Wulchechratzer – «Hauptstadt»-Brief #137
Samstag, 18. Februar 2023 – die Themen: Bümpliz-Bethlehem; Viererfeld; Opferhilfe; Stadtrat; Camping; Verschwörungstheorien. Berner Kopf der Woche: Marianne Mendez.
Wenn ich an nächsten Montag denke, bin ich motiviert bis unter die Haarspitzen. Die «Hauptstadt» verlegt ihre Redaktion für eine Woche nach Bethlehem ins Quartierzentrum zwischen den Hochhäusern des Tscharnerguts. Ich freue mich sehr darauf, weil: Für mich ist Bern West der interessanteste Teil der Stadt Bern.
In den 1980er-Jahren wohnte ich selber einmal in den abgestuften Betonhochhäusern im Kleefeld. Aber mehr von Bümpliz verstand ich erst, als ich mit Bernardo Albisetti sprach, dem früheren Präsidenten der Quartierkommission Bümpliz-Bethlehem (QBB): «Bümpliz ist der Ort in der Stadt Bern, wo Entwicklungen passieren, wo Neues entsteht. Einfach weil es hier Platz hatte und hat. Dass bei dieser Dynamik auch Konflikte und Kontroversen aufbrechen, ist logisch.»
Kann es einen spannenderen Ort geben, als ihn diese Kurzdefinition beschreibt?
Zur Vorbereitung unserer Bern-West-Woche besuchten wir die Redaktionsitzung des «Wulchechratzer», der Quartierzeitung in Bethlehem. Was uns sofort klar wurde: Wie gross hier die Identifikation mit dem Quartier ist. Die Bahnlinie nach Neuenburg trennt die früheren Bauerndörfer 3018 Bümpliz und 3027 Bethlehem. Und diese Trennlinie wirkt in den Köpfen und Herzen noch heute, versicherte man uns nicht ohne Selbstironie.
Obschon die Quartiere zu einem dichten Stadtteil zusammengewachsen sind, spüren Bümplizer*innen etwas, wenn sie auf die andere Seite der Gleise nach Bethlehem gehen. Und umgekehrt. Es ist nicht die gleiche Heimat, wenn man im Schwabgut aufgewachsen ist oder im Gäbelbach.
Jahrzehnte nach mir wohnte auch meine Kollegin Carole Güggi vorübergehend im Kleefeld. Gemeinsam schrieben wir jetzt einen Auftakttext zu unserer Redaktions-Woche im Tscharnergut. Und wir kamen zum Schluss: Bümpliz-Bethlehem ist nicht ein Ort der Vergangenheit. Sondern der Zukunft.
Und das möchte ich dir ins Wochenende mitgeben:
Viererfeld: Am 12. März entscheiden die Stadtberner Stimmberechtigten, ob die Stadt 125 Millionen Franken ausgeben soll, um das künftige Bauareal auf dem Mittel- und dem Viererfeld in der hinteren Länggasse zu erschliessen. Gibt es ein Ja, steht der geplanten Überbauung mit gut 1100 Wohnungen für 3000 Einwohner*innen praktisch nichts mehr im Weg. In der Politik gibt es kaum Opposition. Aber hartnäckige Kritiker*innen wie der Architekt Arpad Boa lassen nicht locker. Die geplante Überbauung sei «ein Zufallsprodukt», erklärte er der «Hauptstadt» vor Ort.
Opferhilfe: Die vorberatende Gesundheits- und Sozialkommission des Grossen Rats bemängelt die neue kantonale Opferhilfestrategie von Regierungsrat Pierre Alain Schnegg (SVP) und verlangt Nachbesserungen, wie sie schreibt. Sie nimmt damit Kritik auf, die Marlies Haller von der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern auch in der «Hauptstadt» äusserte. Unter anderem geht es um Schutzplätze in einem separaten Mädchenhaus, das der Kanton trotz ausgewiesenem Bedarf nicht schaffen will. Der Grosse Rat wird die Opferhilfestrategie wohl in der kommenden Session beraten.
Stadtrat: Das Berner Stadtparlament hat Subventionen in der Höhe von jährlich 33 Millionen Franken bewilligt, mit denen ab 2024 Berner Kulturinstitutionen unterstützt werden. Die grossen Leistungsverträge – etwa derjenige mit Bühnen Bern – werden im Juni noch dem Volk vorgelegt. Wenn du wissen willst, was der Stadtrat sonst noch beriet und was für Folgen es hatte, dass die GLP-Fraktion verspätet vom Nachtessen zurückkam, dann lies den Stadtrat-Brief von Marina Bolzli.
Naturschutz: Der umstrittene Campingplatz Fanel am Neuenburgersee bei Gampelen im Berner Seeland muss weg. Voraussichtlich per Herbst 2024. Die Eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission hat ein früheres Gutachten bestätigt und den Platz als umweltrechtswidrig eingestuft, wie die Nachrichtenagentur sda schreibt.
Verschwörungstheorien: Im vergangenen Jahr geriet das Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) unter anderem darum in die Kritik, weil einzelne Psychiater*innen Patient*innen in satanistischen Verschwörungstheorien bestärkten. Das PZM kämpft mit verbesserter Schulung dagegen an. Gemäss belegten Recherchen des SRF-Regionaljournals Bern-Freiburg-Wallis haben nun drei Psychiaterinnen vom PZM an eine private Praxis beim Eigerplatz in der Stadt Bern gewechselt und arbeiten dort mit ihren Verschwörungstheorien weiter. Die betroffene Praxis bestreitet die Recherchen.
PS: Solidarität mit Menschen, denen es weniger gut geht, ist nie falsch. Deshalb empfehle ich dir einen Gang ins Könizer Kulturlokal Heitere Fahne. Dort wird heute iranisch gekocht, danach spielt die Band 400Tigerssynthesizerlastigen Sound. Gesammelt wird Geld, um geflüchteten Menschen ein Halbtax-Abo zu bezahlen. Und ihnen damit etwas selbstbestimmtere Mobilität zu ermöglichen.
Berner Kopf der Woche: Marianne Mendez
«Ich gehe eigentlich fast nicht mehr in die Stadt, hier im Quartier habe ich alles, was ich brauche», sagt Marianne Mendez. Seit 23 Jahren ist sie Präsidentin des Vereins Quartierzentrum im Tscharnergut. Und das ist ihr Lebensgefühl: Ja, Bern West ist ein Teil der Stadt Bern. Aber es ist eben auch selber eine Stadt. Oder besser: eine eigene Welt, in der vieles möglich ist.
Marianne Mendez war im Mütternzentrum im Tscharnergut aktiv, es war das erste, das es in der Schweiz gab. Otto Wenger, der Leiter des Quartierzentrums Tscharnergut, fragte sie dann, ob sie nicht in den Vorstand kommen wolle. Und ehe es sich Marianne Mendez versah, war sie Präsidentin. Es ist nicht irgendein Quartierzentrum, sondern es war das erste in der Stadt Bern. Aus ihm heraus entstand die Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit (VBG), die heute zahlreiche Quartiertreffs betreibt. «Das soziale Netz, das die Stadt vor allem im Westen ausgelegt hat, finde ich grossartig», sagt Mendez, «alle Alters- und Anspruchsgruppen finden ein Angebot.»
Lustigerweise wohne sie selber nicht im Tscharnergut, sondern gleich nebenan in der Untermatt. «Aber ich bin ein grosser Tscharni-Fan», sagt Mendez. Nur von aussen mögen die Hochhäuser anonym wirken, «doch der Zusammenhalt unter den Menschen, die hier leben, ist stark». Allerdings steht das Tscharnergut mitten in einem Veränderungsprozess. «Die Überalterung ist eine grosse Herausforderung», sagt Marianne Mendez. Viele Bewohner seien einst fast gleichzeitig eingezogen, gemeinsam wurden sie älter und jetzt sterben sie langsam weg. Eine neue, jüngere, multikulturellere Generation zieht ein.
Darauf müsse auch das Quartierzentrum reagieren. Mit der bevorstehenden Pensionierung des legendären Leiters Otto Wenger stehe ohnehin ein Umbruch bevor. Marianne Mendez hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Wandel einzuleiten und das Quartierzentrum in neue Hände zu geben, ehe auch sie das Präsidium abgeben will.