Standort – «Hauptstadt»-Brief #396
Donnerstag, 28. November 2024 – die Themen: Standortfrage; YB-Match; Foodloss; Crowdfunding; Wandbild; Stadtentwicklung; Historisches Museum.
Von Schoggi zu Vegi-Geschnetzeltem – vor ein paar Wochen habe ich das Startup Luya in Bern Bümpliz besucht, das in eine alte Schokoladenfabrik gezogen ist. Der Standort sei für die Lebensmittelherstellung ideal gewesen, erzählte mir die Gründerin Nina Schaller – das Porträt kannst du heute in der «Hauptstadt» lesen. Die Standortfrage treibt längst nicht nur Luya um. Bern war für Start-up-Gründer*innen lange Zeit nicht die erste Wahl – zu übermächtig schienen Lausanne und Zürich mit ihren ETHs und einem Netzwerk von Risikokapitalgeber*innen.
Dass sich diese Ausgangslage langsam ändert und das Berner Start-up-Ökosystem stärker wird, habe ich letztes Jahr in diesem Artikel aufgezeigt. Eine Erkenntnis damals: Es gibt in Bern zwar Förderinstitutionen, Gründerprogramme und Investor*innen, doch sie müssen sich noch stärker im In- und Ausland vernetzen.
Wie das geht, machen einige Berner Start-ups längst vor: Neustark aus der Bümplizer Bodenweid bindet CO2 von Biogasanlagen in Abbruchbeton und konnte zuletzt Speicheranlagen in Grossbritannien und Deutschland eröffnen. Almer wiederum hat sich mit Augmented Reality (AR) Brillen einen Namen gemacht. Mit ihnen können zum Beispiel Service-Techniker*innen weltweit remote Reparaturen ausführen und dabei wichtige Informationen in das Sichtfeld projiziert bekommen. Das Tech-Unternehmen von der Berner Marktgasse ist unterdessen vom amerikanischen Konkurrenten Real Wear gekauft worden – die Berner Gründer werden Teil der Geschäftsleitung des neuen Unternehmens. Zeit, Bern zu verlassen? «Nein», sagt Almer-Co-Gründer Timon Binder am Telefon. Man wolle den Standort Bern sogar stärken und die Belegschaft von heute rund 20 Mitarbeiter*innen kontinuierlich ausbauen. Bern mache aus steuerlichen Gründen zwar «null Sinn», dafür habe die Bundesstadt andere Vorzüge: Die zentrale Lage zwischen Lausanne und Zürich erleichtere es, talentierte Ingenieur*innen aus beiden Landesteilen zu rekrutieren, so Binder. Almer spürt ausserdem, dass es schweizweit nur wenige AR-Unternehmen gibt, von Bern ganz zu schweigen. «Wir haben auch deshalb sehr gute Beziehungen zur Standortförderung», so Binder. Ebenfalls praktisch sei, dass mit Genf, Zürich und Basel drei internationale Flughäfen in ähnlicher Fahrzeit zu erreichen seien. Nicht unerheblich, wenn man künftig Real Wear-Kolleg*innen treffen muss – die sitzen im Bundesstaat Washington an der amerikanischen Westküste.
Und jetzt noch zu anderen Themen des Tages:
- Fussball: Es ist Seelenbalsam für alle YB-Fans: Meine Kollegen Simon Boschi (Bilder) und Jürg Steiner (Text) haben der sang- und klanglosen 1:6 Niederlage der Young Boys gegen Atalanta Bergamo etwas abgetrotzt. Sprachgewandt und bildgewaltig entzünden sie ein Zündhölzli, das vielleicht auch das Feuer bei den YB-Spielern für künftige Aufgaben neu entfachen wird. Am Sonntag wartet in der Super League daheim der FC St. Gallen auf die Berner.
- Unternehmertum: Ein Pilz macht den Unterschied. Es war faszinierend mitanzusehen, wie das Start-up Luya ein Nebenprodukt der Tofuproduktion, Okara, und Kichererbsen mithilfe eines Pilzes in ein schmackhaftes Lebensmittel verwandelt. Welches Potenzial in der Nutzung von sogenannten Nebenströmen in der Lebensmittelindustrie noch steckt, kannst du hier erfahren.
- Ausgang: (Alternative) Berner Clubs haben es mitunter nicht leicht: Der Club Kapitel Bollwerk hat schon mehrfach über finanzielle Problemegeklagt – gestern hat er deshalb ein Crowdfunding gestartet. Künftig soll das Kapitel und der Kulturraum Soso.Space als Non-Profit Verein «Kulturräume Bollwerk» betrieben werden. 45’000 Franken wollen die Betreiber*innen zur kurzfristigen Sicherung des Betriebs und für den Transformationsprozess zum Verein sammeln.
- Clubkultur: Der Gemeinderat hat den Leistungsvertrag mit dem Verein Stellwerk Bern für 2025 genehmigt, wie dieser heute mitteilt. Der Verein betreibt seit Sommer 2023 das gleichnamige Jugendkulturlokal auf der Grossen Schanze. Mit dem einjährigen Leistungsvertrag werden die Organisation und Durchführung von jugendkulturellen Anlässen mit gut 201’000 Franken abgegolten. Nicht darin inbegriffen sind die von der Stadt getragenen Mietkosten von rund 172'000 Franken. Ein grosser Teil der Betriebskosten würden vom Verein selbst erwirtschaftet, betont die Stadt.
- Wandbild: Das Schulhaus Wylergut erhält ein neues Wandbild, wie die Stadt am Mittwoch mitteilt. Es ist eine Komposition aus farbigen Keramikplatten und stammt von der Künstlerin Shirana Shahbazi. Das Werk werde bewusst zunächst eine Leerstelle freilassen, die an das historische Wandbild erinnert, das rassistische Teile beinhaltet: Ein ABC, das Tiere und Natur mit Menschen, die nicht dem europäischen Weltbild entsprechen, gleichsetzt. Dieses wird aktuell in einer Ausstellung zum Umgang mit Rassismus im Historischen Museum gezeigt – welche vielschichtigen Diskurse darin zusammenkommen, hat die Hauptstadt in diesem Artikel beleuchtet.
- Fotografie: «Der Ort, an dem wir uns befinden, kann uns verändern oder zumindest unsere Wahrnehmung davon, wer wir sind.» Diesen Eindruck hat die Fotografin Julianna Steiner, deren Bilder uns durch den November begleitet haben. Steiner stammt ursprünglich aus den Vereinigten Staaten und pendelt zwischen Spiez und Bern. Ihre Bilder sind auf den routinierten Wegen des Alltags entstanden – hier kannst du sie zum Abschluss der Serie anschauen.
- Nachfolge: Das Bernische Historische Museum bekommt einen neuen Stiftungsratspräsidenten, wie das Museum auf seiner Website schreibt. Auf Luc Mentha, der das Amt nach zwölf Jahren abgibt, folgt der ehemalige Berner Stadtschreiber Jürg Wichtermann. Der Jurist arbeitete ab 2003 für die Stadt Bern, davon über ein Dutzend Jahre als Stadtschreiber. Heute ist er bei der Kanzlei Recht und Governance in Bern tätig und Geschäftsführer des Verbandes Bernischer Gemeinden.
- Stadtentwicklung: Der bernische Grosse Rat hat am Mittwoch einen Zusatzkredit über 44,2 Millionen Franken für den Fachhochschul-Campus auf dem Weyermannshaus-Areal bewilligt, wie die Nachrichtenagentur SDA schreibt. Der Zusatzkredit war nötig, weil die Gesamtkosten des Projekts aufgrund der wirtschaftlichen Veränderungen, der hohen Komplexität und der Preissteigerung im Bausektor stark gestiegen waren. Die Bauarbeiten auf dem Areal haben vor Kurzem begonnen – insgesamt wird der Campus mehr als 400 Millionen Franken kosten.
PS: Meine Kolleg*innen, die wöchentlich die Ausgehtipps kuratieren, müssen immer wieder schwierige Entscheidungen treffen – für Luce hat es diesmal knapp nicht fürs «Nachtläbe» gereicht. Dabei hat die Künstlerin mit ihrer feinfühligen Stimme und dem knisternden Synthie-Americana-Sound schon eine Fangemeinde gefunden. Heute Abend, um 21 Uhr tritt sie im Café Kairo in der Lorraine auf. Abendkasse ab 15 bis 25 Franken.