Verloren inmitten von Kleidern

Das Stück «#lookoftheday» bei Bühnen Bern setzt sich mit der schnelllebigen Modewelt auseinander. Und hat damit ein sehr junges Publikum gefunden.

Bern 2.5.2025 -  GP zu #lookoftheday, ein globales Rechercheprojekt in Kooperation mit dem Magazin Reportagen © Annette Boutellier

Regie: Gernot Grünewald
Recherche:
Bühne: Michael Röpke
Kostüme: Ariane Königshof
Licht: Hanspeter Liechti
Video: Monja Lalotra
Musik: Daniel Sapir
Dramaturgie: Hannah Pfurtscheller, Elisa Elwert

Darsteller:innen: Genet Zegay, Jeanne Devos, Lou Haltiner, Fritz Manheke
Wer sind wir ohne Mode? Haufenweise Altkleider prägen das Bühnenbild. (Bild: Annette Boutellier/Bühnen Bern)

Zuletzt bleibt auf der Bühne ein riesiger Haufen aus Altkleidern zurück. Und in den Köpfen? «Eindrückliche Zahlen», sagen die beiden Gymnasiastinnen Carla und Clara. Sie haben das Theaterstück «#lookoftheday» in den Vidmarhallen gemeinsam mit ihrer Klasse besucht. Und waren dabei nicht die einzigen jungen Menschen: In der ausverkauften Vorstellung sitzen an jenem Abend weit über hundert Schüler*innen. Die Produktion werde von Schulklassen richtiggehend überrannt, sagt Felicitas Zürcher, Chefdramaturgin bei Bühnen Bern.

Was nehmen Jugendliche aus diesem Theaterstück, das sich mit der schnelllebigen Welt der Mode, mit den omnipräsenten Posts auf Social Media und mit Influencer*innen auseinandersetzt? Und warum trifft «#lookoftheday», das auf einer Recherche des Magazins «Reportagen» beruht und so auch dokumentarische Inhalte vermittelt, einen Nerv?

Um das herauszufinden, habe ich mit meiner Teenager-Tochter eine Vorstellung besucht. Sie setzt sich kritisch mit Phänomenen wie dem chinesischen Onlinehändler Shein auseinander, kauft aber auch mal Kleider bei H&M. #lookoftheday sagt ihr, wie den meisten ihrer Generation, etwas: Es ist ein Hashtag, der gerne von Influencer*innen gebraucht wird, um ihren aktuellen Style auf Social Media zu präsentieren.

Bern 2.5.2025 -  GP zu #lookoftheday, ein globales Rechercheprojekt in Kooperation mit dem Magazin Reportagen © Annette Boutellier

Regie: Gernot Grünewald
Recherche:
Bühne: Michael Röpke
Kostüme: Ariane Königshof
Licht: Hanspeter Liechti
Video: Monja Lalotra
Musik: Daniel Sapir
Dramaturgie: Hannah Pfurtscheller, Elisa Elwert

Darsteller:innen: Genet Zegay, Jeanne Devos, Lou Haltiner, Fritz Manheke
Allein und auf Sendung in vier unterschiedlichen Zellen. (Bild: Annette Boutellier/Bühnen Bern)

Der Zuschauerraum ist voll, die Bühne leer und aufgeräumt. Aber nur in den ersten paar Minuten der zweistündigen Inszenierung von Regisseur Gernot Grünewald. Dann verteilen die vier Schauspieler*innen, die kurz zuvor unkenntlich unter Lumpen verborgen ins Rampenlicht traten, nach Herzenslust Altkleider auf der Bühne. So viele Kleider.

Dazu wird das Publikum mit Zahlen bombardiert. Zum Beispiel, dass in der Schweiz jedes Jahr 100’000 Tonnen Altkleider anfallen. Dass wir alle durchschnittlich 120 Kleidungsstücke besitzen. Das heisst: «Insgesamt liegen 36’000 Kleidungsstücke in unseren Schränken», wie Schauspielerin Genet Zegay zum etwa 300-köpfigen Publikum sagt. Viele davon würden nur drei oder vier Mal getragen. So viele Zahlen.

Verloren in übergrossen Screens

Noch bevor sie verdaut sind, wechseln die vier Darsteller*innen – neben Zegay sind das Jeanne Devos, Lou Haltinner und Fritz Manhenke – in vier durch transparenten Stoff abgetrennte Zellen. Es könnten Zimmer sein, Umkleidekabinen oder Handyscreens (Bühne: Michael Köpke).

In Übergrösse erscheinen die vier nun in typischer Instagram-Manier, reden affektiert mit einem fiktiven Gegenüber jenseits des Screens, das sich doch bitte über Kommentare beteiligen soll. Es ist die virtuelle Welt von Social Media, die uns so vertraut ist. In der wir uns verlieren können – an diesem Abend und bei dieser Übergrosse wortwörtlich.

Bern 2.5.2025 -  GP zu #lookoftheday, ein globales Rechercheprojekt in Kooperation mit dem Magazin Reportagen © Annette Boutellier

Regie: Gernot Grünewald
Recherche:
Bühne: Michael Röpke
Kostüme: Ariane Königshof
Licht: Hanspeter Liechti
Video: Monja Lalotra
Musik: Daniel Sapir
Dramaturgie: Hannah Pfurtscheller, Elisa Elwert

Darsteller:innen: Genet Zegay, Jeanne Devos, Lou Haltiner, Fritz Manheke
Im Stück wird sehr stark mit der Handy-Ästhetik gearbeitet. (Bild: Annette Boutellier/Bühnen Bern)

Regisseur Grünewald arbeitet gerne dokumentarisch und mit persönlichen Anknüpfungspunkten. Und so sind auch selbst verfasste Texte der Schauspieler*innen Teil der Inszenierung. Zum Beispiel, wenn sich Zegay fragt, wie sie eigentlich ihren eigenen Stil gefunden hat. Und warum es Kleider dafür überhaupt braucht. Oder die gebürtige Appenzellerin Jeanne Devos über ihren eigenen Bezug zur Geschichte der Baumwollhändler-Familie Zellweger aus Appenzell spricht. Es sind lustvolle und eindringliche Szenen.

Und – wie fast immer in diesem Stück – atemlos präsentiert. Oftmals in Handy-Ästhetik, wenn die Schauspieler*innen selbst filmen und diese Szenen direkt auf die Screens übertragen werden. Wie viel Infos kann man überhaupt in 120 Minuten packen? Und wie viele kann man als Publikum verarbeiten?

Bern 2.5.2025 -  GP zu #lookoftheday, ein globales Rechercheprojekt in Kooperation mit dem Magazin Reportagen © Annette Boutellier

Regie: Gernot Grünewald
Recherche:
Bühne: Michael Röpke
Kostüme: Ariane Königshof
Licht: Hanspeter Liechti
Video: Monja Lalotra
Musik: Daniel Sapir
Dramaturgie: Hannah Pfurtscheller, Elisa Elwert

Darsteller:innen: Genet Zegay, Jeanne Devos, Lou Haltiner, Fritz Manheke
Die Wissensvermittlung bildet den Boden des Stücks. (Bild: Annette Boutellier/Bühnen Bern)

Denn in «#lookoftheday» gibt es auch viel Wissensvermittlung. Es muss sie geben, da ja auch die weltweiten Recherchen, die das Magazin «Reportagen» zu Fast Fashion gemacht hat, mit eingeflossen sind. Sie bilden den Boden des Stücks, geben den historischen Hintergrund. Da wird auch mal ein Interview mit einem indischen Baumwollbauern eingespielt. Die Logik des unglaublich billigen, unglaublich effizienten und unglaublich erfolgreichen chinesischen Online-Händlers Shein sehr anschaulich erklärt. Oder der komplizierte Begriff des Dreieckhandels dem Publikum choreografisch eingetrichtert.

Dieses Stück ist Geschichte, Geografie, Politik und Wirtschaft in einem. So viel Vermittlung. Aber zum Glück blitzt nur ab und zu etwas Moral auf.

Was sagen die Jugendlichen?

«Ich gebe vier von fünf Sternen», sagt eine Teenagerin beim Herauslaufen. Ihre Schulkollegin entgegnet: «Es war wohl schon toll, aber nicht so mein Thema.» Und eine dritte meint: «Es war viel zu viel Info, ich konnte gar nicht folgen.»

Die beiden Gymnasiastinnen Carla und Clara sind beeindruckt. Sie wollen in Zukunft mehr schauen, woher ihre Kleider kommen. Und sie länger tragen. «Eigentlich wissen wir alle viel zu wenig über dieses Thema», bilanzieren sie.

«Spannender als in der Schule», findet meine Teenager-Tochter. «Es ist schon schlimm. Und wir wissen so wenig darüber.» Sie würde das Stück allen Jugendlichen empfehlen.

Nur haben einige davon an diesem Abend hörbar Mühe, dem Stück 120 Minuten zu folgen. Und werden von den Schauspieler*innen charmant darauf hingewiesen, sich doch bitte ruhiger zu verhalten und zuzuhören. Fast wie in der Schule. Aber doch viel cooler.

Das Stück «#lookoftheday» läuft noch bis 22. Juni in der Vidmar 1.

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