Nahost – wie finden wir aus unserer Überforderung?

Wie schaffen wir trotz Antisemitismus- und Islamophobie-Vorwürfen Raum für eine konstruktive Auseinandersetzung? Das diskutieren wir am «Hauptsachen»-Talk vom 29. April im Progr mit Geschichtsprofessorin Stefanie Mahrer.

Hauptsachen Takk fotografiert am 03. November 2022 in der berner Turnhalle für die Hauptstadt. (simonboschi.ch / hauptstadt.be)
Konstruktive Diskussion: Das will die «Hauptstadt» mit dem «Hauptsachen»-Talk. (Bild: Simon Boschi)

Der terroristische Überfall der Hamas gegen Israel und die seither andauernde militärische Reaktion Israels im Gaza-Streifen verhärten die Stimmung auch in Bern.

Die lokale Kürzestzusammenfassung der letzten Monate lautet: Judenfeindliche Übergriffe sowie rassistische Vorfälle gegen Muslime haben zugenommen. Gleichzeitig wird der Antisemitismusvorwurf mitunter wie eine Keule geschwungen. Und manchmal instrumentalisiert, teilweise von islamophoben Kreisen.

Zur Versachlichung hier die Chronologie der wichtigsten Ereignisse in Bern seit dem 7. Oktober 2023:

  • Zytglogge: Sechs Tage nach dem Angriff der Hamas lässt die Stadt Bern aus Solidarität den Zytglogge in den Farben Israels illuminieren. Gleichzeitig bewilligt sie eine propalästinensische Demonstration. Das löst erste Kontroversen aus.
  • Hamas-Tweet: Die Universität Bern entlässt Mitte Oktober einen Dozenten, nachdem er auf X Posts abgesetzt hat, die den Terror der Hamas verherrlichen. Nach einer Administrativuntersuchung beschliesst die Universität zudem, das Institut für Studien zum Nahen Osten und zu muslimischen Gesellschaften aufzulösen. Es soll neu ausgerichtet werden.
  • Baba News: Das kleine Onlineportal Baba News veröffentlicht Mitte Oktober einen Podcast, in dem es die Lage der Palästinenser*innen in Gaza beleuchtet, aber den Angriff der Hamas kaum erwähnt. Das löst einen Sturm der Empörung aus. Dieser verstärkt sich, weil die Redaktion auf Social Media aktivistische propalästinensiche Inhalte postet. Der Kanton beendet die Zusammenarbeit mit Baba für ein anderes Podcast-Projekt. Und die Hate-Speech-Prävention, die Baba News in Berner Schulen durchführt, gerät in die Kritik.
  • Demoverbot: Nach zwei grossen propalästinensischen Demonstrationen, an denen vereinzelt antisemitische und islamistische Plakate konfisziert werden, entscheidet die Berner Stadtregierung, in der Innenstadt ab Mitte November bis nach Weihnachten keine grossen Kundgebungen mehr zu bewilligen. Gegen dieses «faktische Demoverbot» erheben SP und Grüne Beschwerde beim Regierungsstatthalteramt. Der Entscheid ist hängig.
  • Einschüchterung: An der Primarschule im Bethlehemacker kreist Mitte Dezember eine Schüler*innengruppe in der Pause eine Lehrperson ein und schüchtert sie mit religiösen Sprüchen wie Allah-u-akhbar ein.
  • Schulen: Anfang März 2024 gelangt eine aus jüdischen und nicht-jüdischen Eltern zusammengesetzte Gruppe an die städtische und kantonale Bildungsdirektion: Sie haben antisemitische Vorfälle an Schulen namentlich in der Stadt Bern zusammengetragen, die ein «noch nie dagewesenes Ausmass» erreicht hätten.
  • Statistik: Mitte März schreibt die Beratungsstelle Gemeinsam gegen Gewalt und Rassismus, sie erhalte seit Oktober 2023 vermehrte Meldungen über Vorfälle von Antisemitismus, Rassismus, Xenophobie und Diskriminierung. Die Meldestelle für antisemitische Vorfälle des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) registriert im Kanton Bern seit Oktober knapp ein Dutzend Fälle von Antisemitismus, von Schmierereien bis zu Drohbriefen. Das schreibt die Jüdische Allgemeine.
  • Stadtparlament: Stadträt*innen von links bis rechts reichen Mitte März Vorstösse ein, mit denen sie verlangen, dass die Stadtbehörden im Kampf gegen Antisemitismus, namentlich an Schulen, dezidierter vorangehen sollen. Unter anderem wird vorgeschlagen, die Stelle einer Antisemitismus-Beauftragten einzurichten. 
  • Kantonsparlament: Mitte März reicht Grossrätin Rahel Ruch (Grüne) eine Motion ein, mit der sie vom Kanton einen Aktionsplan gegen Antisemitismus verlangt. Sie fordert eine Bestandesaufnahme vorhandener Massnahmen und allfälliger Lücken. Unter anderem schlägt sie eine kantonale Meldestelle für antisemitische Vorfälle vor. Es fehle, so Ruch, im Kanton Bern an Auseinandersetzung mit Antisemitismus, viele Personen seien offenbar nicht in der Lage, antisemitische Denkfiguren zu erkennen.
  • Versprayte Moschee: Ende März, im Fastenmonat Ramadan, wird eine Moschee in Ostermundigen mit islamfeindlichen Sprüchen versprayt. Der Islamische Kantonalverband Bern hält fest, dass muslimfeindliche Übergriffe seit der Zuspitzung des Nahost-Konflikts zugenommen hätten.
Impressionen der Medienkonferenz der Universitaet Bern zu den Vorgaengen rund um das Institut fuer Studien zum Nahen Osten und zu muslimischen Gesellschaften (ISNO), fotografiert am Dienstag, 17. Oktober 2023 in Bern. (Hauptstadt / Manuel Lopez)
17.10.2023: Die Uni-Leitung erläutert die Massnahmen zum Nahost-Institut. (Bild: Manuel Lopez)

Alle distanzieren sich von Antisemitismus und Rassismus. Und doch sind Antisemitismus und Rassismus in der Gesellschaft sehr präsent.

Der Berner Historiker Bernhard C. Schär schrieb kürzlich in der «Republik»: Konsens bestehe darin, dass Antisemitismus inakzeptabel und zu bekämpfen sei. «Wo sich die Geister scheiden, ist bei der Frage nach Ursache und Verantwortung.»

Das will der «Hauptsachen»-Talk

Verschwörungstheorien, teilweise uralt, und Antisemitismus sind oft eng verbunden. Das verstärkt das Gefühl der Überforderung, das viele Menschen angesichts des Kriegs in Gaza und der überhitzten Stimmung spüren. Was ist antisemitisch, was nicht? Wer hat die Definitionsmacht? Was sind Fakten, was ist Ideologie? Kann man Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung zeigen, ohne antisemitisch zu sein? 

Aus Angst, etwas falsch zu machen, macht und sagt man gar nichts mehr. 

Mit dem «Hauptsachen»-Talk will die «Hauptstadt» einen Beitrag dazu leisten, konstruktive Auswege aus dieser Überforderung zu finden.

Das mag in der aktuellen Stimmung anspruchsvoll wirken. Aber man kann es auch heller und leichter sehen. Antisemitismus ist ein höchst spannendes Thema, das nicht nur mit dem Grauen der Nazi-Zeit zu tun hat. Und schon gar nicht ausschliesslich mit Religion. Sondern sehr viel mit uns. Damit, wie unsere Gesellschaft heute funktioniert. Wie wir mit Nachrichten und Ideologien umgehen. Was historisch gesehen unsere Alltagskultur prägt. Welche Narrative sich durchsetzen.

Stefanie Mahrer setzt sich intensiv mit solchen Fragen auseinander. Sie ist Professorin für neuere und neueste Geschichte in Bern und Basel. Sie forscht zur jüdischen Geschichte und Kultur im deutschsprachigen Raum und im Nahen Osten. Sie sass als Wissenschaftlerin im Beirat der Bührle-Ausstellung in der Kunsthalle Zürich. Zu Mahrers Spezialgebieten gehören auch Verschwörungstheorien. 

«Antisemit*innen sind immer die anderen.» Diese Haltung präge die öffentliche Auseinandersetzung, sagt sie. Darüber diskutiert Stefanie Mahrer mit «Hauptstadt»-Journalist Jürg Steiner am «Hauptsachen»-Talk vom 29. April (19.30 Uhr, Progr, Kleine Bühne, Eintritt frei, Anmeldung gerne an: [email protected]).

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