Burgergemeinde Spezial

Die Gewerkschaften des Alten Bern

Die Zünfte sind die direkteste noch existierende Verbindung der Bernburger*innen zum mächtigen, aristokratischen Alten Bern. Sie sind leiser als die Zürcher Zünfte, aber bis heute zentral für das bernburgerliche Selbstverständnis.

Zünfte in der Stadt Bern, fotografiert am Montag, 15. November 2021 in Bern. (Jana Leu)
Immer noch an der Fassade in der Kramgassse, obschon die Zunft den Namen geändert hat: Das Wahrzeichen der früheren Zunft zum Mohren, die heute Zunft zur Schneidern heisst. (Bild: Jana Leu)

In Zürich spannen die im Mittelalter gegründeten Zünfte einmal im Jahr in der linksregierten Grossstadt den bürgerlichen Machtmuskel. Immer im April organisieren sie den Sechseläuten-Umzug und defilieren in historischen Gewändern, hoch zu Ross oder zu Fuss, durch die Stadt.

Für die politische, wirtschaftliche, kirchliche und kulturelle Elite ein absoluter Pflichttermin. In der Regel wird auch eine Vertretung des Bundesrats aufgeboten. Dieses Jahr winkte Elisabeth Baume-Schneider (SP) mit der Constaffel-Zunft ins Publikum.

Es ist eine Demonstration von Selbstbewusstsein, Geld, Einfluss. «Schön, dass Zürich für einen Tag ein bisschen bürgerlich ist», sagte Alt-SVP-Bundesrat Ueli Maurer, er war, obschon zurückgetreten, 2023 als Ehrengast dabei.

Sturmerprobte Institutionen

Auch Bern hat mittelalterliche Zünfte. Sie nennen sich meist Gesellschaften und sind 13 an der Zahl. Aber ein jährliches Spektakel wie den Sechseläuten-Umzug kann man sich von ihnen nicht vorstellen.

Die Berner Zünfte, deren Angehörige alle auch Burger*innen sind, verhalten sich diskreter. Was nicht bedeutet, dass sie keinen Einfluss hätten. Schliesslich entstammen sie dem Mittelalter, als das Alte Bern der mächtigste Stadtstaat nördlich der Alpen und eine grosse Nummer in Europa war.

Vor dem Einmarsch Frankreichs im Jahr 1798 regierte eine schmale Schicht von 75 Patrizierfamilien aus ihrem Machtzentrum in der Altstadt den reichen Staat Bern. Dann fegte die demokratische Revolution diese aristokratische Machtstruktur weg. Die heutige Burgergemeinde Bern entstand erst 1833 und verwahrt sich dezidiert dagegen, eine Fortsetzung des Ancien Régime zu sein. 

Die Zünfte hingegen, die es schon im Alten Bern gab, überlebten alle politischen Stürme des 19. Jahrhunderts bis heute. Sie sind das direkteste Erbe der Bernburger*innen aus dem Alten Bern.

Hochgearbeitet an die Macht

Zünfte kamen im 14. oder 15. Jahrhundert auf, als Vereinigungen von Berufsleuten oder Handwerkern. Sie verstanden sich allerdings nicht als Handlanger der Mächtigen, sondern auch als Opposition gegen die herrschenden Patrizierfamilien. Sie kämpften hartnäckig um politische Teilhabe. Der Berner Adel, der die Zügel routiniert in der Hand hatte, fühlte sich bedroht.

«Heutzutage würde man wohl von einer Gewerkschaft sprechen», sagte Giorgio Albisetti, bis 2020 Präsident der Gesellschaft zu Pfistern, in einem Interview, als er über die historische Rolle seiner Zunft befragt wurde.

Zünfte in der Stadt Bern, fotografiert am Montag, 15. November 2021 in Bern. (Jana Leu)
Das Wahrzeichen der Zunft zum Affen, die einst von den Steinmetzen gegründet wurde. (Bild: Jana Leu)

Die Berner Zünfte arbeiteten sich über die Jahrhunderte hoch zu erheblichem Einfluss im Alten Bern. Das gilt vor allem für die vier sogenannten Venner-Zünfte (Pfistern, Schmieden, Metzgern, Ober-Gerwern). Sie stellten in den historischen Stadtvierteln Beamte, die für den Draht zur Regierung zuständig waren.

Die historische Hierarchie gilt bis heute, wenn man die Berner Zünfte auf einer Liste korrekt aufzählen will. Zuerst kommt die adlige Gesellschaft zum Distelzwang, danach folgen die vier Venner-Zünfte, ehe die «gemeinen Zünfte» folgen. Auch die «Hauptstadt» wird sich im folgenden an diese Hierarchie halten.

Eine Zunft ist eine Gemeinde

Bern hat im Unterschied zu anderen Zunftstädten eine Besonderheit konserviert: Die Zünfte in Bern sind nicht wie etwa in Zürich zu Vereinen degradiert, sondern eigenständige Gemeinden mit «Regierung» und «Gemeindeversammlung» geblieben.

Das ermächtigt sie, institutionelle Aufgaben wahrzunehmen. So übernehmen sie die Sozialhilfe für Zunftgenoss*innen, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Bis vor 10 Jahren gehörten auch vormundschaftliche Aufgaben dazu, die heute in der burgerlichen Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde zusammengezogen sind. Die meisten Zünfte zahlen ihren Angehörigen, wenn sie Eltern sind, zusätzliche Erziehungsbeiträge aus oder unterstützen Ausbildungen. 

Weil die Zünfte (wie die Burgergemeinde auch) keine Steuern erheben dürfen, finanzieren sie diese Ausgaben in der Regel, indem sie ihren Liegenschaftsbesitz bewirtschaften.

Diese auf burgerlichen Daten von 2019 basierende Karte zeigt, wo neben der Burgergemeinde (rot) auch die Zünfte (blau) Häuser in der Stadt Bern besitzen.

Die Frage, die sich automatisch stellt: In welchem Beziehungsstatus stehen die Zünfte zur Burgergemeinde? Die Antwort: Der Status ist kompliziert, zumindest für Aussenstehende.

Türöffner der Einburgerung

Zünfte gehören zwar zur Welt der Bernburger*innen, aber sind keine Filialen der Burgergemeinde. Sondern eigenständige Korporationen, deren Entscheide die Burgergemeinde nicht beeinflussen kann. Trotzdem bestehen enge Verbindungen: Alle Zünftler*innen sind auch Burger*innen, einige haben ein Amt sowohl in der Zunft wie in der Burgergemeinde.

Zünfte in der Stadt Bern, fotografiert am Montag, 15. November 2021 in Bern. (Jana Leu)
Das Emblem des Vereins für Burger*innen, die keiner Zunft angehören: der Burgergesellschaft. (Bild: Jana Leu)

Wenn sich Personen einburgern lassen wollen, spielen die Zünfte eine wichtige Rolle, wie dieser Artikel der «Hauptstadt» aufzeigt. Wobei es auch möglich ist, Burger*in zu werden ohne Zunftzwang. Zunftlose Burger*innen können sich der Burgergesellschaft anschliessen.

Historisches Erbe

Selten werden die Zünfte zum Gegenstand öffentlicher Debatten. Eine jüngere Ausnahme ist die Zunft zur Schneidern, die heftig mit ihrem historischen Erbe zu kämpfen hatte. Die Vereinigung der Schneider und Tuchscherer hiess Zunft zum Mohren und wurde jahrelang mit Rassismusvorwürfen konfrontiert. Vor allem jüngere Zunftangehörige hatten Mühe, sich noch mit der Zunft zu identifizieren.

Deshalb änderte sie 2022 ihren Namen und liess als Zunft zur Schneidern ihr Branding mithilfe einer professionellen Agentur modernisieren. Das frühere äussere Erscheinungsbild, eine stereotype Skulptur eines bewaffneten, halb nackten Schwarzen mit dicken Lippen und flacher Stirn, die sich an der Fassade des Zunfthauses an der Kramgasse 9 befindet, wird indessen nicht entfernt. Das Haus ist denkmalgeschützt. Ein Schild erklärt aber den historischen Kontext.

Bei den Stubengenoss*innen

Zünfte pflegen altertümlich anmutende Bezeichnungen und Rituale: Wer der gleichen Zunft angehört, ist Stubengenoss*in. Finanzzuständige nennt man Säckelmeister, Verantwortliche für die Sozialhilfe Almosner. Der Exekutive heisst – je nach Zunft – Waisenkommission, Präsident ist der Obmann. Die Gemeindeversammlung wiederum bezeichnet man als Grosses Bott. Verbreitet bei den Zünften sind getrennte Herren- und Damenanlässe.

Zünfte sind die Orte, wo Identität und Verbundenheit vieler Bernburger*innen geformt wird. Es sind kleinere, überschaubare Einheiten, ein paar hundert bis wenige Tausend Mitglieder. Man trifft sich regelmässig in einer Gruppe ausgewählter Menschen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dauerhafte persönliche Netzwerke entstehen ist gross.

Kurzeinblick ins Zunftleben

Alle Berner Zünfte, obschon der Tradition verpflichtet, verfügen über professionelle Internetauftritte. Um einen Eindruck vom Zunftleben zu vermitteln, hier die korrekt gelisteten 13 Zünfte mit Link und Kürzestcharakterisierung: 

Gesellschaft zum Distelzwang: Entstand als Gegenbewegung zu den aufkommenden Handwerkszünften und vereinigte Adel, Klerus und Stadtbeamte. Steht deshalb zuoberst an der Hierarchie der Zünfte. 

Gesellschaft zu Pfistern: Grösste Berner Zunft mit über 2500 Mitgliedern. War ursprünglich die Bäckerzunft, heute sind viele Anwält*innen dabei. Identitätstiftend ist der Pfisterring, ein brezelähnliches Gebäck. 

Zunftgesellschaft zu Schmieden: Pflegt das Handwerk am Ambos bis heute aktiv weiter. Das «Zunftgeschirr» – also das Vermögen – besteht unter anderem aus prunkvollen Humpen und Bechern, die in der Schatzkammer des Historischen Museums aufbewahrt werden. Stubenschreiberin ist Simone Mülchi, Präsidentin der Burgerkommission, die Einburgerungsgesuche beurteilt.

Zunftgesellschaft zu Metzgern: Bekannt für den traditionellen Herbstanlass namens «Rüeblimahl», das auch als «Armenspeisung» gedacht war. Das «Rüeblimahl» ist Männern vorbehalten und alles andere als vegetarisch. Der Ursprung des Begriffs ist unbekannt, aber das «Rüeblimahl» artete immer wieder zu Ess- und Trinkorgien aus. Man musste sich Mässigung auferlegen, um die Kosten nicht eskalieren zu lassen.

Gesellschaft zu Ober-Gerwern: Zunft der Gerber und Lederhändler. Als Besonderheit vergibt sie jedes Jahr ein Stipendium für eine*n Studierende*n aus Osteuropa. Und führt eine eindrückliche Liste an Vergabungen für Kulturprojekte, die für 2023 mehrere Dutzend Einträge umfasst.

Gesellschaft zu Mittellöwen: Zunft, die ebenfalls auf das Gerbergewerbe zurückgeht und mit Obergerwern eng verbunden ist, allerdings eher Adlige und erfolgreiche Kaufleute vereinigte. Unterstützt auf Gesuch hin explizit soziale und kulturelle Projekte in Stadt und Region Bern. Veranstaltet einen regemässigen Löwen-Talk.

Zunft zur Webern: Zunft der Weber, Walker, Tuch- und Hutmacher, mit explizitem Flair für das Gesellige. Im Zunfthaus an der Gerechtigkeitsgasse befindet sich das Restaurant «zur Webern».

Gesellschaft zu Schuhmachern: Zunft der Schuster, deren Zunfthaus sich gleich neben den Mittellöwen an der Amthausgasse befindet. Gemeinsam mit den Mittellöwen veranstalten die jüngeren Mitglieder im Winter ein Ski-Weekend in Zermatt. 

Zunft zur Schneidern: Führt das Stubenbuch, das seit dem 15. Jahrhundert sämtliche Angehörigen verzeichnet, bis heute von Hand nach.

Gesellschaft zu Kaufleuten: Gewährt jüngeren Zunftangehörigen Stipendien für Bildungsaufenthalte im Ausland. In dieser Zunft ist Stefanie Gerber, Kommunikationsverantwortliche der Burgergemeinde, Vize-Obmann, Muris Gemeindepräsident Stephan Lack ist Beisitzer.

Gesellschaft zu Zimmerleuten: Hat, wie alle Zünfte betonen, Angehörige «aus allen sozialen Schichten» und verschiedensten Berufen. Von den Stimmberechtigten sind gemäss Zunftangaben bei den Zimmerleuten 60 Prozent Frauen. Sven Gubler, Präsident der Innenstadtvereinigung Bern City, ist Stubenmeister.

Zunftgesellschaft zum Affen: Zunft der Steinmetze. Ein unbehauener Quader aus dem Steinbruch heisst Aff. In der Zunft sind gemäss Burgerbuch sowohl der Berner Politik-Professor Adrian Vatter wie der Politgeograf Michael Hermann (Sotomo, Zürich) stubengenössig.

Gesellschaft zu Schiffleuten: Zunft der Schiffer und Fischer. Heute die kleinste Berner Zunft.

Burgergesellschaft: Vereinigung der Burger*innen ohne Zunftzugehörigkeit. Entstand erst 1910. Im Unterschied zu den Zünften keine Gemeinde, sondern ein Verein.

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Die Artikelserie zur Burgergemeinde wurde mit Unterstützung von JournaFONDS recherchiert und umgesetzt.

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(Bild: zvg)
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Diskussion

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Georg Graf
22. November 2023 um 12:39

Spannender Artikel, danke! Bei den Zunft zu Webern führt der Link zu einem Artikel der Hauptstadt. Bewusst gemacht? https://www.hauptstadt.be/a/wald-burgergemeinde-bern-holz-klima-wandel-biodiversitaet-wirtschaft. Die Webseite der Zunft wäre hier: https://webern.ch/. Freundliche Grüsse, Georg Graf