Die KI-Scouts vom Kirchenfeld
Künstliche Intelligenz ist längst im Schulalltag angekommen. Am Gymnasium Kirchenfeld helfen sogenannte Innoscouts dabei, mit den Chancen und Risiken umzugehen.
Allumfassend, mächtig, disruptiv: Für manche ist der Aufstieg Künstlicher Intelligenz (KI) mit der industriellen Revolution vergleichbar, für andere der nächste vom Silicon Valley befeuerte Hype.
Während die Realität sich gerade irgendwo zwischen diesen Polen einpendelt, hat Elin Eymann mit ganz praktischen Fragen rund um KI zu tun: Zum Beispiel, welche Tools für die Maturarbeit zugelassen sind. Eymann ist Lehrperson am Gymnasium Kirchenfeld und seit rund zwei Jahren ein «Innoscout», also eine Art digital geschulte*r Pfadfinder*in im Schulalltag.
Eymann führt durch die pompöse Eingangshalle des Gymnasiums und öffnet die Tür zu Raum 125, dem Austauschort der Innoscouts. An den Wänden hängen ein riesiger Bildschirm und grellfarbige Poster im Comicstil. Eine stamme vom Künstler*innenkollektiv eboy. «Die übrigen sind von einer Bild-KI generiert», sagt Eymann.
Eymann ist nicht die einzige Person am Gymnasium Kirchenfeld, die Innoscout ist. Elin Eymann, Dardana Jaha und Remo Meyer bilden ein kleines Team, das den digitalen Wandel an der Schule mitgestaltet. «Wir sind Berater*innen», sagt Eymann, «und wir verstehen uns als Schnittstelle zwischen Kollegium, Schulleitung und den Schüler*innen.» Am Anfang, erzählt Eymann, sei man sprichwörtlich auf der grünen Wiese gestanden: «Unsere Schulleitung hat gesagt: Ihr seid jetzt Innoscouts. Go!»
Analog unterwegs im Digitalen
Seither hat das Trio seine Rolle selbst ausgearbeitet. Das Team will den Austausch über neue Technologien fördern und am Puls der Zeit bleiben, weil die übrigen Lehrpersonen das im Rahmen ihres Pensums nicht alleine bewältigen können. Trotz aller digitalen Themen bleibt die Arbeit der Innoscouts erstaunlich analog. «Wir sitzen mit Kolleg*innen und Schüler*innen zusammen, reden über Ängste, Erwartungen und Unsicherheiten», sagt Eymann.
Seit 2023 gibt es das Innovationsscout-Programm, koordiniert über die kantonale Plattform Be-LEARN, die die digitale Innovationsförderung an Schulen unterstützt. Am Gymnasium Kirchenfeld sind die drei Scouts in einem kleinen Pensum offiziell angestellt, um Kolleg*innen zu beraten, Schulprojekte zu begleiten und Materialien zu entwickeln. Sie tauschen sich wöchentlich in einem gemeinsamen Zeitfenster aus. Die dreistündige Sprechstunde ist mittlerweile fester Bestandteil ihres Stundenplans geworden.
Ermöglichen statt verhindern
Eymann unterrichtet Chemie und besitzt für die zusätzliche Aufgabe gute Voraussetzungen. Die Lehrperson hat an der Zürcher Hochschule der Künste eine Weiterbildung in Creative Coding absolviert und nutzt das Gelernte, um beispielsweise chemische Prozesse visuell darzustellen.
Beim Treffen fällt aber auch auf: Eymann spricht die Sprache der Schüler*innen. Die Ausführungen spickt Eymann mit englischen Begriffen wie «literally» und «forefront». Das kann kein Nachteil sein. Ausserdem wirkt die Person mit einer fliederfarbenen Bomberjacke, goldenen Ohrringen und Vokuhila-Frisur wie der fluide Gegenentwurf zum Gymer-Lehrpersonen-Klischee vergangener Tage.
Eine der sichtbarsten Errungenschaften der Innoscouts ist neben der Homepage eine Handreichung, in der alles für die Schule Wesentliche rund um KI zusammengefasst ist. Für Anfang 2026 ist die Veröffentlichung angepeilt.
Auf zwei Seiten werden darin Grundsätze für den Einsatz von KI im Unterricht festgehalten. Sie erinnern daran, dass die Antworten von Sprachmodellen auf Wahrscheinlichkeiten beruhen und irreführend sein können. «Wir sind uns bewusst, dass KI-Antworten kompletter Unsinn sein können», heisst es darin. Sie weisen auch auf sogenannte «Biases» hin: Was zum Beispiel bedeuten kann, dass KI-Modelle Geschlechterstereotypen oder diskriminierendes Verhalten reproduzieren.
Mit und über KI lernen
Wie dieser Ansatz konkret aussieht, zeigt ein Beispiel aus dem Fach Bildnerisches Gestalten. Eine Lehrerin wollte KI-Bilder generieren lassen, die Schüler*innen anschliessend als Inspiration für eigene Werke nutzen sollten. Das Innoscout-Team unterstützte sie nicht nur bei der technischen Umsetzung, sondern erklärte auch, weshalb Plattformen Verzerrungen enthalten können, warum bestimmte Tools gratis und andere kostenpflichtig sind. Sogar politische und weltanschauliche Fragen spielten eine Rolle, wenn es zum Beispiel um den Einsatz des Chatbots «Grok» von Elon Musk ging. Eymann findet, dass man solche Diskussionen als Lehrperson durchaus in den Unterricht tragen kann – als Teil eines Lernprozesses.
Gerade darin sieht das Team eine grosse Chance: KI kann helfen, Lücken beim erlernten Wissen zu erkennen und den Stoff noch stärker auf eigene Bedürfnisse zuzuschneiden. Schüler*innen können ausserdem mithilfe von Anwendungen wie Brian Inhalte spielerischer lernen. Die App reichert Schulstoff mit Videospiel-Elementen an, was die Motivation steigern und den Lernprozess sichtbarer machen soll. Expert*innen wie Eymann sprechen von «Gamification».
Ein grosser Teil der Anfragen, die die Innoscouts erhalten, dreht sich um Maturarbeiten. Schüler*innen wollen wissen: Was ist erlaubt? Ist es Betrug, wenn ich mir von ChatGPT beim Schreiben helfen lasse? Eymann und Teamkolleg*innen argumentieren mit einem pragmatischen Ansatz. Sie verweisen darauf, dass KI die sprachliche Umsetzung einer Idee verbessern kann – und dass dies auch Lehrpersonen beim Verständnis der Arbeit hilft. Eymann illustriert das an einem hypothetischen Fall: Eine Schülerin entwickelt in ihrer Maturarbeit eine eigene Handcreme. Konzept und chemische Ausarbeitung sind herausragend, aber erst mit der Unterstützung einer KI gelingt ihr eine verständliche sprachliche Darstellung. «Das ist kein Betrügen», sagt Eymann. Es gehe weniger um Verbote als um befähigendes Lernen: «Wir sollten nicht unsere Energie einsetzen, etwas zu verhindern, sondern etwas zu ermöglichen.»
Eine Prise Entschleunigung
Im Austausch mit den Lehrer*innen zeigt sich, wie schnelllebig der KI-Diskurs ist: Ging es anfangs noch um Fragen der Plagiaterkennung, dreht sich jetzt vieles um neue Formen des Lernens und der Leistungsnachweise. «Machen Zusammenfassungen noch Sinn?», fragt Eymann rhetorisch. Um hinterher zu schieben: «Es braucht neue Arbeitsaufträge». Wobei diese Diskussion auch schon vor dem Auftreten von KI-Modellen geführt worden sei.
Lehrer*innen seien ausserdem interessiert, KI-Tools für ihre Präsentationen zu nutzen, um auf neue Ideen für die Unterrichtsgestaltung zu kommen.
Die Innoscouts kümmern sich auch um den Dialog zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen: Im Projekt «Co-Lab» sassen sie 2024 gemeinsam in einem Raum, diskutierten über ihre Erfahrungen mit KI und stellten sich gegenseitig Fragen und dokumentierten dies in einem Video. «Das war sehr auf Augenhöhe», erinnert sich Eymann.
Inzwischen sind die Bedürfnisse auf beiden Seiten konkreter geworden. Zwar spielt Grundsätzliches wie «Welche Bedeutung hat Schreiben als Kulturpraxis?» weiterhin eine Rolle, aber es rücken praktische Fragen in den Vordergrund: Welche Tools sind datenschutzkonform? Und braucht es vielleicht eine eigene, kantonale Lösung – eine sichere Schweizer Schul-KI?
Werden die Gräben grösser oder kleiner?
Remo Meyer, einer der anderen Innoscouts, zieht einen Vergleich zur Anfangszeit des Internets: «Damals hiess es zuerst: Verbieten! Geh in die Bibliothek. Heute wissen wir, dass das der falsche Ansatz war», sagt der Lehrer für Informatik. Man stehe heute deshalb nicht für mehr Kontrolle, sondern für mehr Kompetenz. Meyer ist bei einem anderen Projekt der Innoscouts federführend: Im Liebefeld richtet das Team gerade ein «Innovationlab» für Lehrpersonen ein.
Dieses könne man sich als eine Art Spielwiese für die digitalen Tools des 21. Jahrhunderts vorstellen: VR-Brillen, Drohnen und 3D-Drucker sollen den Horizont der Lehrer*innen erweitern. Nächstes Jahr soll es öffnen.
Damit wollen die Innoscouts auch dazu beitragen, Gräben zu schliessen. Anfangs hatten sie noch die Hoffnung, KI könne für mehr Chancengleichheit in der Lehre sorgen. Nun aber zeige sich, dass auch das Gegenteil passieren könne. Die jeweiligen Einstellungen der Lehrpersonen wechselten zwischen «Bedrohung», «Gleichgültigkeit» und «Enthusiasmus». Auch das vorhandene Wissen sei momentan noch ungleich verteilt. Keine einfache Voraussetzung, um eine gemeinsame Sprache für das Thema zu finden.
Die Innoscouts wollen in Anbetracht dieser vielseitigen Herausforderungen aber nicht verkrampfen: «Gemeinsam Spass haben, anstatt sich in Überzeugungskämpfen zu verlieren.» Das sei letztlich auch Bildung: verschiedene Ansätze zulassen, zuhören, Neues wagen.
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