt zu dem, was Rot-Grün-Mitte gut gemacht hat: Wir haben in der Stadt Bern eine hohe Lebensqualität. In den letzten vier Jahren hat der Gemeinderat die Covid-Krise gut gemeistert und bei den rezessionsdämpfenden Massnahmen – gerade für kleinere Betriebe – einen sehr guten Weg gefunden.
Wen willst du am 24. November in die Stadtregierung wählen? Um dir diese Entscheidung zu erleichtern, führt die «Hauptstadt» vier Wahlkampfgespräche mit je zwei Kandidat*innen durch. Ein Mitglied der bürgerlichen Liste «Meh Farb für Bärn» tritt jeweils gegen eines der Rot-Grün-Mitte-Liste an.
In jedem der Gespräche geht es um unterschiedliche Sachthemen, die für die Stadt Bern von Bedeutung sind: Kitas, Gewerbe, Klimawandel, Finanzen, Kultur und vieles mehr.
Du kannst die Gespräche sowohl als Artikel lesen als auch hören: als Spezialfolgen des «Hauptstadt»-Wahljahr-Podcasts «Im Hinterzimmer». Auf der Website oder überall, wo es Podcasts gibt.
Reden wir über die Finanzen. Die rot-grüne Regierung legt für 2025 erneut ein Budget mit Defizit vor. Wenn Sie in den Gemeinderat gewählt würden, Frau Anderegg, müssten Sie mithelfen zu sparen. Sind Sie bereit dazu?
Ursina Anderegg: Im Moment muss man nicht sparen. Wir haben per Budget 2024 bereits 50 Millionen Franken wiederkehrend eingespart, nach harten Diskussionen. Aktuell sind Reserven von über 100 Millionen Franken angespart, in Form von Eigenkapital. Wir haben gefüllte Kassen für anstehende Sanierungen von Schulhäusern und Sportanlagen. Es gibt Rekordeinnahmen bei den Steuern, durch das Bevölkerungswachstum und durch stabile Unternehmenssteuern.
Trotzdem budgetiert die Regierung ein Defizit.
Ursina Anderegg: Ich finde es ist manchmal schon anstrengend, dass die Diskussionen so stark auf Prognosen fokussieren und damit Panik geschürt wird. Natürlich müssen wir schauen, wie sich das weiterentwickelt. Aber Fakt ist, dass die Rechnungsabchlüsse der letzten Jahre mit zwei kleinen Ausnahmen viel besser als prognostiziert abgeschlossen haben. Die angeblichen roten Zahlen der Stadt sind ein Mythos. Wir sind safe unterwegs.
Ist die Stadt finanzpolitisch safe unterwegs, Melanie Mettler?
Melanie Mettler: Finanzpolitisch sind wir nicht nachhaltig. Man verlangt nicht zu sparen, weil es Freude macht. Und der Staat muss für die Aufgaben, die wir ihm politisch übertragen, das Geld zur Verfügung stellen können. Aber wenn wir uns jetzt finanzpolitisch so verhalten, dass die, die nach uns kommen, keinen Handlungsspielraum mehr haben, ist das kein verantwortungsvolles Regieren. Die aktuelle rot-grüne Regierung sagt selber, sie halte ihre eigenen finanzpolitischen Ziele nicht ein. Und das angesparte Eigenkapital sei in zwei Jahren wieder aufgebraucht. Dann wird die Regierung entscheiden müssen, ob es als Konsequenz eine Steuererhöhung gibt oder eine rigorose Sparübung.
Ursina Anderegg: Was wären deine Antworten darauf? Dass man jetzt spart, um Schulden zu vermeiden? Meine Antwort ist: Wir müssen jetzt investieren. Es ist kein Problem, wenn wir uns temporär höher verschulden. Es werden Zeiten kommen, in denen wir die Schulden wieder abbauen können. Die Stadt hat für nächstes Jahr Investitionen von 150 Millionen Franken eingeplant. Wir leihen Geld aus, um das stemmen zu können. Aber wir schaffen damit einen Wert durch eine gute Infrastruktur, die der Bevölkerung zugute kommt.
Melanie Mettler: Staatliche Verschuldung ist an sich nicht problematisch. Aber es gibt eine Grenze: Wenn die Verschuldung nicht zusätzlichen Handlungsspielraum gewährt, sondern ihn einschränkt. Die Stadtregierung schreibt in ihrem eigenen Schuldenbericht, dass wir jetzt an dieser Grenze stehen. Ich anerkenne, dass Rot-Grün-Mitte finanzpolitisch bis 2015 frühere Fehler ausbügeln musste. Aber jetzt habt ihr zehn Jahre lang nichts anderes gemacht, als uns wieder in dieselbe Situation hineinzumanövrieren.
Ursina Anderegg: Dass das Finanzvermögen in zwei Jahren aufgebraucht sein wird, hört man seit Jahren. Eingetroffen ist es nicht. Vor wenigen Jahren, als wir ebenfalls Reserven von über 100 Millionen Franken hatten, waren du und deine Partei dafür, Steuern zu senken. Eine seriöse Finanzpolitik heisst für mich, Jahr für Jahr hinzuschauen, was effektiv passiert. Vielleicht merkt man in der übernächsten Rechnung, dass es jetzt wirklich wieder eng wird. Dann muss man anfangen, über Sparpakete zu reden. Aber im Moment sind die Reserven voll.
Melanie Mettler: Wenn wir uns über die Fakten einig wären, fänden wir sicher zusammen Lösungen. Aber momentan sehen wir nicht einmal die Ausgangslage gleich. Du sagst, wir können in der nächsten Legislatur politisch frei entscheiden, wie wir das Geld ausgeben wollen. Und ich gehe – gestützt auf Quellen, denen ich vertraue – davon aus, dass diese Handlungsfreiheit nicht gegeben ist.
Ursina Anderegg: Du hast einen Schuldenbericht von 2020 angeschaut.
Melanie Mettler: Nein, ich habe den aktuellen Schuldenbericht angeschaut.
Ursina Anderegg: Es war wohl schon ein älterer Bericht.
Melanie Mettler: Nein, war es nicht, Ursina. Das musst du mir jetzt nicht unterstellen. Wenn wir zusammen in der Regierung wären, hätten wir dieselbe Entscheidungsgrundlage. Und ich bin sicher, dass wir da zusammen Prioritäten setzen könnten.
Wenn die Stadt sparen muss, wo würden Sie als Gemeinderätin ansetzen, Frau Mettler?
Melanie Mettler: Sparen ist nicht trivial. Sicher nicht sinnvoll wäre es, bei wichtigen Aufgaben des Staates abzubauen, etwa bei der Kultur, im Sozialen oder bei der Bildung. Das wäre weder eine gute Investition in die Zukunft, noch würde es volkswirtschaftlich Sinn machen. Sparen kann man dort, wo wir uns an einen Konsum gewöhnt haben, der nicht unbedingt mehr Lebensqualität bringt. Mein Hauptfokus aber wäre ein anderer.
Welcher?
Melanie Mettler: Mehr auf die ungenutzten Chancen bei den Einnahmen zu setzen. Die Stadt schöpft ihr Potenzial als Wirtschaftsmotor bei weitem noch nicht aus.
Frau Anderegg, wenn Sie sparen müssten: Könnten Sie das überhaupt?
Ursina Anderegg: Wir haben in den letzten vier Jahren gespart. Deshalb: Ja, ich wüsste, wie es geht. Für das letzte Sparpaket hat man in jeder Direktion wirklich jeden Bleistift umgedreht. Aber man darf sich nichts vormachen: Die Stadt erledigt sehr viele Aufgaben im Auftrag der übergeordneten Ebenen Kanton und Bund. Beispielsweise im Bildungs- oder im Sozialbereich. Da ist der Spielraum zum Sparen klein.
Aber die Stadt hat schon auch eigene Ausgaben.
Ursina Anderegg: Die sogenannten freiwilligen Aufgaben. Aber das sind eben nicht die, die gross einschenken. Es handelt sich um verhältnismässig kleine Beträge, die aber oft eine positive Wirkung haben. Zum Beispiel niederschwellige Unterstützungsangebote in der Armutsbekämpfung, die einen grossen Impact haben, weil Menschen davor bewahrt werden, in die Armut zu fallen. Das ist nachhaltig, auch finanzpolitisch. Deshalb stehe ich dem Sparen kritisch gegenüber.
Melanie Mettler: Rasenmäher-Sparübungen machen keinen Sinn, da bin ich einig mit dir. Aber wir müssen überprüfen, wo die Politik Rahmenbedingungen gesetzt hat, die Kosten verursachen, ohne zusätzliche Lebensqualität oder volkswirtschaftlichen Nutzen zu bringen.
Sie sagten vorhin, der Wirtschaftsstandort Bern müsste noch mehr aufblühen. Wo würden Sie als Gemeinderätin den Hebel ansetzen?
Melanie Mettler: Ich würde vor allem Beziehungen pflegen und zwischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft das Verständnis und den Dialog fördern, damit wir schneller vorwärts kommen. Das ist im Kern die Aufgabe der nächsten Legislatur. Zudem lösen bestimmte Stadtratsbeschlüsse – zum Beispiel das Werbeverbot im Aussenraum – bei Wirtschaftsvertreter*innen Konsternation aus. Sie erkennen sich in der Politik nicht wieder und fühlen sich nicht wertgeschätzt. Mir ist klar, dass man die Arbeit des Stadtrats nicht auf solche Entscheide reduzieren darf. Aber wir müssen daran arbeiten, das gegenseitige Verständnis zu verbessern.
Die rot-grüne Mehrheit ist oft mit dem Vorwurf konfrontiert, sie verstehe nichts von Wirtschaft, Frau Anderegg.
Ursina Anderegg: Man muss zuerst klarstellen, was man mit Wirtschaft genau meint. Es ist ein Unterschied, ob ich mit dem CEO eines Grosskonzerns zu tun habe oder ob es darum geht, dem lokalen Gewerbe gute Rahmenbedingungen zu schaffen.
Reden wir von den Rahmenbedingungen für das lokale Gewerbe.
Ursina Anderegg: Bei mir stünde die klimapolitische Sicht im Vordergrund. Konsum und Produktion von Gütern sowie die Ernährung sind mächtige Hebel dafür. Wir haben in der Stadt Bern sehr viele Leute, auch aus der Wirtschaft, die sich da engagieren. Die innovativ unterwegs sind, Ansätze der Kreislaufwirtschaft fördern oder die lokale und regionale Produktion. Da muss die Stadt genau und differenziert hinschauen, wo es was braucht, damit die Menschen möglichst kurze Wege zurücklegen können, um an die Güter zu gelangen, die sie brauchen.
Melanie Mettler: Die Wege sind unheimlich kurz, das macht Bern einzigartig. Wir haben nicht nur die Stadtregierung und -verwaltung in Gehdistanz, sondern auch Kanton, Bund und sogar die internationalen Vertretungen. Das ist ein riesiges Potenzial, das die Stadt nutzen muss für die wirtschaftliche Transformation. Wir brauchen diese Innovationskraft, die uns an den Punkt bringt, wo sich nachhaltiges Wirtschaften lohnt, und zwar für kleine wie grössere Unternehmen. Da können wir wirklich vorwärts machen.
Fehlt es nicht an Grundsätzlicherem? Von der Wirtschaft kommt die Kritik, in der Stadt dauerten die Bewilligungsverfahren zu lange, die Verwaltung sei zu wenig offen für Unternehmer*innen.
Melanie Mettler: Ich denke, die Offenheit für das Unternehmerische ist bei der Verwaltung schon da. Aber als Unternehmer*in ist man einfach mit einer komplizierten Bürokratie konfrontiert, man muss bei unzähligen Ansprechpersonen anklopfen. Bis zu einem gewissen Grad ist das unvermeidlich. Gleichzeitig könnte die Verwaltung ihre Prozesse, auch mit der fortschreitenden Digitalisierung, noch mehr aus der Perspektive derjenigen denken, die Gesuche stellen, damit sie besser durch den Dschungel kommen. Das wären lohnende Dienstleistungs-Investitionen.
Ursina Anderegg: Das kostet halt einfach, man muss Stellen ausbauen.
Melanie Mettler: Man kann es einfach besser machen.
Ursina Anderegg: Es gibt viele Ansätze, die man vorantreiben könnte, zum Beispiel die Digitalisierung innerhalb der Stadtverwaltung. Das sind aber riesige Übungen, und da braucht es genug Personal, um so weit zu kommen, dass es am Schluss eine Erleichterung gibt.
Reden wir noch über den Verkehr. Wird in der Stadt Bern zu viel gemacht für den Velo- und zu wenig für den Wirtschaftsverkehr?
Melanie Mettler: Nein, finde ich nicht. Der Verkehr muss der Stadt, dem vorhandenen Raum und der Bevölkerung angemessen sein. Es geht nicht um eine Vorstellung von Mobilität aus den 1970er-Jahren. Was wir aktuell haben, ist ein Missverhältnis zwischen Freizeitverkehr und Gewerbeverkehr.
Was meinen Sie damit?
Melanie Mettler: Ich gebe ein Beispiel aus der Länggasse. Die Parkplätze, die zu den Wohnungen gehören, und das sind nicht wenige, sind für gutes Geld vermietet an Pendlerinnen und Pendler, die nach Bern zur Arbeit kommen. Die Haushalte, die noch ein Auto haben, stellen es günstig mit Anwohner*innenkarte in der blauen Zone ab. Wenn jetzt aber der Sanitär kommt, um den Abfluss zu entstopfen, findet er keinen Platz in der blauen Zone. Solche Konflikte gibt es. Da müssen wir Fortschritte machen.
Ursina Anderegg: Ich gehe einig mit Melanie, das Verhältnis des unnötigen, privaten, motorisierten Verkehrs gegenüber dem Gewerbeverkehr ist schlecht. Es gibt ja offensichtlich viele Leute, die innerhalb der Stadt mit dem Auto aus ihrem Quartier in einen anderen Stadtteil oder in die Innenstadt fahren. Und Leute, die reinfahren zum Shoppen. Wir müssen vor allem den Individualverkehr reduzieren.
Der aktuelle rot-grüne Gemeinderat unterstützt den Ausbau des Autobahn-Zubringers Wankdorf. Würden Sie das rückgängig machen, Ursina Anderegg?
Ursina Anderegg: Ja, auf jeden Fall. Autobahnausbau ist wirklich aus den 50er-Jahren. Ich finde, dagegen müssen sich die Städte wehren.
Und Sie, Frau Mettler?
Melanie Mettler: Die Menschen in der Stadt Bern sollen sich bewegen dürfen. Und ich finde es auch richtig, dass es die verschiedenen Verkehrsformen gibt. Es gibt auch Gründe, warum man ein Auto braucht. Das finde ich völlig in Ordnung. Aber Kapazitätsausbau bei den Autobahnen bedeutet immer mehr Verkehr. Nicht flüssigeren Verkehr, sondern einfach mehr Verkehr. Darum ist das keine sinnvolle Zukunftsstrategie. Besonders das Projekt mit dem Spaghetti-Teller im Wankdorf…
...Sie meinen damit den geplanten Umbau des Autobahn-Zubringers…
Melanie Mettler: …genau. Das ist gerade für die Möglichkeiten von Bern nicht gut geplant. Wir sind eine so kleine Stadt, wer gut zu Fuss ist, kommt sehr weit. Aber bei diesem Spaghetti-Teller wird es zu Fuss und mit dem Velo noch komplizierter als jetzt schon. Es kann nicht sein, dass die Stadt Bern meint, so vorwärts zu machen.
Wenn Sie in den Gemeinderat gewählt würden, welche Direktion möchten Sie übernehmen?
Melanie Mettler: Der Gemeinderat funktioniert nach dem Kollegialitätsprinzip. Persönliche Meinungen sind geheim, und die Mitglieder vertreten die Mehrheitsmeinung des Gremiums. Aber ich bin Kandidatin fürs Stadtpräsidium und darum ist es natürlich mein Wunsch, dass ich die Präsidialdirektion übernehmen kann.
Ursina Anderegg: Ich kann mir grundsätzlich alle Direktionen vorstellen. Ich sehe überall Hebel, mit denen ich unsere Politik vorantreiben kann.
Auch in der Sicherheitsdirektion?
Ursina Anderegg: Es gibt auch eine linke Sicherheitspolitik (lacht).
Gewählt wird am 24. November. Am Sonntagmorgen ist der Wahlkampf vorbei, man kann nur noch warten. Wie verbringen Sie den Vormittag?
Melanie Mettler: Ich habe in letzter Zeit so viele Abstimmungs-Sonntage mitverfolgt, dass es wirklich schon fast ein Ritual ist. Am Morgen werde ich zuhause zmörgelen mit meinem persönlichen Umfeld und Zeit verbringen mit Kindern. Die interessieren sich überhaupt nicht für Politik. Oft gehe ich am Sonntag kurz vor 12 Uhr noch an die Urne. Und dann wohl direkt weiter ins Lokal, wo die Partei sich trifft, um zusammen auf das Resultat zu warten.
Ursina Anderegg: Ausser Kaffee trinken habe ich es mir noch gar nicht genau überlegt. Ich glaube, ich muss spontan entscheiden, was mir gut tut. Ich kann im Moment auch nicht einschätzen, wie nervös ich sein werde.